Seit die frühere Mongolische Volksrepublik, die sich jetzt schlicht Mongolei nennt, für die Marktwirtschaft optiert, werden genossenschaftliche sowie staatliche Betriebe privatisiert. Dies hat zur Folge, daß auch in der mobilen Tierhaltung ein tiefgreifender Wandel stattfindet. Das Ziel einer ersten Forschungsreise vom 1. 8. bis 16. 9. 1993 war es, signifikante Veränderungen in dem laufenden Prozess der Privatisierung zu erfassen, um erste Aussagen und vorläufige Arbeitshypothesen zu formulieren. Diese sollen hier vorgestellt werden.
Um möglichst vielfältige Formen der mobilen Tierhaltung beobachten zu können, wurden die Verwaltungsregionen Uwurchangai- und Bajanchongor-Aimag ausgewählt ( Fig. 1 ), die von der Wüste bis zur Taiga mit allen in der Mongolei vorkommenden Vegetationszonen ausgestattet sind und damit auch die größte Formenvielfalt in der mobilen Tierhaltung aufweisen. Das Relief der Reiseroute erstreckte sich vom Tal der Gobiseen mit ca. 1300m NN auf über 3000m NN im südlichen Changai-Gebirge.
Methodisch dominierten Tiefengespräche von ein bis drei Stunden Dauer (n=51), die immer vor Ort, bei den Viehzüchtern in ihren Jurten (n=29) oder in den ländlichen Zentren bei Amtspersonen bzw. Chefs von neugegründeten Firmen durchgeführt wurden (n=22). Die Gespräche hatten dem Forschungsstand entsprechend weitgehend offenen Charakter und wurden zum Zwecke der Vergleichbarkeit v. a. bei Amtspersonen stärker strukturiert.
Die heutige Mongolei ist wie zur Zeit der Volksrepublik in aimag (Verwaltungsregionen) und diese wiederum in som (Verwaltungsbezirke) gegliedert. Die von uns bereisten som sind in der Größenordung von ca. 400.000 bis ca. 1.000.000 ha, wobei bis zu 95% als Weideland angegeben wurden. Ihre Bevölkerung liegt grob bei durchschnittlich 4.500 Personen, die in durchschnittlich 1000 Familien je som zusammengefasst sind. Die jeweiligen aimag bestehen aus siebzehn (Uwurchangai) bzw. neunzehn (Bayanchongor) som .
Früher waren die som noch in Brigaden unterteilt. Das waren Produktionseinheiten der ländlichen Genossenschaften ( negdel ), die bestimmte Tierarten vorrangig in einem bestimmten Gebiet zu weiden hatten. Mit der Abwicklung der Genossenschaften wurden auch die Brigaden aufgelöst. Es entspricht ihnen heute eine räumliche Unterteilung, die bag genannt wird (i. d. R. weniger als 10 bag pro som ).
Mit dem am 22. 5. 1991 vom Vorsitzenden und dem Sekretär des Parlaments der Mongolischen Volksrepublik unterzeichneten Privatisierungsgesetz war auch die Grundlage für die Privatisierung des Vermögens der landwirtschaftlichen Genossenschaften (mong. negdel ) geschaffen (Kap. 5; Art. 21, Abs. 1 und 2). Das Gesetz ist knapp und offen gehalten. Es besagt im wesentlichen, daß das Eigentum der landwirtschaftlichen Genossenschaften auf der Grundlage der Entscheidung aller negdel -Mitglieder verteilt werden soll.
Weiteres wurde dann durch eine Verwaltungsverordnung festgelegt, daß die Privatisierung in zwei Stufen zu erfolgen hat, der sogenannten kleinen und großen Privatisierung. Die erste Stufe sollte bereits Ende 1991 enden. Ein Teil des Viehs sollte jedoch unter der Obhut von zu diesem Zeitpunkt neu gegründeten Vermarktungsorganisationen (mong. kampan , von russ. 'kompani') verbleiben und dann bis 1993 endgültig verteilt werden.
