2. THEORIE

2.1. Das Medium Internet Relay Chat IRC

IRC ist ein Online-Kommunikationsforum des Internet, das seinen Benutzern erlaubt, sich auf synchroner Basis in Echtzeit mit anderen Nutzern in textbasierter Form durch eine natürlich sprachliche Eingabe zu ' unterhalten' .

Bevor wir das Medium detaillierter in den Vordergrund stellen, möchten wir kurz auf das Internet eingehen, das diese Anwendung für einen großen Teil der Welt erst möglich gemacht hat.

2.1.1. Die Geschichte des Internet

Das heutige Internet hat seinen Ursprung im Bereich der Technologie militärischer Forschungsprojekte. Ende der fünfziger Jahre wurde in den USA ein Konzept für ein militärisches Kommando- und Überwachungsnetzwerk entwickelt, das auch nach einem atomaren Angriff und der Zerstörung von großen Teilen seiner Infrastruktur weitgehend funktionsfähig bleiben sollte. Konventionelle Netzwerke hatten den Nachteil einer zentralen Administration, so daß der Kern des neuen Konzepts darin liegen sollte, eine möglichst dezentrale Kommunikationstechnologie zu entwickeln, die auch in Katastrophensituationen ein Maximum an Funktionalität aufrechterhalten sollte. Vor allem kam es darauf an, die Kommunikation zwischen den einzelnen Truppenteilen und dem Verteidigungsministerium auch dann zu ermöglichen, wenn ein Teil des Netzwerks ausfallen sollte (Mayr, 1997).

Das Verteidigungsministerium begann mit einem Projekt, das von der ARPA (Advanced Research Projects Agency) verwaltet und implementiert wurde. Die Aufgabe der ARPA bestand darin, neue innovative Technologien zu entwickeln. Kernpunkt dieser Idee war, ein System ohne zentrale Steuerung zu konstruieren. Daten sollten dementsprechend nicht in Datenströmen, sondern paketweise transportiert werden. Die Aufteilung von Daten in Pakete, hatte den Vorteil, daß Pakete derselben Datenübertragung mit Hilfe von Routern durchaus verschiedene Wege gehen konnten, bevor sie beim Empfänger ankamen, um sich dann gemeinsam mit anderen Datenfragmenten wieder zur ursprünglichen Information zusammenzusetzen. Auf diese Weise konnte man die Wahrscheinlichkeit, daß eine Nachricht komplett verlorenging, minimieren (Musch, 1997).

Im September 1969 nahm die ARPA das erste experimentelle, auf paketorientierter Datenübertragung basierende Netzwerk - das ARPANET - in Betrieb. Dabei wurde die University of California, Los Angeles, mit der Universität von Utah verbunden. Der erste Knoten eines Netzwerks war somit installiert. Immer mehr Universitäten und Forschungseinrichtungen schlossen sich an das Netz an, so daß sich 1971 bereits mehr als dreißig Knoten im ARPANET gebildet hatten (Rheingold, 1994).

Die beiden wichtigsten Anwendungsprogramme des neuen Netzwerkes - Fernzugriff auf Fremdsysteme mit Hilfe von Telnet ("telecommunications network") und Dateientransfer mittels der Applikation FTP ("File Transfer Protocol") - sollten den ARPA - Forschern einen Austausch von Daten ermöglichen. In wachsendem Maße wurden bald auch Mitteilungen verschickt. Zwischen den geographisch weit verstreuten Zentren, in denen die einzelnen Mitglieder arbeiteten, erwuchs eine Art virtuelle Gemeinschaft (Woolley, 1994). Der lediglich als Zusatzanwendung implementierte E- Mail- Dienst wurde zu einem zentralen Element des späteren Internet. Das Netzwerk war nun nicht mehr bloß das verbindende Moment zwischen Computern, sondern entwickelte sich zu einem neuartigen Kommunikationsmedium, das seine Nutzer miteinander in Kontakt bringen konnte. In den späten 70er Jahren entstand die erste große Mailingliste "SF- Lovers", in der ARPA- Forscher öffentliche Diskussionen über Science Fiction- Literatur führten. Die neue Kommunikationsmöglichkeit erlaubte es vielen Forschern, nicht nur die Computer zu benutzen, die für ihre Problemstellung am besten geeignet waren, sondern auch andere Forscher zu kontaktieren, um gemeinsam mit ihnen Lösungen auszuklügeln (Musch, 1997).

Einen Schritt näher kam man dem heutigen Internet mit dem Versuch, Medien in das Netz einzubeziehen, die ursprünglich nicht für den elektronischen Datenaustausch vorgesehen waren. Es stellte sich die Aufgabe, unterschiedliche Einzelnetze so zu verbinden, daß ein übergeordnetes Netz alle bisherigen Netze in sich integrieren konnte. Eine Voraussetzung dafür war, ein einheitliches Datenformat und eine Norm für die Herstellung der Verbindung einzusetzen. Mit der Entwicklung neuer Standardnetzwerkprotokolle "TCP" (Transmission Control Protocol) und "IP" (Internet Protocol), die den Versand der Pakete überwachten, das Netz vor Überlastung schützten und die Adressierung aller Internet- Rechner übernahmen, konnten die unterschiedlichsten Teilnetze miteinander kommunizieren. Das erste Testnetz demonstrierte 1977 seine Funktionsfähigkeit mit der Verbindung vier unterschiedlicher Netzwerke. Basierend auf dem dafür konzipierten TCP/IP- Kommunikationsprotokoll wurde die Geburtsstunde des Internet eingeläutet (Musch, 1997).

Das Internet befindet sich im ständigen Wandel. Seit 1988 hat sich die Größe des Netzes mit jedem weiteren Jahr seiner Existenz verdoppelt. Zur Zeit schätzt man die Zahl der Internet- Benutzer auf ca. 57 Millionen. Davon entfallen etwa 60% des Datenaufkommens auf kommerzielle Nutzer, aber auch Schulen und private Anwender schließen sich zunehmend dem Internet an (Quarterman, 1997). Das rasante Wachstum des Netzes und die zunehmend heterogene Anwenderschaft sind somit prägende Entwicklungsmerkmale des Internet.

Seine Entwicklung verdankt das aus so unterschiedlichen Teilnetzen zusammengesetzte Internet Organisationen, die sich mit der Weiterentwicklung des Netzes, seiner Struktur und den internationalen Kooperationen zwischen den einzelnen Netzbetreibern auseinandersetzt. Diese Organisationen sind dabei nicht als zentrale Regulierungs- oder gar Überwachungsstellen zu verstehen, sondern als ordnende Kräfte im Internet- Datendschungel. Hier spiegelt sich das Postulat der Dezentralität: Bis heute blieb das Internet - noch - von einschlägigen Kontrollmaßnahmen seitens der Regierungen verschont.

2.1.2. Phänomenbeschreibung des Mediums IRC

Um nachvollziehen zu können, wie unsere Interviewpartner mit dem Medium IRC umgehen und welche Bedeutungsschwerpunkte sich für sie in ihrem Handeln damit ergeben, ist eine Beschreibung des Kommunikationsprogramms notwendig.

