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Handbuch Historische Anthropologie (hrsg. von Christoph Wulf)

Vom Menschen soll die Rede sein. Doch wie? Nicht länger ist es möglich, von dem Menschen zu sprechen. Diese Rede, die in der philosophischen Anthropologie Schellers, Plessners und Gehlens in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts den Diskurs in Deutschland bestimmte, führte zu einer unzulässigen Reduktion. Wenn von dem Menschen gesprochen wurde, dann wurde stillschweigend der singuläre europäische, männliche Mensch zur Norm gemacht. Mit der Konzentration auf die Erforschung der Bedingungen des Menschseins ging die Vernachlässigung der historischen und kulturellen Vielfalt menschlichen Lebens einher. Hierauf hat vor allem die Kulturanthropologie aufmerksam gemacht. In ihrem Rahmen lag der Akzent auf der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt menschlicher Existenz. Im Mittelpunkt standen Untersuchungen über sprach- und kulturhomogene Gesellschaften geringer demographischer Größe, für die Verwandtschaftsbeziehungen, Schriftlosigkeit und Subsistenzwirtschaft bestimmend sind. Angeregt von der Schule des Annales kam es darüber hinaus auch in der Geschichtswissenschaft zu einem wachsenden Interesse an anthropologischen Fragestellungen und Themen. Mentalitätsgeschichte bildete nun ein Zentrum des Interesses.

Wenn im Kontext dieses Buches von Historischer Anthropologie die Rede ist, dann geschieht dies auf dem Hintergrund der in Deutschland entwickelten philosophischen Anthropologie, der in der angelsächsischen Tradition stehenden Kulturanthropologie und der von der französischen Geschichtswissenschaft initiierten Mentalitätsgeschichte. Auf dieser Basis zielt historische Anthropologie darauf, menschliche Lebens- und Darstellungsformen zu beschreiben, Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten. Ähnlichkeiten und Unterschiede in Einstellungen und Deutungen, Imaginationen und Handlungen zu analysieren, ihre Vielfalt und Komplexität zu erforschen. Sie untersucht Fremdes und Vertrautes in bekannten und in fremden Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart.

Historische Anthropologie dient als Bezeichnung für vielfältige transdisziplinäre Bemühungen nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm, weiterhin Phänomene des Menschlichen zu erforschen. Historische Anthropologie steht in der Spannung zwischen Geschichte und Humanwissenschaften. Sie erschöpft sich jedoch weder in einer Geschichte der Anthropologie als Disziplin noch im Beitrag der Geschichte als Disziplin zur Anthropologie. Sie versucht vielmehr die Geschichtlichkeit ihrer Perspektiven und Methoden und die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes aufeinander zu beziehen.

Historische Anthropologie kann daher die Ergebnisse der Humanwissenschaften, aber auch die einer geschichtsphilosophisch fundierten Anthropologie-Kritik zusammenfassen und für neuartige, paradigmatische Fragestellungen fruchtbar machen. Im Kern ihrer Bemühungen herrscht eine Unruhe des Denkens und Forschens, die nicht stillgelegt erden kann. Historische Anthropologie ist weder auf bestimmte kulturelle Räume noch auf einzelne Epochen beschränkt. In der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit und kulturellen Bedingtheit vermag sie sowohl den Eurozentrismus der Humanwissenschaften als auch das lediglich antiquarische Interesse an Geschichte hinter sich zu lassen und Problemen der Gegenwart wie der Zukunft den Vorzug zu geben.

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© 1999-2003 Prof. Dr. Christoph Wulf (FU Berlin); Kontakt: chrwulf@zedat.fu-berlin.de; Impressum

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