In den von uns bereisten Verwaltungseinheiten war die Privatisierung spätestens im Juni 93, also unmittelbar vor unserer Ankunft abgeschlossen worden. Das Verfahren hatte durch die offene Gesetzesgrundlage recht unterschiedliche Formen angenommen, v. a. was die Berücksichtigung von Nicht- Mitgliedern betrifft. Dies sind beispielsweise Personen und deren minderjährige Kinder, die nur eine beschränkte Zahl von Jahren der Genossenschaft angehört und dann ausgetreten waren, oder Personen und deren Familien, die nur mittelbar mit den negdel zu tun hatten, wie z. B. Ärzte oder Lehrer. Die Höhe des Viehbestandes, der zur Zeil der Kollektivierung in die negdel eingebracht wurde, wurde in keinem Fall berücksichtigt. Oftmals wurden die Tiere schematisch nach der Pro-Kopf-Zahl der berechtigten Familien verteilt.
In allen uns bekannten Fällen war das Wichtigste am negdel - Vermögen, daß die Tiere vollständig in private Hände übergegangen sind. Die Ausnahmen bildeten kleinere Viehbestände, die sozialen Institutionen wie der Schule, dem Internat, dem Bürgermeisteramt oder dem Hotel zur eigenen Bewirtschaftung übergeben wurden. Fahrzeuge (v.a. Traktoren und LKWs) wurden i. d. R. an die ehemaligen Fahrer verkauft. Immobilien wie Stallungen oder Häuser wurden meistbietend versteigert, wobei eventuelle vormalige Nutzer i. d. R. ein Vorkaufsrecht hatten. Dort, wo sich in der Nachfolge der negdel -Genossenschaft eine Vermarktungsorganisation bildete, hat diese oftmals einen Bestand an Gebäuden und Fahrzeugen aus dem genossenschaftlichen Eigentum übernommen. Anders bei den ehemaligen Staatsgütern: Baidrag im Bayanchongor- aimag wurde in eine Aktiengesellschaft mit einem staatlichen Aktienanteil von 49% umgewandelt. Hierbei wurde ein großer Teil des alten Maschinenparks (ca. 50% der Traktoren und 75% der LKWs), etliche Immobilien (Wohnhäuser und das Hotel) sowie ein kleiner Teil der Tiere (4.500 von 50.000) abgewickelt. Die übrigen Tiere, mit Ausnahme von 2400 Stück Großvieh, sind die besonderen Langhaarschafe der hier gezüchteten Baidrag-Rasse. Sie werden jetzt unter Kontrakt von den 1200 ehemaligen Staatsgutarbeitern bewirtschaftet, die nun Kontraktoren und gleichzeitig die Aktionäre sind.
Die Entwicklung des bestehenden Netzes fester Siedlungen der Mongolei ist ein Ergebnis der sozialistischen Ära. Auch in unserem Untersuchungsgebiet waren vor 70 Jahren außer klösterlichen Einrichtungen kaum feste Siedlungen anzutreffen. Heute finden wir in den beiden aimag mit 63.000 km2 (Uwurchangai) und 116.000 km2 (Bayanchongor) immerhin zwei Kleinstädte: es sind dies die jeweiligen aimag -Zentren Arwaicheer und Bayanchongor mit 20.000 bis 30.000 Einwohnern (Größenvergleich: Ex-DDR = 108.000 km2). Einzelerscheinungen sind die Siedlung an einer Kohlegrube, Goldgräbersiedlungen, Militärsiedlungen oder Restsiedlungen an ehemaligen russischen Agrarprojekten, Reste einer alten Klostersiedlung (Mandal).