Das ursprüngliche IRC- Programm wurde von dem Finnen Jarkko Oikarinen geschrieben und 1988 zum ersten Mal in Finnland gestartet. Oikarinen ging es darum ein 'multi- user- chat- system' zu entwerfen, das den Benutzern ermöglichen sollte, sich mit anderen Menschen aus aller Welt in einem virtuellen Raum zu treffen, um dort mit anderen textbasiert zu kommunizieren (Seidler, 1994). Es können sich also mehrere Anwender zugleich mit mehreren anderen Nutzern in Echtzeit per Texteingabe unterhalten. Dies macht IRC zu einem sogenannten 'many- to -many' - Medium, eine Form der Massenkommunikation, die bis dato so nicht existierte. Diese Gesprächsform war von Beginn an weniger für sachliche Online- Konferenzen vorgesehen als für eher freizeitliche Unterhaltungen.

Anfänglich war Finnland noch nicht an das Internet angebunden, so daß sich das Programm IRC zunächst nur an den finnischen Universitäten verbreiten konnte. Nachdem aber eine Internetverbindung zwischen Finnland und den USA eingerichtet wurde, begann man sich weltweit für die Anwendung zu interessieren. Im Oktober 1989 kam IRC auch nach Deutschland. Erlangen, München und Freiburg waren die ersten Universitäten, die das Programm installierten. Da die internationale Anbindung noch nicht vollständig funktionierte, blieben die wenigen deutschen Nutzer vorläufig unter sich. Besonders interessant wurde es deshalb, wenn es zu einer Verbindung mit dem Ausland kam und man auf Menschen anderer Nationalitäten traf. Seit der Entstehung des Programms haben sich inzwischen über 60 Länder angeschlossen. Circa 7 % der Nutzer kommen aus Deutschland (Seidler, 1994).

Die Kommunikation funktioniert über die Tastatur anhand von Texteingabe, die nach einer Bestätigung durch den Nutzer auf dem Bildschirm der anderen Teilnehmer erscheint. Man kommuniziert dabei nicht mit der Gesamtheit der IRC- Anwender, sondern entweder mit einer anderen Einzelperson im sogenannten "Privatchat", oder aber mit den Teilnehmern eines "Channels", in dem der Text erscheint.

Der virtuelle Raum des IRC ist in einzelne Zimmer - die "Channels" - unterteilt, denen anhand einer Überschrift ein bestimmtes Konversationsthema zugeordnet ist. Die Channelüberschrift liefert eine Antizipationsmöglichkeit der in diesem Forum geführten Gespräche und anwesenden Teilnehmer.

Das Themenspektrum ist ausgesprochen umfangreich. Es gibt Channels unterschiedlichster Art, Differenzierungen sind z.B.: regional (#berlin, #israel), sexuell (#cybersex, #gay.de), allgemein (#funfactory), Selbsthilfe (#suicide) oder für Fans (#Michaeljackson). Diese Einteilung in Channels hat den Vorteil besserer Orientierung und direkten Zugangs zu dem jeweiligen Interessensgebiet. Auch in kommunikativer Hinsicht ist die Aufteilung sinnvoll, denn würden sich alle Teilnehmer in einem Raum treffen, hätte der Einzelne wohl Schwierigkeiten, sich angesichts Tausender von Anwendern zurecht zu finden, geschweige denn ein Gespräch in Gang zu bringen. So geordnet ist das Themenspektrum, das vom technischen Wissensaustausch über einfaches Geplauder bis hin zum erotischen Dialog reicht, übersichtlich. Die Benutzer können entweder einen bereits eröffneten Channel aufsuchen oder selbst einen Channel erzeugen. Channels existieren solange, bis der letzte Nutzer diesen verlassen hat, was bei größeren Kanälen jedoch nie geschieht.

Selbstverständlich kann der Nutzer sich auch gleichzeitig in mehren Kanälen aufhalten. Die Programmoberfläche, also die Schnittstelle zwischen dem Anwender am Bildschirm und dem IRC, ist dabei so gestaltet, daß jeder Channel durch ein Fenster repräsentiert ist. Innerhalb dieses Fensters kann man das Geschehen im Kanal verfolgen, wobei die jeweils jüngste Information, seien es Kommentare der Nutzer oder Systemmeldungen, wer z.B. neu hinzugekommen ist oder den Channel verlassen hat, der vorangehenden Information angefügt ist. Abgesehen von diesem fließenden Text ist an der rechten Seite des Fensters eine weitere Spalte zu finden, in welcher alle Anwesenden im Channel unter ihrem Spitznamen oder "nickname" aufgeführt sind. Durch einfaches Anklicken eines Nicknamens in der seitlich angeführten Teilnehmerliste kann man den jeweiligen User zum Privatchat laden. Der Text ist dann für die anderen Teilnehmer nicht mehr sichtbar.

Was die Person des Benutzers und deren Repräsentation im IRC angeht, wird man kurz vor Eintritt in die IRC- Welt automatisch aufgefordert, sich einen Namen zu geben, der eine Länge von neun Zeichen nicht überschreiten darf. Dieser im IRC- Jargon als Nickname oder Nick bezeichnete Name ist Garant der Anwesenheit in diesem virtuellen Raum und repräsentiert den dahinterstehenden Nutzer. Doppelverwendung von Nicks ist ausgeschlossen. Für die Nicknamen gibt es kein Registrierungsverzeichnis; so kann es vorkommen, daß der gewählte Nick bereits von einem anderen Teilnehmer benutzt wird. In solch einem Fall muß man auf einen anderen Namen ausweichen. Die Handhabung der Nicks durch die User ist unterschiedlich. Viele IRC Anwender entscheiden sich für einen festen Namen, um von anderen Teilnehmern wiedererkannt zu werden (Döring, 1997a). Andere wiederum legen sich nicht auf einen Namen fest und leben auf diese Weise unterschiedliche Repräsentationen ihrer Person aus.

An dieser Stelle bedarf es einer kurzen Erläuterung eines der für IRC charakteristischsten Merkmals, nämlich der relativ hohen Anonymität zwischen den Interaktionspartnern. Abgesehen von dem Nick, mit dem sich der Benutzer durch das IRC bewegt, kann man nur wenig Informationen zu den Teilnehmern in Erfahrung bringen. Dies geschieht über den Gebrauch des ' who-is' - Befehls. Anhand der Informationen, die vom Server vermittelt werden, kann man feststellen, in welchen Channels der Teilnehmer gerade aktiv ist, sowie den Namen des genutzten Servers, des lokalen Clients und daraus das Land, in dem sich der Nutzer aufhält. Angaben wie der richtige Name oder die E- Mail- Adresse sind fakultativ. Ob diese Datengewinnung die von den Benutzern erlebte Anonymität aufhebt oder durch andere individuelle Strategien behandelt wird, zeigt sich später im Verlauf unserer empirischen Datenauswertung.

Wie vorab erwähnt, kann jeder Benutzer selbst einen Channel eröffnen. Dadurch wird er automatisch zum Channel- Operator, dessen Nickname im Unterschied zu späteren Besuchern des Kanals mit einem Klammeraffen oder Flag versehen wird: @. Ein Channel- Operator ist gegenüber den anderen Teilnehmern im Channel privilegiert und hat administrative Rechte. So kann er beispielsweise an andere Teilnehmer den Operator- Status vergeben, oder seinem Channel, abgesehen vom Namen, noch ein spezielles Motto zuweisen. Er kann auch bestimmen, welche Inhalte und Verhaltensweisen im Channel sanktioniert oder geduldet werden, da er die Macht über Sanktionen hat. So kann er mittels des Befehls ' kick' andere Teilnehmer aus dem Channel entfernen, mittels des Befehls ' ban' Teilnehmern sogar temporär den Zugang verweigern. Der Channel- Operator hat gewissermaßen Territorialrechte für diesen Raum. Das macht aber erst dann Sinn, wenn sich noch mindestens eine andere Person darin einfindet, um den Bereich in eine Interaktions- oder Sozialumgebung zu verwandeln, auf die diese Rechte dann auch angewendet werden können. Der Channel- Operator, der allein schon durch den Channelnamen und dessen Motto Bedeutungszuweisungen setzt, benötigt also noch mindestens einen Interaktionspartner, der den Inhalt mit ihm teilt, um überhaupt etwas erfahrbar machen zu können. Noch eine Stufe höher in der IRC- Hierarchie stehen die IRC- Operatoren, deren Rechte sich auf den gesamten Einzugsbereich des Servers beziehen, die aber auch - ganz unabhängig von irgendwelchen Betreibern - für dessen reibungsloses Funktionieren die Verantwortung übernehmen.

