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Vom Menschen soll die Rede sein. Doch wie?
Nicht länger ist es möglich, von dem Menschen zu
sprechen. Diese Rede, die in der philosophischen
Anthropologie Schellers, Plessners und Gehlens
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts den Diskurs in
Deutschland bestimmte, führte zu einer unzulässigen
Reduktion. Wenn von dem Menschen
gesprochen wurde, dann wurde stillschweigend der
singuläre europäische, männliche Mensch zur Norm
gemacht. Mit der Konzentration auf die Erforschung der
Bedingungen des Menschseins ging die Vernachlässigung
der historischen und kulturellen Vielfalt menschlichen
Lebens einher. Hierauf hat vor allem die Kulturanthropologie
aufmerksam gemacht. In ihrem Rahmen lag der Akzent auf
der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt
menschlicher Existenz. Im Mittelpunkt standen
Untersuchungen über sprach- und kulturhomogene
Gesellschaften geringer demographischer Größe, für die
Verwandtschaftsbeziehungen, Schriftlosigkeit und
Subsistenzwirtschaft bestimmend sind. Angeregt von der
Schule des Annales kam es darüber hinaus auch in der
Geschichtswissenschaft zu einem wachsenden Interesse an
anthropologischen Fragestellungen und Themen. Mentalitätsgeschichte
bildete nun ein Zentrum des Interesses.
Wenn im
Kontext dieses Buches von Historischer
Anthropologie die Rede ist, dann geschieht dies
auf dem Hintergrund der in Deutschland entwickelten
philosophischen Anthropologie, der in der
angelsächsischen Tradition stehenden Kulturanthropologie
und der von der französischen Geschichtswissenschaft
initiierten Mentalitätsgeschichte. Auf dieser Basis
zielt historische Anthropologie darauf, menschliche
Lebens- und Darstellungsformen zu beschreiben,
Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten.
Ähnlichkeiten und Unterschiede in Einstellungen und
Deutungen, Imaginationen und Handlungen zu analysieren,
ihre Vielfalt und Komplexität zu erforschen. Sie
untersucht Fremdes und Vertrautes in bekannten und in
fremden Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart.
Historische
Anthropologie dient als Bezeichnung für vielfältige
transdisziplinäre Bemühungen nach dem Ende der
Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm,
weiterhin Phänomene des Menschlichen zu erforschen.
Historische Anthropologie steht in der Spannung zwischen
Geschichte und Humanwissenschaften. Sie erschöpft sich
jedoch weder in einer Geschichte der Anthropologie als
Disziplin noch im Beitrag der Geschichte als Disziplin
zur Anthropologie. Sie versucht vielmehr die
Geschichtlichkeit ihrer Perspektiven und Methoden und die
Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes aufeinander zu
beziehen.
Historische
Anthropologie kann daher die Ergebnisse der
Humanwissenschaften, aber auch die einer
geschichtsphilosophisch fundierten Anthropologie-Kritik
zusammenfassen und für neuartige, paradigmatische
Fragestellungen fruchtbar machen. Im Kern ihrer
Bemühungen herrscht eine Unruhe des Denkens und
Forschens, die nicht stillgelegt erden kann. Historische
Anthropologie ist weder auf bestimmte kulturelle Räume
noch auf einzelne Epochen beschränkt. In der Reflexion
ihrer eigenen Geschichtlichkeit und kulturellen
Bedingtheit vermag sie sowohl den Eurozentrismus der
Humanwissenschaften als auch das lediglich antiquarische
Interesse an Geschichte hinter sich zu lassen und
Problemen der Gegenwart wie der Zukunft den Vorzug zu
geben.
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