Die Einrichtung und Unterhaltung der som -Zentren bildete unter der Volksrepublik den entscheidenden Hebel für die Seßhaftmachung und Kollektivierung der nomadischen Tierhalter. Die Attraktivität der som -Zentren lag in einem effektiven Leistungsangebot im sozialen, technischen und kulturellen Bereich sowie in der Versorgung mit Konsumgütern und dem Angebot von Arbeitsplätzen. Die ökonomische Triebfeder für diese ländlichen Zentren war die negdel -Genossenschaft. Sie organisierte das wirtschaftliche Leben und verknüpfte den som mit der Außenwelt. Sie garantierte nicht nur die Ausfuhr der Produktion (Abgabe der geforderten Mengen), sondern auch die Zufuhr der benötigten Konsumgüter. Das Dienstleistungs- und Arbeitsplatzangebot in Krankenhäusern, Apotheken und Veterinärdiensten, Post- und Fernmeldedienst, Schulen, Internaten und Kindergärten, Kaufhäusern und gewerblichen Einrichtungen, Tankstellen und Transportdiensten, Bade- und Kulturhäusern, Hotels und Klubhäusern bildete eine starke Anziehungskraft.
Mit durchschnittlich 1000 Personen pro som -Zentrum waren etwa ein Viertel der Bevölkerung eines som dort seßhaft geworden und wohnte vorwiegend in Jurten, die innerhalb eines mit einem Bretterzaun abgegrenzten Grundstücks von 600-1000 m2 aufgestellt waren.
Im August/September 1993 stellte sich diese Situation jedoch grundlegend anders dar. Dort wo überhaupt noch ein nennenswertes Angebot existierte, war es sehr stark eingeschränkt. Dies galt auch für die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Konsumgütern. Der Mangel an Kraftstoff hatte die Elektrizitätsversorgung zum Erliegen gebracht (seltene Ausnahme war z.B. das ehemalige Staatsgut Baidrag). Da die Heizung für alle öffentlichen Gebäude mit einer einzigen zentralen Großheizanlage erfolgte, zwingt der eklatante Mangel an Kohle dazu, daß im Winter Schulen und Internate geschlossen werden müssen oder mit einer Notheizung (wie bei den Krankenhäusern) lediglich einige wenige Zimmer genutzt werden können.
Durch die Abwicklung der Genossenschaften war die ökonomische Dynamik der som zusammengebrochen. Viele Arbeitsplätze, die direkt an die Existenz der Genossenschaft gebunden waren, existieren nicht mehr (Fahrer, Maschinisten, Verwalter, Buchhalter, Verkäufer, Lageristen, Köche, Veterinärtechniker, Gewerkschafter, Kulturbeauftragte u. a.). Arbeitsplätze, die indirekt gebunden waren, sind ebenfalls verloren gegangen ( z. B. Heizer und Maschinisten der Heiz- und Elektrostationen, Ärzte, Lehrer, Erzieher). Die in der Nachfolge der negdel gegründeten Vermarktungsorganisationen konnten diese Entwicklung nicht auffangen; die marktwirtschaftliche Dynamik verharrte in statu nascendi. So sahen sich viele Bewohner gezwungen, die som -Zentren zu verlassen.
Die Brigadesiedlungen waren unter dem sozialistischen System der Endpunkt des Zugriffs auf und der Versorgung für die Nomaden. Es waren winzige Siedlungen, die je nach Entfernung vom som -Zentrum aus einer oder zwei Handvoll Häusern bestanden. Ein Verwaltungsgebäude mit Versammlungsräumen, ein Badehaus, ein Kaufladen und Lagerräume bildeten die Grundausstattung, die bei weit entfernt liegendem som -Zentrum noch um eine kleine Schule oder eine Krankenstation und eine Elektrizitätsstation erweitert sein konnten. All dies ist heute dem Verfall preisgegeben, wurde gekauft und zum Zwecke der Weiterverwendung der Baumaterialien abgerissen oder als Lagerschuppen einem anderen Zweck zugeführt. Das Leistungsangebot für die Tierhalter ist ersatzlos entfallen, die Brigadesiedlungen liegen in Ruinen, ihre Umwidmung zu bag s (s. o.) hat nur administrative Relevanz.