Insgesamt kann man IRC als einen relativ rechtsfreien Raum betrachten. Die einzigen, von möglichen Channelregeln unabhängigen Normen sind in der sogenannten Netiquette enthalten. Sie umfaßt ein Set von Regeln, die sich im Laufe der Zeit, nach Meinung ihrer Verfasser, der Netzkoordinatoren, bewährt haben. In der IRC- Netiquette wird man z.B. zur wahrhaftigen Angabe der E- Mail- Adresse angehalten, damit andere Teilnehmer die Möglichkeit haben, sich noch mal auf andere Weise auf Aussagen eines Verfassers rückzubeziehen. Solche Regeln werden aber nicht selten umgangen. Darüber hinaus wird die Einhaltung der Netiquette von Channel zu Channel verschieden gehandhabt.

Spricht man von Cyberspace oder virtueller Realität, ist zumeist die Rede von einer dreidimensionalen Interaktionserfahrung. Bei dieser werden Datenbrille, -handschuh oder sogar Ganzkörperanzüge genutzt, um ein Erlebnis zu vermitteln, das sich in der Endversion nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden lassen soll. Auch rein textbasierte Umgebungen wie IRC werden bereits als virtuelle Realität bezeichnet. Schließlich verändern sich in dem auf Text aufbauenden Raum des IRC nicht nur die Repräsentationen der eigenen Person, sondern auch unsere Raum- und Zeitvorstellungen, die wir als zwei Grundkoordinaten unseres außermedialen Wirklichkeitsverständnisses verstehen. So existiert z.B. im IRC kein Tag- Nacht- Rhythmus im Sinne des außermedialen Wach- Schlaf- Zustands; vielmehr ist das Medium durchgehend bevölkert. Gemessen an der mitteleuropäischen Zeitrechnung sind Nutzer aus Deutschland gegen zwölf Uhr nachts am häufigsten und gegen sieben Uhr morgens am seltensten im IRC anzutreffen (Seidler, 1997). Amerikaner, Asiaten oder Australier weisen zeitzonenbedingt eine andere Nutzungshäufigkeit auf. So kann es also geschehen, daß der Anteil deutscher Nutzer sinkt, während die Teilnehmerzahl der Amerikaner in die Höhe schnellt. Fazit dieser Beschreibung ist, daß das IRC ständig belebt ist, ohne daß zeitliche Einteilungen bei der Nutzung des Mediums eine Rolle spielen. Abgesehen von der Veränderung unserer Zeiterfahrung wird auch unsere alltägliche Raumerfahrung durch die virtuelle Umgebung des IRC transformiert. Der Benutzer kann sich im IRC unabhängig von der realen Welt, ihren geographischen Entfernungen und ihren natürlich- physikalischen Gesetzen bewegen. Wir können uns gleichzeitig in mehreren Channels aufhalten und so die körperliche Verbundenheit mit einem Ort im virtuellen Raum auflösen.

Nun möchten wir noch ein Beispiel für eine Chat- Situation im Channel darstellen, um dem Leser die IRC Situation etwas näher zu bringen. Auf den Namen in spitzen Klammern folgt der Text des jeweiligen Teilnehmers. Ein Stern vor dem Nick leitet eine Handlung oder Beschreibung ein, drei Sterne eine Systemmeldung. Zeichenkombinationen wie :) oder :( beschreiben Gefühlszustände wie Freude bzw. Trauer. Während einer IRC- Sitzung erscheinen Text, Handlungen und Systemmeldungen in jeweils unterschiedlichen Farben auf dem eigenen Bildschirm.

<Samtpfote> versuchs mit dem alten netscape der geht nicht ganz so auf die performance mupfel (3.01)

*** Samtpfote sets mode: +o Longmad

<Kimbasulu> BIERgarten ??? was wann wo ??

<Ritter> kimba: na wo scho? in minga!

<Ritter> massaka: des werd a schönes wettrüsten geben

<Longmad> d@nke samti *liebseiheute* ;)

<massaka> ritter: alles kinder, die Inder ;)

<beavis> massa: massa, massa, wohl selba n inder, massa

<Mupfel> Samti: der 3.01er stürzt nach 2 Minuten ab.. ich hab den 3.04er, der läuft stabil und bremmst auch ned sooo derbe.. aber trotzdem.. man merkts

*** EnjoY (EnjoY@XXXOVR.zeitung-online.net) has joined #muenchen

<Kimbasulu> hmm in minga ?? ... zu weit :(

*** EnjoY (EnjoY@XXX.OVR.zeitung-online.net) has left #muenchen (EnjoY)

<Kimbasulu> *sabber*

<massaka> riddi: nu im ernst: noch hams ja keine bombe

* OutLimz hat heute verspannungen in der schulter. ist hier zufällig eine maseuse an- oder verwesend?

<Kimbasulu> *lechz*

<Longmad> hi zen

*** knuffl (~grumml@XXXXXw0.WiSo.Uni-Augsburg.DE) has left #muenchen (knuffl)

<Kimbasulu> *DURSCHTHAB

<Ritter> kimba: musst halt her kimma :))

<zenyodo> out: glaub nicht,.

*** crealein is now known as langweile

<Ritter> massa geht schneller als de denkst, die ham ja schon im wahlkampf mit geprotzt

<helmi> hoi samti btw

<Kimbasulu> komisch .. mein bierserver geht nimmer :(

<_FL0_> ritter: schon leida

Log- file einer Chatsitzung in #muenchen vom 13. 5. 1998
 

2.2. Computervermittelte Kommunikation

2.2.1. Begriffsklärung und Kennzeichen computervermittelter Kommunikation

Die in dem Medium ausgeübte Kommunikationsform unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten von der herkömmlichen Form der Kommunikation, bei der die Kommunikanten sich direkt und physisch begegnen. Bei der von Kopräsenz gekennzeichneten Face-to-Face (FTF) - Kommunikation werden neben den sprachlich codierten Kommunikationsinhalten noch viele weitere, durch andere Sinnesmodalitäten vermittelte Botschaften willentlich oder unwillentlich ausgetauscht. Durch die vollständige Beteiligung aller Kanäle am Kommunikationsprozeß können sowohl Gestik als auch Mimik des Gegenübers sowie sämtliche Personen- und Situationsmerkmale in die Interaktion mit einbezogen werden. Durch das Vorhandensein eines beiden Teilnehmern zur Verfügung stehenden physikalischen gemeinsamen Handlungs- und Wahrnehmungsraum ist aufeinander bezogenes soziales Handeln möglich (Winterhoff- Spurk & Vitouch, 1989). Kopräsenz ist gerade wegen ihrer reziproken Reaktionserzeugung eine Grundvoraussetzung für durch Kommunikation entstandene Interaktionssysteme im Sinne der Luhmann' schen Systemtheorie (Luhmann, 1997). Gegenseitige FTF-Wahrnehmung ermöglicht ein Höchstmaß an aufeinander bezogener Kommunikation.