Nach den Angaben der von uns befragten Amtspersonen in den som -Zentren sind die Wanderungsverluste enorm. Sie wurden mit 20 bis 30 % pro Jahr für 1992 und 1993 angegeben. Über die Wanderungsrichtung gab es immer eine eindeutige Aussage: das Land ist das Ziel! Die wenigen Ausnahmen stellten einige hochqualifizierte Beamte oder Ärzte dar, die ihr Glück in den aimag -Zentren oder der Landeshauptstadt suchen wollen. Alle anderen Abwanderer (schätzungsweise ca. 90 - 95%) versuchen nun in der mobilen Tierhaltung ihr Auskommen zu finden. Wir trafen ehemalige Lehrer, Fahrer, Verkäufer, Gewerkschafter, Veterinärtechniker, die jetzt einer neuen Beschäftigung als nomadische Tierhalter nachgehen. Vielfach wurden auch Rentner angetroffen, die zuvor mit ihrer Rente ausgekommen waren und ihren Lebensabend mit den Annehmlichkeiten und der medizinischen Versorgung im som -Zentrum genießen konnten. Einen anderen Personenkreis stellten junge Berufsabsolventen, Schulabgänger und Armeeangehörige dar, die unter dem alten System noch keine feste Position hatten.
Die mobile Tierhaltung in der Mongolei umfaßt fünf Tierarten: Kamel, Pferd, Rind (incl. Yak und Yak-Rind- Kreuzungen), Schaf und Ziege. Unter der Genossenschaft wurden diese Tierarten jeweils separat produziert: einer Brigade bzw. einer suur genannten Arbeitsgruppe von zwei bis fünf Familien wurde eine einzige Art zur Zucht übergeben. Jetzt haben die mittlerweile privat wirtschaftenden Tierhalter artgemischte Bestände. Diese `Neuerung' resultierte aus der Art der Abwicklung der negdel -Bestände. Sie wurde so gestaltet, daß i. d. R.jede Familie von allen fünf Tierarten einige Stück bekommen konnte. Nach unseren Informanten geschah dies ganz bewußt in Anlehnung an den traditionellen Nomadismus, bei dem der Besitz aller fünf Tierarten als Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirtschaften angesehen wird.
Das Zahlenverhältnis, in dem die einzelnen Tierarten bei den heutigen privaten Tierhaltern zueinander stehen, richtet sich im wesentlichen danach, in welchem Verhältnis die Tierarten im negdel -Bestand zueinander standen. Jenes richtete sich wiederum nach den ökologischen Gegebenheiten der einzelnen som . Dominierende Ziegenbestände und stärker ausgebaute Kamelbestände charakterisieren die som des in der Wüstensteppe gelegenen Tals der Gobiseen. Tief im Gebirge dominiert der Yak, den es im Tal der Gobiseen nicht gibt. Dazwischen finden wir alle Übergangsformen mit meist dominierendem Schaf-Anteil.
Mit der Verteilung der negdel -Bestände wurden auch die reinrassigen Langhaarschaf- und Kaschmirziegen-Herden auseinandergerissen und in kleinen Stückzahlen an die Familien vergeben. Die reinrassigen Züchtungen werden damit in den kaum selektierten Landrassen aufgehen.
Der Tierbestand pro Tierhalter-Familie setzt sich aus dem vom negdel zugeteilten Anteil und - falls vorhanden - auch aus bereits vor der Privatisierung besessenem Privatvieh (sowie aus dem Nachwuchs beider Teile) zusammen. Wie unten gezeigt wird, kann das Verhältnis beider Teile und die absolute Anzahl der nunmehr besessenen Tiere dabei ganz unterschiedlich sein.
Unter dem kollektivistischen System war die Möglichkeit, Privatvieh zu halten, eingeschränkt, aber es gab sie. Viehzüchter durften u. W. 75 Stück halten, negdel - Angestellte nicht mehr als 16 Stück, Staatsangestellte noch weniger (auf Grundlage welcher Tierart diese Zahlenangaben beruhen, blieb leider unklar). Die Vorschriften über einen privaten Höchstbestand wurden jedoch in den einzelnen som unterschiedlich gehandhabt. Auch das Privatvieh unterlag strengen Abgaberegeln bezüglich Fleisch, Wollen, Haaren und Milchprodukten, die den Anreiz, privates Vieh zu halten, einschränkten. Die letzte Kontrolle von Privatvieh war 1982. In einigen som wurde aus Angst vor Kontrollen trotzdem wenig akkumuliert.
Unter dem kollektivistischen System hatten die Viehzüchter der negdel -Genossenschaften generell die besten Möglichkeiten, hohe Stückzahlen an Privatvieh zu akkumulieren. Die Viehzüchter der Staatsbetriebe und die Angehörigen anderer Berufe hatten generell geringere Möglichkeiten hierzu. Das Maximum an Privatvieh aus der Kollektivzeit besaß ein verheirateter, etwa 40-jähriger Pferdezüchter aus dem Galoot- som im Bayanchongor- aimag : es waren dies 300 Pferde! Dies war eine Ausnahme. Anderserseits lag das Minimum bei Null. Das stellte keine Ausnahme dar. Es war die Regel bei jenen Personen, die erst seit der Umorientierung der Mongolei zur Marktwirtschaft ihre berufliche Ausrichtung änderten und (wieder) als Tierhalter tätig wurden, ein Personenkreis, den man als die `neuen Nomaden' bezeichnen könnte. Viele der ehemaligen negdel -Tierhalter hatten keinen großen privaten Bestand entwickelt, das heißt die maximal erlaubte Zahl von 75 nicht erreicht. Nach unseren Stichproben geht der Anteil des `alten Privatbestands' am Gesamtbestand von 0% bis 68%.
Der Gesamtbestand der befragten Tierhalter lag nach unserer Befragung zwischen 35 und 612 Stück. Die Vergleichbarkeit dieser Zahlen istjedoch nicht gegeben, da keine Aufrechnung in eine Vergleichseinheit (z. B. GVE) erfolgte. Der Tierhalter mit dem geringsten Bestand (35), ein verh. 54- jähriger ehemaliger Wächter, besaß 2 Pferde, 15 Yak, 8 Schafe und 10 Ziegen, die er über seine Frau, eine ehemalige Melkerin, erhalten hatte. Wir trafen ihn im Changaigebirge auf 2400m an (Erdenezogt- som ). Er klagte, wie andere dort Befragte, über die Schwierigkeit, ein Auskommen zu finden. Das wäre aber unter der Genossenschaft nicht anders gewesen.
Der Rekordhalter mit 612 Stück, ein fünfmaliger Held der Arbeit, gab 2 Kamele, 20 Pferde, 20 Rinder, 500 Schafe und 70 Ziegen als sein Eigentum an. Er war unter dem negdel ein Glücklicher und zählt sich auch heute noch dazu. Wir trafen ihn im Uwurchangai- aimag , Taragt- som , Toya-bogd, auf vegetationsreichem kastanienfarbenem Steppenboden in 1850m Höhe.
Hier stellt sich die Frage, mit wieviel Stück welcher Tierart unter den aktuellen Bedingungen eine Familie ein minimales Auskommen erwirtschaften kann. In der Steppenregion am Fuße des Changai wurden uns 100 Schafe als Minimalausstattung angegeben. Diese wurde dort in der Regel erreicht. Nach unserer Umfrage ergibt sich der Eindruck, daß - trotz der recht unterschiedlichen Größe der Tierbestände - auch die schlecht ausgestatteten Familien ausreichende Startbedingungen für eine neue Existenz als private Tierhalter haben.
Grundsätzlich wollen die Tierhalter die Weiden, die sie als Genossenschaftler im saisonalen Weidegang ansteuerten, weiter nutzen. Sie wollen nach den Migrationsmustern, die sie jahrelang praktiziert haben, auch weiterhin wandern. In der Regel verbleiben sie auch in den Gruppen, in denen sie unter dem negdel zusammengefasst waren.
Unter Migration verstehen wir hier die saisonal wiederkeh- rende Verlegung der Weidegebiete unter Einschluß der Verlegung des Hauptzelts (mong. ger , im Deutschen meist als Jurte bezeichnet). Ergänzend dazu kennt die Weidebewirtschaftung der Mongolen noch die Verlegung eines Nebenzelts, mit der vom Hauptzelt ausgehend i. d. R. von jungen Männern Teile der Herde auf entfernteren Weideplätzen gehütet werden (hier nicht behandelt).