Kommunikationsmedien eröffnen uns die Möglichkeit, auch ohne physische Anwesenheit miteinander kommunizieren zu können, wobei unterschiedliche Wahrnehmungskanäle wegfallen. Schon hier trifft man die Unterscheidung zwischen synchroner und asynchroner Telekommunikation. Bei synchroner Kommunikation erfolgt die Informationsvermittlung direkt. Beide Kommunizierende sind zur gleichen Zeit am Kommunikationsakt beteiligt, eine Reaktion erfolgt in der Regel unmittelbar. Ein Beispiel hierfür wäre das Telefonieren. Kommunikation findet hier unter Ausfall visueller, taktiler und olfaktorischer Wahrnehmungkomponenten statt, dennoch läßt auditive Wahrnehmung ein gewisses Maß an situationaler Einschätzung zu, z.B. bezüglich der emotionalen Verfassung des anderen. Asynchrone Telekommunikation bezeichnet die Verschlüsselung einer Botschaft, z.B. mittels Schrift, die dann unter zeitlicher Verzögerung zum anderen Kommunikationspartner transportiert, von diesem rezipiert, und, je nachdem, beantwortet wird. Hier wäre der Briefverkehr beispielhaft.

Von computervermittelter Kommunikation spricht man, wenn die Botschaft vom Sender durch einen Computer enkodiert und mittels Vernetzung von Computern an einen oder mehrere andere Rechner vermittelt wird und dort rezipiert werden kann. Hierbei stellt das Internet den weltweit umfassendsten Vernetzungsrahmen dar. Entfernung und Zeit werden bei über das Internet verbundenen Computern als Maßkriterien der Vermittlung hinfällig, so daß man CMC auch als eine Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen betrachten kann. Die Kodierung der Botschaften wird in Form von Verschriftlichung vorgenommen, es handelt sich somit um textbasierte Kommunikation. Kommunikationsinhalte können hier also nur anhand von Texterstellung vermittelt werden, was für den Kommunikationsprozeß und die an ihm Beteiligten von weitreichender Bedeutung ist. Denn dieser ist einerseits von medial bedingten Restriktionen, andererseits von durch die Kommunikationsform erzeugten neuen Optionen gekennzeichnet. Dadurch wird auch das Erleben und Handeln seiner Anwender beeinflußt.

Auch bei CMC unterscheidet man zwischen synchroner - z.B. IRC - und asynchroner - z.B. newsgroups - Kommunikation. Ein weiteres Klassifikationsmerkmal computervermittelter Kommunikation bezieht sich auf die Anzahl der beteiligten Personen. Diese kann limitiert sein auf nur zwei Menschen oder aber eine größere Anzahl von Leuten mit einschließen. Bei der Form computervermittelter Kommunikation im Internet Relay Chat, mit der wir uns beschäftigen wollen, ist beides möglich: sowohl synchroner Austausch beschränkt auf zwei Personen im Privatchat, als auch Kommunikation im Channel zwischen mehreren Anwendern. Aus diesem Grund wird IRC als ' many- to- many' - Medium bezeichnet.

CMC eröffnet ein breit gefächertes Forschungsfeld das vor allem vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Vernetzung und dem Einzug des Computers mit Internetzugang in immer mehr Privathaushalte an Relevanz gewinnt. Ursprünglich lag der analytische Schwerpunkt dieses noch recht jungen Forschungsgebiets auf zielorientierter CMC im organisationalen Umfeld. Rafaeli stufte dann aber CMC als erste interpersonale, massenmediale Kommunikationsform ein (Rafaeli, 1988), die auch einer breiteren Masse ein kommunikatives Forum bot. Bei CMC- Forschung handelt es sich um keine eindeutig festlegbare Forschungsdisziplin. Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Psychologen, Soziologen, Journalisten, Kulturanthropologen, Informatiker, Linguisten und mittlerweile auch verstärkt Philosophen beschäftigen sich mit diesem Forschungsbereich. Das erklärt auch, daß sich zu CMC aufgestellte Theorien nicht immer geradlinig auf eine Wissenschaftsdisziplin festlegen lassen. Oft fokussieren die Forscher ihre Untersuchung auf eine oder mehrere ähnliche Anwendungsformen und Arten computervermittelter

Kommunikation , z.B. auf die asynchrone Kommunikation per E- mail oder Echtzeitanwendungen computervermittelter Kommunikation. In unserer Vorstellung einiger theoretischer Ansätze haben wir daher versucht, diese - soweit möglich - unter dem Blickwinkel synchroner Kommunikation zu betrachten. Des weiteren haben wir in kleinen Exkursen wichtige, in den Theorien angesprochene IRC- relevante Themen aufgegriffen und näher betrachtet. Bevor wir uns nun im folgenden der Darstellung einiger theoretischer Ansätze widmen, die sich mit Konsequenzen von und Veränderungen durch computervermittelte Kommunikation beschäftigen, wollen wir zur Generierung eines besseren Überblickes vorab noch einen Abriß allgemeiner Kennzeichen und Implikationen von CMC liefern.
 

Da ausschließlich auf textueller Ebene kommuniziert wird, kommt es zu einem Ausfall sämtlicher non- und paraverbaler, demographischer, personaler und kontextueller Variablen, die sonst zu einem entscheidenden Teil Interaktionen mitsteuern. Dieser Umstand ist wohl eines der relevantesten Kennzeichen von CMC und in der Konsequenz das Hauptforschungsinteresse vieler CMC-Wissenschaftler. Personenmerkmale wie das gesamte äußere Erscheinungsbild und Auftreten sind nicht in die Interaktion einbeziehbar, ebensowenig wie die normalerweise das kommunikative Geschehen regulierende Gestik oder Mimik. Daher unterliegt auch die Äußerung von Stimmungslage und Emotionen der Kontrolle der Beteiligten. Der Kommunikationsprozeß bleibt zunächst unbeeinflußt von Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Status, berufliche Position, Kleidung, Rasse, oder auch Auftreten, Stimmlage oder Vermögensverhältnisse, deren Wahrnehmung bei der FTF- Kommunikation Hierarchisierung begünstigen kann. So kommt es zu Kommunikationssituationen, die von im Alltag herrschenden Vorurteilen und Stereotypen weitgehend frei sind.

Es können also zunächst keine Rückschlüsse auf den psycho- sozialen Hintergrund des Kommunikationsteilnehmers gezogen und dessen Angaben dazu nicht überprüft werden (Kiesler, Siegel & McGuire, 1984, Sproull & Kiesler, 1986, Collins, 1992, Spears & Lea, 1994). Der Interaktion entspringende Reaktionen gestischer und mimischer Natur bleiben ungachtet.
 

Hierunter versteht man - als Spezialfall von Gestik und Mimik - kommunikatives Verhalten, welches zur Koordination des kommunikativen Prozesses beiträgt. Darunter fallen beispielsweise Gesten wie Kopfnicken, Abwinken, Blicke oder ähnliches, die es den Beteiligten ermöglichen, das ' Ankommen' ihrer Botschaft zu registrieren. Regulierendes Feedback trägt also zur Effizienz der Kommunikation bei, indem Mißverständnisse sowie in Ermangelung der Reaktion des anderen Kommunikanten gegebene redundante Gesprächsinhalte minimiert werden (Kiesler et al., 1984).

Ein weiteres Kennzeichen von CMC ist die soziale Anonymität. Der Kommunizierende interagiert zwar mit einer realen Person, sitzt aber rein physisch gesehen allein vor dem Rechner und hat keinen direkten, menschlichen Ansprechpartner in seiner Nähe. Er muß sich sein Publikum quasi selbst vorstellen. Auch die Rückantworten wirken unpersönlich und anonym, da am Bildschirm erscheinende Nachrichten dem Programm entsprechend gleich aussehen und keine persönliche Note des Senders wie z.B. Schrift oder Briefpapierwahl transportieren. Der Interaktionspartner wird aufgrund mangelnder sozialer Präsenz weniger bewußt als Mensch wahrgenommen, was möglicherweise verstärkte Sachlichkeit und Unpersönlichkeit bei CMC mit sich bringt. Dies hat die Diskussion entfacht, ob CMC zu Depersonalisationseffekten führen kann. (Kiesler et al., 1984).

Unabhängig vom Ort, an dem sie sich befinden, können Menschen über CMC miteinander kommunizieren. Die Vermittlung der Botschaften über vernetzte Computer geht mit einer so kurzen Verzögerung vonstatten, daß diese nicht der Rede wert ist. Es ist also möglich, sich zeit- und ortsunabhängig zu unterhalten. Der Einflußbereich eines Subjektes kann sich somit erheblich ausdehnen. Aufgrund dieser Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen spricht der Medientheoretiker Marshall McLuhan gar vom Leben im globalen Dorf (McLuhan, 1964).

2.2.1. Theoretische Ansätze zu computervermittelter Kommunikation

2.2.1.1. Modell der Kanalreduktion

Dieses Modell verweist auf den angeblich defizitären Charakter computervermittelter Kommunikation, die nur als Surrogat für in direkter Begegnung stattfindende Kommunikation dienen könne. Ausgangspunkt sind die fünf menschlichen Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken, die bei diesem Modell je einen Kanal darstellen, über den Informationen aus der physikalischen Umwelt aufgenommen werden und in das Erleben des Subjektes eingehen. Durch CMC werden die in FTF- Kommunikation so zahlreichen Kanäle auf einen einzigen reduziert, was der Reichhaltigkeit des Aufgenommenen Abbruch tut. Diese Reduktion der Sinnesmodalitäten und Einengung der Kommunikationsbandbreite wird auf den gesamten Kommunikationsprozeß übertragen. Man betrachtet ihn somit als defizitär, formalisiert und, vor allem in zwischenmenschlicher Hinsicht, verarmt. CMC wird als eine nur unbefriedigende Alternative zu physischer Kommunikation angesehen. Durch physisches Alleinsein können Zwischenmenschliches und soziale Informationen nicht mehr wie bei FTF- Kontakten transportiert werden. Diese technik-dominierte Kommunikationsform führe zu einer Entsinnlichung, Versachlichung, Entemotionalisierung, Mechanisierung und - was zu befürchten sei - auch zu einer Entmenschlichung der Kommunikation. Sie böte Raum für Eskapismus. Die Vertreter dieses Modells gehen davon aus, dies führe letztlich zu einem in der technokratischen Gesellschaft (Postman, 1992) vereinsamten und zu zwischenmenschlicher Interaktion unfähigen Individuum (Volpert, 1985, Mettler - Meibom, 1994).

Einige Untersuchungen kommen in der Tat zu Ergebnissen einer verstärkt kalten, unpersönlichen und sachlichen Kommunikation (Hiltz, Turoff & Johnson, 1986, Conolly, Jerssup & Valacich, 1990). Hierzu kann man aber kritisch anmerken, daß diese Ergebnisse in zeitlich begrenzten Laboruntersuchungen gewonnen wurden, bei denen sich die Teilnehmer vorher nicht kannten. Möglicherweise wären diese Ergebnisse unter natürlichen Bedingungen anders ausgefallen (Walther, Anderson & Park, 1994). Döring konnte nachweisen, daß Netznutzer neben internetinitiierten Kontakten auch über ausreichend außermediale Freunde verfügen und insgesamt gut sozial integriert sind (Döring, 1996). Zwischenmenschliche Kommunikation wird demzufolge nicht durch computervermittelte ersetzt, sondern eher ergänzt.

Wir haben uns entschlossen, mit der kurzen Darstellung des Kanalreduktionsmodells auch technikkritische Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen, die in zunehmender Technologisierung unserer Informationsgesellschaft eine Gefahr für die Menschlichkeit oder zumindest doch nichts Zuträgliches sehen (Volpert, 1985, Weizenbaum, 1990, Mettler- Meibom, 1994, Stoll, 1996). Auch mögliche negative Effekte verbreiteten Computergebrauchs sollten bei der Darstellung des Phänomens in Betracht gezogen werden, um eine gedanklich umfassende Auseinandersetzung zu ermöglichen. Dem Ideologieverdacht kann dieses Modell jedoch nicht entgehen, eine empirisch gültige Verankerung der Thesen fehlt oft (z.B. Volpert, 1985).

2.2.1.2. Reduced Social Context Cues Theory

Die Reduced Social Context Cues Theory (Kiesler et al., 1984, Sproull & Kiesler, 1986) subsumiert sich unter den sogenannten Filter- Theorien, welche sich mit dem medial bedingten Herausfiltern sozialer Information bei CMC befassen. Anstatt bei einem Vergleich zwischen FTF- Kommunikation und computervermittelter Kommunikation von einer generellen Verarmung zu sprechen, untersucht die Reduced Social Context Cues Theory unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten die Konsequenzen der Anonymität und des durch fehlende soziale Hinweisreize verursachten Informationsverlustes:

Durch CMC kommt es zu einer Egalisierung zwischen den Kommunikationspartnern, da Hinweisreize, die den Status einer Person manifestieren, nicht mehr wahrgenommen werden können. Nachteile im Kommunikationsprozeß kommen so nicht mehr zum Tragen. Im Gegenteil: Machtverhältnisse werden nivelliert. Unter diesen Umständen werden soziale Benachteiligungen ausgeglichen, auch Unsicherheit aufgrund selbst eingeschätzter körperlicher Unattraktivität oder Persönlichkeitsmerkmale wie beispielsweise Schüchternheit können leichter überwunden werden ( Kiesler et al., 1984, Sproull & Kiesler, 1986, Dubrovsky, Kiesler & Sethna, 1991).

CMC soll zu verminderter Hemmung führen, die sich im verbalen Verhalten der Kommunikationsteilnehmer zeigt. Aufgrund der Textbasiertheit der Kommunikationssituation ist diese von "absence of social influence cues" und "lack of nonverbal involvement and absence of norms" (Kiesler et al. 1984, S.1130) geprägt.


2.2.1.3. Exkurs: Enthemmung

Der Einzelne ist innerhalb eines medialen Kommunikationsszenarios wie IRC bezüglich seiner physischen Person vollständig anonym (Barrett & Wallace, 1994). Nutzer können daher für ihre Taten oder Worte nicht zur Verantwortung gezogen werden (Serpentelli, 1993, Turkle, 1995). Dieser Umstand sowie die Abwesenheit sozialer Hinweisreize und eines physischen Gesprächspartners bewirken, daß sich der einzelne in seiner Anonymität von sozialer Kontrolle oder Normen weniger beeindruckt zeigt. Dadurch wird ein vergrößerter Handlungsspielraum in zwei Richtungen eröffnet. Die positive Seite der Enthemmung, welche in Anonymität und verminderter sozialer Kontrolle begründet ist, zeigt sich in verstärkter Offenheit, Vertraulichkeit und Ehrlichkeit. Anonymität scheint einen Schutzeffekt mit sich zu bringen, der diese Eigenschaften begünstigt. Das ist auch aus Alltagssituationen bekannt - man denke z.B. an den ' Stranger on the Train' , dem Persönliches deshalb mitgeteilt wird, weil ihn die Anonymität schützt (Döring, 1997b).