Generell dient der Weideplatzwechsel der produktiven Futterzufuhr, die für den Ernährungs- und den Gesundheitszustand verantwortlich ist. Auch bei ausreichendem Futterangebot (Kalorienangebot) in guten Jahren ist häufigerer Weidewechsel angeraten, da über das Angebot wechselnder Futter- und Wasserressourcen das Auftreten von endemischen Tierkrankheiten verhindert oder eingeschränkt werden kann. Das auf häufigen und langen Wanderungen beruhende traditionelle System, das obige Anforderungen berücksichtigt, wurde unter der Volksrepublik stark verändert, m. E. vor allem durch zwei Innovationen: 1. die regelmäßige Zufütterung der Tiere (im Winter und Frühjahr) mit Getreide und Heu sowie 2. den Bau von Stallungen. Die durch Zufütterung erhaltene Ernährungssicherheit verringert die Notwendigkeit, häufig und weit zu wandern. Die Stallungen (meist offene bis halboffene Bauart) wehren in den Winter- und Frühlingsmonaten die Nachtkälte ab, das erspart weite Wege in die kältegeschützten Lagen der Bergregionen. Mögliche negative Folgen dieses Systems für das Vieh wurden durch Einrichtung eines überall präsenten Veterinärdienstes abgefedert.
Seit der Privatisierung wird kaum noch Winterfutter produziert und die veterinärdienstliche Versorgung hat nachgelassen. Trotzdem hat sich die im Sozialismus begonnene Verringerung der Wandertätigkeit noch weiter verstärkt. Die Einschätzung von Prof. Sodnomdordsh von der landwirtschaftlichen Universität Ulanbaatar, 10 bis 15% der Viehzüchter würden überhaupt nicht mehr wandern, wurde durch unsere Stichproben bestätigt. Danach sind 13,4 % in diesem lahr nicht gewandert und haben auch angegeben, in diesem Jahre nicht mehr wandern zu wollen.
Die Verringerung der Wanderdistanzen wurde in der Steppe mit der in diesem Jahre außerordentlich guten Futtersitutation begründet: In Gotschin-Os (Uwurchangai- aimag ) sei noch im letzten Jahr die Rekorddistanz im som bei 520 km gelegen, weil damals die Futtersituation extrem schlecht gewesen sei. Dieses Jahr läge sie bei 52 km, da dieses Jahr außergewöhnlich feucht sei. Die Verringerung der Wanderhäufigkeit wird überall mit der gleichen Klage begründet: die Transportkosten seien zu hoch. Zwei Schafe für eine Fahrt mit dem Traktor oder dem Lastwagen seien die Regel und zu teuer. In zwei Fällen wurde auch die Notwendigkeit der Bewachung des Stalles als Argument aufgeführt.
Eine funktionierende Vermarktung pastoraler Produkte, die Voraussetzung für die Einbindung der Tierhalter in die Marktwirtschaft, ist noch kaum entwickelt. Wir haben folgende Vermarktungswege beobachten können: erstens über fliegende Händler unterschiedlicher Herkunft, zweitens über die ` kampan ' genannten und auf staatliche Initiative entstandenen privaten Aufkauforganisationen und drittens über die Handelsorganisation.
Die fliegenden Händler sind meistens ehemalige Fahrer, die aus dem negdel -Vermögen ein Fahrzeug erstanden haben (LKW oder Traktor) und damit jetzt die Jurten anfahren. Nebenher wird auch noch von Privat- oder Amtspersonen, die gerade ein Fahrzeug zur Verfügung haben, Kleinhandel betrieben. Haupthandelsgut sind die Wollen der unterschiedlichen Tierarten, wobei das aus ausgekämmtem Ziegenhaar gewonnene Kaschmir (für den chinesischen Markt) besonders viel nachgefragt wird.
Diese Händler sind die große Konkurrenz der in der Nachfolge der negdel gegründeten kampan . Hier gibt es viel Kontinuität. Die Chefs dieser kampan waren oftmals Chefs des negdel und haben viele ehemalige Genossenschaftmitglieder nun als Gesellschafter gewonnen. Die Gesellschafter sind gehalten, ihre Viehprodukte nur an die kampan zu verkaufen. Letztere bieten dafür soziale Leistungen an: bei Notfällen Kredite oder Krankentransport.