Andererseits resultiert die Enthemmung in vermehrtem antisozialen und feindseligen Verhalten. Anomie, Verbalinjurien und die Hinwegsetzung über gesellschaftliche Normen zeigen sich verstärkt. Die verringerte Verantwortlichkeit für eigene Äußerungen begünstigt offenbar Enthemmung. Enthemmungseffekte manifestieren sich im Netz in erster Linie im Flaming, dem Äußern von starken Beleidigungen, Beschimpfungen, Feindseligkeiten, Flüchen und persönlichen Angriffen (Kiesler et al., 1984, Collins, 1992). Zum Flaming kann es aber auch erst aufgrund von Mißverständnissen kommen, die durch das Manko sozialer Hinweisreize entstanden sind. Ein Kommunikationsteilnehmer weiß z.B. nicht unbedingt, ob eine Mitteilung ironisch aufzufassen oder ernst gemeint ist. In FTF- Gesprächssituationen kann dergleichen schnell erkannt werden, bei CMC nicht. Durch die soziale Anonymität kann es weiterhin zur Vernachlässigung der Tatsache kommen, daß hinter den Bildschirmtexten Menschen stehen, während man sich des menschlichen Gegenübers bei FTF- Kommunikation automatisch bewußt ist. Somit liegt auch die Hemmschwelle niedriger, den anderen schwer zu beleidigen. Nicht ohne Grund findet sich z.B. in der Usenet- Netiquette der Hinweis, nicht zu vergessen, daß auf der anderen Seite ein Mensch sitzt, mit dem man interagiert. Da innerhalb des Mediums oft die einzige Möglichkeit, sich gegen derartige Angriffe zur Wehr zu setzen, das reaktive Flaming ist, kann solches Verhalten eine Eskalationsdynamik annehmen und in sogenannten flame wars gipfeln.


2.2.1.4. Die Social Information Processing Theory

Joseph Walther war 1992 der erste, der eine subjektbezogenere Perspektive auf CMC einnahm. Sein Postulat ist, neben den Eigenschaften des Mediums auch das Motivgerüst und kognitive Prozesse des Anwenders in eine Analyse einzubeziehen. Er geht davon aus, daß Menschen auch bei dergestalt technologischer Kommunikation das ihnen innewohnende menschliche Bedürfnis haben, sich einander im Rahmen von Interaktionen anzunähern, Gefühle von Unsicherheit zu reduzieren, Anschluß zu gewinnen und zu anderen persönliche Beziehungen aufzubauen. Dies betrachtet er als eine vom Kommunikationsmedium unabhängige Tatsache. Er geht davon aus, daß aufgrund dieses Strebens die CMC- Nutzer in der Lage sind, technisch bedingte Schwächen des Mediums durch vorausgehende kognitive Prozesse auszugleichen. Nach Walther stimmt der Mensch sein kommunikatives Verhalten auf das Medium ab, indem soziale Hinweisreize und nonverbale Kommunikationsinhalte mittels veränderter Sprache und Sprachgestaltung nun über Textzeichen vermittelt, also anders codiert werden (Walther, 1992). ' Social Information Processing' bedeutet also die vom Individuum geleistete kognitive Verarbeitung sozial relevanter Informationen und darauf basierende interpersonale Kommunikation. Sich diese Fähigkeiten anzueignen sei, so Walther, nur eine Funktion der Zeit, ebenso wie die Vermittlung der Kommunikationsinhalte inklusive sozialer Kontexthinweise länger brauche. Mögliche Kommunikationsstörungen werden also als kompensierbar eingeschätzt. Die im Rahmen der Reduced Social Context Cues Theory nachgewiesenen Veränderungen der Interaktion und den geringen sozio- emotionalen Gehalt der CMC- Botschaften erklären Walther et al. im Rahmen einer Metaanalyse vorhandener Untersuchungen mit den Bedingungen, unter denen diese Ergebnisse erzielt wurden (Walther et al., 1994). Die externe Validität von Laborstudien wird angezweifelt. Die Befunde erklären sich daher durch die künstlich geschaffene Untersuchungssituation mit willkürlich zu Gruppen zusammengefügten Versuchspersonen und durch die Zeitbeschränkung, unter der die dortige Kommunikation stattfand. Unter solchen Umständen kann eine Anpassung an die Eigenarten der CMC nur bedingt stattfinden. So kommt Flaming beispielsweise in Abhängigkeit von Antizipation zukünftiger Kommunikation und unter dem Aspekt des Fortbestehens der Gruppe deutlich seltener vor.

Der Einbezug einer Zeitdimension macht die Social Information Processing Theory zu einem dynamischen Modell, das von einer Veränderung der Kommunikation bis hin zu gleicher Reichhaltigkeit und Potenz wie in FTF- Situationen ausgeht. Ausgangspunkt ist die axiomatische Annahme eines affiliativen Motivs: der Wunsch und das Streben, mit anderen menschlichen Wesen zu interagieren und mit ihnen auch im Rahmen dieser spezifischen Kommunikationsform Bindungen einzugehen. Dies bewegt den Kommunizierenden, die Nachrichten des Interaktionspartners zu dekodieren. Das Dekodieren des gesandten Textes dient dem Gewinnen von Informationen über das Wesen der Gesprächspartner und soll eine Einschätzung desselben ermöglichen. Als textuelle Hinweisreize dient die Wortwahl, die, so Walther, nach der Dekodierung Aufschluß über Bildungstand, Herkunft, Status, Erziehung und sogar Kommunikationsabsicht, aber auch über Temperament und Lebhaftigkeit der anderen Person geben kann. Die Inhalte der Nachrichten erlauben eine Einschätzung des anderen hinsichtlich seiner Einstellungen, Prinzipien und Meinungen. Der Prozeß der Eindrucksgewinnung dauert bei computervermittelter Kommunikation allerdings deutlich länger als außerhalb des Mediums. Eine größere Anzahl von Nachrichten muß dekodiert werden. Das Ergebnis dieses Prozesses ist laut Walthers Theorie psychologisches Wissen über den Kommunikationspartner: Er kann seinem Wesen, Denken und Sein nach eingeschätzt werden. Das zusammengetragene Wissen wird kognitiv zu einem Charakterbild zusammengefügt und bleibt im weiteren Kommunikationsverlauf innerlich repräsentiert und entwickelt. Im Laufe der Zeit kommt es auch zu größerer Vertrautheit zwischen den Interagierenden. Es ist von einer Zunahme des persönlichen Gehalts der Botschaften auszugehen, weshalb man von einer interpersonalen Beziehung sprechen kann. Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Einzelne den restriktiven Eigenheiten des Mediums angepaßt, die kontextuellen Informationslücken werden gefüllt. Dem dient das Enkodieren der Nachrichten, die so angereichert werden sollen, daß sie an Ausdrucksstärke einem FTF- Gespräch gleichkommen.


2.2.1.5. Exkurs: Sprachwandel durch computervermittelte Kommunikation

Anwender kommunikativer Internet- Szenarien haben sich inzwischen zu einer Diskursgemeinschaft mit ganz eigenen Formen der Sprachverwendung entwickelt. Die Reduktion des Kommunikationstempos, bewirkt durch die schriftlich- textuelle Sprachvermittlung, sowie der Versuch, die medial bedingten Restriktionen wie z.B. das Fehlen sozialer Hinweisreize auszugleichen und die Ausdrucksmöglichkeiten in Richtung FTF- Kommunikation anzureichern, haben eine Veränderung des Sprache mit sich gebracht. Dabei ist die Kommunikation, v.a. beim Medium IRC, sprechsprachlich konzipiert, soll also konzeptioneller Mündlichkeit gleichkommen und zu kommunikativer Nähe führen (Haase, Huber, Krumeich & Rehm, 1997). Dies wird durch medial schriftsprachliche Innovationen erreicht, die im IRC bereits recht verbreitet sind.
 

Neben der Vermittlung emotionaler Zustände dienen Emoticons dazu, dem Geschriebenen die richtige Bedeutung zu verleihen. Wird beispielsweise der Kommentar "Du Depp" noch mit dem ironisch zwinkernden Smiley - ;) oder ;-) - versehen, ist der spaßhaft gemeinte Sinn der Aussage klar. Emoticons sichern also die richtige Interpretation des Gesagten auf der pragmatischen Ebene.

  • Zustands-, Gefühls- oder Handlungsäußerungen werden durch - meist mit Asterisken versehene - Aktionswörter wie z.B. *kicher*, *heul*, *wegrenn*, *angstkrieg*, *die Ohren spitz*, *denk* transportiert. Sie dienen ebenfalls der Lebhaftigkeit und der Annäherung an die Reichhaltigkeit von FTF- Sprache.

  • Eine Sonderform der Aktionswörter sind an Comic- Sprache angelehnte Äußerungen bzw. Lautwörter, die nur im IRC (Haase et al. 1997), im alltagssprachlichen Gebrauch jedoch eher selten auftauchen (Schlobinski, Kohl & Ludewigt, 1993). Auch sie dienen der Gefühlsäußerung und sollen der Lebhaftigkeit computervermittelter Sprache zuträglich sein, so z.B. "aargh" für Wut oder "iiiieeeks" für spitze Schreie.

  • Mittels des Emoting können den anderen Anwendern Handlungsbeschreibungen, denen der eigene Nickname voransteht, nahegebracht werden, beispielsweise "Matze strahlt in die Runde". Man hat also die Möglichkeit zu virtuellen Handlungen. Darunter können auch Aktionen fallen, die in der physischen Welt nicht möglich sind, so z.B. "Matze springt über das Hochhaus".

  • Großschreibung wird zur Suggestion lauterer Stimmodi eingesetzt, beispielsweise ' schreit' jemand: SEI ENDLICH STILL!

  • Ein weiters Stilmittel sind Reduplikationen, bei denen entweder Satzzeichen oder einzelne Buchstaben vervielfacht werden, z.B. "was????????????" oder "Hiiiiiiiiiilfeeeeeee!". Das kann den Aussagen Nachdruck oder Betonung verleihen.
  • Die bislang aufgezählten Mittel verfolgen den Zweck, die Schriftsprache der konzeptionellen Mündlichkeit anzunähern. Sie soll, ähnlich wie bei Kommunikation mit direkter physischer Anwesenheit, mit mehr Lebhaftigkeit und sonst nonverbal transportierten Informationen angereichert werden. Darüber hinaus handelt es sich bei IRC aber um ein Medium, bei dem die Kommunikation sehr schnell abläuft, weshalb es auch Eigenarten der Computersprache gibt, die dem höheren Ausdrucks- und Vermittlungstempo dienen.

    U R you are

    RL real life

    LOL laughing out loud

    ROTFL rolling on the floor, laughing

    BTW by the way

    CU see you

    CUL8R see you later

    IMHO in my humble opinion

    Insgesamt ist also die Entstehung neuer Diskursformen zu beobachten, die innerhalb des IRC weitreichenden Gebrauch finden.


    Walther ist also der Ansicht, daß CMC mittels sozialer Informationsverarbeitung an die bei direkter Anwesenheit herrschende Bandbreite der Kommunikation heranreichen kann. Voraussetzung dafür ist ein genügend umfangreicher Austausch zwischen den Interagierenden und ausreichende Zeit. Walthers These kann der Vorwurf euphemistischer Übertreibung jedoch kaum erspart bleiben, da es schließlich nicht möglich ist, alles, was bei Kopräsenz z.B. durch Blicke oder Körpersprache und unbewußte Gestik vermittelt wird, auch per Textzeichen zu transportieren, egal wie phantasievoll sie variiert werden. Allein am Beispiel von Emotionen wird offensichtlich, daß diese bei direkter Kommunikation - sogar oft ungewollt - mitschwingen, während sie bei CMC erst bewußt als entsprechende Emotionen differenziert werden müssen, ehe sie, je nach Willen der Kommunizierenden, auf textueller Ebene encodiert und transportiert werden. Dafür hat man bei CMC mehr Kontrolle über das, was dem Kommunikationspartner vermittelt wird. Sicherlich sind medial bedingte Restriktionen bis zu einem gewissen Maße kompensierbar und Treffsicherheit bei der Ausdrucksfähigkeit kann durch zunehmende Praxis gesteigert werden, insgesamt aber halten wir CMC für eine Kommunikationsform, die eine andere Art zu kommunizieren bedeutet. Wie im Laufe des Textes deutlich geworden ist, generiert CMC einen neuartigen sozialen Handlungsraum, der, wie wir im weiteren Verlauf der Untersuchung sehen werden, einerseits von Einschränkungen, aber andererseits auch von ganz neuen Möglichkeiten für seine Anwender gekennzeichnet ist.
     

    2.3. Soziale Aspekte der Netzwelt

    2.3.1. Dyadische Netzbeziehungen


    An dieser Stelle möchten wir zwischenmenschliche Aspekte und Konsequenzen computervermittelter Kommunikationsszenarien wie beispielsweise IRC beleuchten.

    Wie bereits erwähnt, besteht von technikkritischer Seite die Befürchtung, daß durch Computer und die Nutzung kommunikativer Internetszenarien Einsamkeit und soziale Isolation vergrößert werden, interaktive Primärerfahrung durch nicht- körperliche Begegnung zurückgeht und Beziehungen im Internet eher oberflächlich, unpersönlich und wenig emotionaler Natur sind (z.B. Volpert, 1985, Hiltz et al., 1986, Conolly et al., 1990, Heim, 1992, Mettler- Maibom 1994, Stoll, 1996). Diese Auffassungen widersprechen Autoren, die Vereinsamungsthesen zurückweisen (Döring 1994, 1996) und in computervermittelter Kommunikation eine Befreiung von physischen Einschränkungen sehen und damit neue Möglichkeiten echter, tiefgehender Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung (z.B. Rheingold, 1994). Suler (1996) konstatiert sogar die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nach Maslows Modell der Bedürfnishierarchie (vgl. Maslow, 1971), auf dessen zweiter Stufe das Verlangen nach interpersonalen Kontakten, sozialer Akzeptanz und Zugehörigkeit steht. Diesem könne, so Suler, in computervermittelten Kommunikationsszenarien Genüge getan werden. (Suler, 1996). Diverse Studien bestätigen die These, daß das soziale Umfeld durch Beziehungsbildung im Netz eine Erweiterung erfährt und Begrenzungen des Alltags überschritten werden können (Albright & Conran, o. J., Bruckman, 1992, Rheingold, 1994, Reid, 1994). Auch quantitative, empirische Daten untermauern diese These:

    Döring unterscheidet bei Netzkommunikation zwischen Kontakten, bei welchen die interpersonale Kommunikation einmalig stattfindet und Beziehungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und mehrmalige Begegnung implizieren (Döring, 1997a). Uns soll dabei vor allem interessieren, inwiefern und in welchen Punkten sich Netzbeziehungen von anders geknüpften unterscheiden.