In manchen som gibt es mehrere solcher kampan (maximal angetroffene Zahl war sechs), bisweilen gibt es auch überhaupt keine funktionierenden kampan mehr. Die Beurteilung dieser Vermarktungsgesellschaften seitens ihrer Mitglieder war zþeist sehr zurückhaltend. Der für Schafwolle bezahlte Preis liegt unter dem von den fliegenden Händlern bezahltem Preis. Die Bezahlung erfolgt nur zu etwa 20% in Bargeld - dies ist bei den fliegenden Händlern ähnlich - der Rest kann in Naturalien (v. a. Mehl) abgeholt werden - wenn es sie dann gibt. Die o. g. Händler bezahlen dagegen sofort und auch Tauschwarenanteil des Handels wird sofort gegeben und ist besser sortiert. Dennoch vermarkten viele Tierhalter aus Loyalität zu ihrer kampan zumindest einen Teil der Wolle über sie. Andere sind jedoch ausgetreten oder gar nicht erst eingetreten, weil sie keinen Nutzen in der Mitgliedschaft sahen. Die kampan - Chefs ihrerseits klagten darüber, daß ihre Abnehmer in der Hauptstadt, die Spinnereien und Teppichfabriken, nicht solvent seien, um sie auszuzahlen: `Auf dem Papier haben wir volle Kassen, aber was nützt uns das?' Das kampan - Modell scheint gegenüber den fliegenden Händlern nicht wettbewerbsfähig zu sein, da jene zudem der Besteuerung entgehen können, die bei den kampan wegen der von den negdel übernommenen Infrastruktur 40 % (sic) aufden Gewinn beträgt. Chancen sehen wir höchstens da, wo für die Mitglieder zusätzliche Leistungen, wie die Produktion von Winterfutter, geboten werden (im Taragt- som ist dies der Fall).
Der dritte Weg der Vermarktung geht über die staatliche Handelsorganisation. Hier geht es wie früher um die Abgabe von Fleisch für die Städte und die Hauptstadt. Auf aimag - und zum Teil auch noch auf som -Ebene erklärten die Verantwortlichen, die Abgabe sei jetzt aber freiwillig. Dennoch werden genaue Abgaberationen, die in Abhängigkeit von der Größe des jeweiligen Tierbestands stehen, vorgeschrieben und den Tierhaltern ausgehändigt (Bumbugur som ). Die Tierhalter wissen, das es freiwillig ist, sehen es aber doch als ihre Bürgerpflicht an, abzuliefern. Das Problem ist jedoch der niedrige Aufkaufpreis. `Für ein Kilo Fleisch (Lebendgewicht) bekommt man nicht einmal ein Kilo Mehl!' lautete die Klage. So kommt es, daß die Tierhalter bei allem guten Willen doch nur einen Teil der geforderten Fleischmenge abliefern. Die Statistik des aimag -Zentrums Arwaicheer zeigt Minima von 30% und Maxima von 112% pro som .
Obwohl, wie in den Punkten fünf bis sieben dargestellt, die infrastrukturelle Versorgung des Landes stark nachgelassen hat oder teilweise gar nicht mehr existent ist, scheinen große Bevölkerungsteile in diese als unattraktiv erscheinenden Gebiete geradezu hineinzuströmen, die Hauptwanderungsrichtung zielt aufs Land - nicht auf die Städte. Dies ist eine Besonderheit, wie sie in Entwicklungsländern bisher nicht zu beobachten war.
Einschränkend muß jedoch gesagt werden, daß wir bisher noch nicht untersuchen konnten, in wieweit diese Bewegung nicht nur die bereits als ländlich anzusehenden som -Zentren, sondern auch die Städte und die Hauptstadt erfasst. Vereinzelte bestätigende Hinweise über die Situation in der Hauptstadt bedeuten jedoch auch, daß dort diese Bewegung schon wieder rückläufig ist.
Die Verringerung der saisonalen Wanderungen der Tierhalter nach Frequenz und Distanz (Punkt l0.) ist eine auffällige und bedauerliche Entwicklung. Durch die Abwicklung der landwirtschaftlichen Genossenschaften und Staatsbetriebe ist auch die Zufütterung fortgefallen. Noch ist nicht abzusehen, wann die Tierhalter durch den Mangel an geeigneter Weide (Degradation der Vegetation durch zu lange Verweildauer; Mängel im Ernährungs- und Gesundheitszustand der Tiere) wieder gezwungen sind, mehr zu migrieren. Durch das Auseinanderreißen der reinrassigen Zuchtbestände bei Schafen und Ziegen und ihrem daraus folgenden Aufgehen in den Landrassen wurden langjährige Bemühungen um höhere Woll- bzw. Haarproduktivität zunichte gemacht. Sowohl das traditionelle als auch das kollektive pastorale System waren komplexer, so daß eine Simplifizierung des pastoralen Systems vorliegt, die nicht nur ökologisch und ökonomisch, sondern auch sozial bedenklich ist.
Es ist jedoch nicht klar, in welchem Maße die geringe Migration nicht allein durch wirtschaftliche und soziale Probleme (zu hohe Transportkosten, konkurrierende Raumansprüche durch die `neuen Nomaden', Rechtsunsicherheit u. a.), sondern auch durch die wegen des außerordentlichen Regenjahres besonders guten Futtergrundlagen bedingt ist.
Wir haben in Punkt 11. gezeigt, daß bisher noch keine effektive Vermarktungsstruktur entwickelt ist. Die Verbesserung dieser Situation haben die Tierhalter nicht in der Hand. Es ist allgemein ein Mangel an Geld festzustellen, da auch Gehälter und Renten auf dem Lande u.W. nur zu 20% in bar ausgezahlt werden. Die Einbindung der Tierhalter in die Marktwirtschaft ist gering - ihre Versorgung mit Konsumgütern beklagenswert. In dieser Notlage wird getauscht - nahezu wie in vorkapitalistischen Zeiten. Da diese Tauschaktionen nur geringen Umfang haben, steht zu befürchten, daß es zu einer Thesaurisierung des Kapitals durch Aufstockung der Tierbestände kommt, wodurch ökologische und soziale Probleme verursacht werden können.
Der Übergang von einer kollektiv-sozialistischen zur marktwirtschaftlich orientierten ländlichen Entwicklung, den wir an der dominierenden mobilen Tierhaltung in der Mongolei untersuchen, ist historisch ein Novum. Wir haben versucht, markante Erscheinungen vorläufig und thesenhaft herauszustellen. Die Entwicklung hat gewiß viele Parallelen zu anderen zentral- und mittelasiatischen Staaten, in denen die mobile Tierhaltung ebenfalls eine neue Bedeutung erlangt. Für die Entwicklungsländer-Forschung stellen diese neuartigen Prozesse eine Herausforderung dar, an der sie ihren bisherigen Stand theoretisch überprüfen und regional ergänzen kann.
Anmerkung: Forschungspraktisch war die Reise an die sog. bio-geo-chemische Expedition der Mongolischen Akademie der Wissenschaften (Leitung Dr. Dordshgotow vom Institut für Geographie) angebunden. Finanziell wurde sie v.a. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragen. Beiden Seiten gilt mein herzlicher Dank.
Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) 1991: Proceedings of the International Workshop on Pastoralism and Socio-economic Development. Mongolia, 4- 12 September 1990. - Rom
Luvsandorj, S., D. Shombodon and G. Nangerel 1992: Employment, Income and Expenditure of Mongolian Herders FA0. - Rom
Forkert, F. 1993: Zu einigen Problemen der sozialökonomischen Entwicklung der Mongolei. - DIE ERDE 124 (4): 313-322
Manuskripteingang: 16.02.1994
Annahme zum Druck: 23.03. 1994
Dr. Franz-Volker Müller, Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität Berlin, ZELF, Grunewaldstraße 35, D-12165 Berlin