    2.3.1.1. Kontaktherstellung

    Bei der Entscheidung, zu wem man eine Beziehung aufbaut, stehen mit Äußerlichkeit verknüpfte Faktoren wie Aussehen oder Attraktivität in vielen Theorien und Untersuchungen zur Beziehungsbildung an vorderer Stelle (z.B. Levinger & Snoek, 1972, Perrin, 1921, nach Duck & Miell 1984, Dion, Berscheid & Walster, 1972 nach Morton & Douglas 1981). Eine gleichermaßen große Rolle spielt physische Nähe. Die meisten Beziehungen bilden sich mit Menschen aus der näheren Umgebung (Levinger & Snoek, 1972, Festinger, Schachter & Back, 1950, nach Morton & Douglas 1981). Auch scheint eine Ähnlichkeit bezüglich sozio- demographischer Eigenschaften wie beispielsweise Erziehung, Status, Herkunft, Rasse einen Einfluß auf die Wahl des möglichen Beziehungspartners zu haben, allein schon deshalb, weil es viel wahrscheinlicher ist, mit solchen Leuten in Kontakt zu treten und zu reden (Cate & Lloyd, 1988).

    Derartige Auswahlkriterien kommen im IRC nicht zum Tragen, da sie per textbasierter Kommunikation nicht transportiert werden können. Demzufolge wird die Kontaktauswahl oder das Zusammentreffen dort von anderen Faktoren gesteuert als Aussehen, Status oder örtlicher Nähe. Im IRC treffen Menschen aufeinander, deren Beziehungsknüpfung außerhalb des Mediums zumindest unwahrscheinlich wäre. An Stelle der örtlichen Nähe existieren hier ' virtuelle Orte' , die Channels, in denen sich Chatter ganz unabhängig von ihrem physischen Standort versammeln, unterhalten und kennenlernen. Die Überschriften der Channels liefern eine Antizipationsmöglichkeit und Vorstrukturierung dessen, mit wem man zusammentrifft, was auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, einer Person mit ähnlicher Interessensfokussierung zu begegnen. Dies gilt speziell für Channels, in denen sich in der außermedialen Gesellschaft sonst ausgegrenzte Gruppen oder Minderheiten einfinden, mit denen eine Zusammenkunft sich ansonsten schwieriger gestaltet. So findet man, beispielhaft für eine Minderheit, eine Vielzahl Channels mit homosexuellem Hintergrund. Die Wahrscheinlichkeit einer Ähnlichkeit hinsichtlich Einstellungen und Denkweisen ist also hoch. Dies läßt sich beziehungstheoretisch dem Konstrukt der Einstellungsähnlichkeit zuordnen, das z.B. innerhalb der Balancetheorie Heiders (1958, nach Herkner, 1991) und auch im allgemeinen als beziehungsfördernd (Forgas, 1994) beschrieben wird. Albright spricht gar von der Suche nach einem "virtual mirror" (Albright & Conran, o.J.), in dem Werte, Einstellungen und Erfahrungen des eigenen Selbst zurückgespiegelt werden.

    Wie bereits bei den Theorien zur CMC erwähnt, fallen soziale Hinweisreize im IRC weg (Kiesler et al., 1984, Sproull & Kiesler, 1986, Spears & Lea, 1994), so daß weniger Kriterien wie Auftreten oder Aussehen zur Attraktitvität beitragen, als die Art und Weise, wie ein Chatter es versteht, sich selbst durch Inhalt und Stil seiner Statements zu präsentieren und für andere interessant zu machen. Die Ausblendung des Äußeren zugunsten einer Fokussierung auf ' Inneres' - z.B. Einstellungen, Sprachkompetenz, Humor usw. - bedeutet eine starke Veränderung herkömmlicher Kommunikationssituationen.

    Über die Frage, was genau das für Menschen sind, die mit anderen über Internetanwendungen eine Beziehung aufbauen, gibt es wenig Information. Daß es tatsächlich, wie in undifferenzierten Stereotypisierungen gerne behauptet wird, kontaktgestörte, einsame, mit ihrer außermedialen Umwelt schlecht zurechtkommende Menschen sind, wagen wir zu bezweifeln. Unabhängig von Alter und Familienstand sind es in der Studie von Parks und Floyd eher weibliche Anwender, die eher Beziehungen bilden. Die höchste Vorhersagekraft, wer in Netzwerken Beziehungen eingeht, liegt schlicht in der Häufigkeit und Dauer der Online- Tätigkeit (Parks & Floyd, 1996). Dies würde Walthers Behauptung von der Rolle der Zeit bei der Überwindung von Kommunikationsrestriktionen unterstreichen.

    Die Kontaktaufnahme selbst gestaltet sich sehr einfach, entweder öffentlich durch die Vermittlung einer Botschaft an die jeweilige Person im Channel, oder privat durch einen Doppelklick auf den Namen des Awenders. Das computervermittelte Szenario bewirkt dabei eine Verminderung eventueller Hemmung bei der Kontaktaufnahme. Das kommt, so wird spekuliert, insbesondere Schüchternen, Introvertierten oder sozial Ängstlichen zugute (Livingood, 1995, Snell, o.J.).

    2.3.1.2. Beziehungsentwicklung

    In vielen Fällen bleibt es nicht bei einem einfachen Kontakt, sondern die Interaktionspartner beginnen, die Beziehung zu vertiefen. Dabei kann wiederholtes Zusammentreffen geplant oder ungeplant sein. Coate konstatiert hierbei größere Unformalität als bei außermedialem Beziehungsaufbau, da man sich im Netz unverkrampfter und einfacher trifft, aber auf lange Sicht dennoch eine tiefere Beziehung formt (Coate, 1992). Beziehungstheorien beschreiben bei dieser Entwicklung unter anderem eine Ausweitung der Interaktionsbreite und -tiefe und zunehmende, von Reziprozität gesteuerte Selbstenthüllung und Intimität (Altman & Taylor, 1973). Im IRC müssen sich die Kommunikationspartner eine Vielzahl an Informationen zukommen lassen, die anfangs die medial bedingten Informationslücken - z.B. hinsichtlich Alter und Geschlecht der Person - füllen und der Konstruktion eines gemeinsamen Kontextes dienen. Enger wird die Beziehung durch Selbstenthüllungen. Gemäß der von der Reduced Social Context Cues Theory angesprochenen Enthemmung ist die Offenbarung persönlicher Aspekte der eigenen Person bei CMC

    wahrscheinlicher. Daher kann man vermuten, daß in Online- Beziehungen früher private und intime Themen zur Diskussion kommen und die Interaktionspartner schneller eine persönliche Beziehungsebene entwickeln. Man gestatte uns die Vorwegnahme, daß sich dies auch bei unseren Interviewpartnern gezeigt hat.

    Ein ' Haken’ an der Beziehungsbildung im IRC könnte jedoch sein, daß es kaum Verifikationsmöglichkeiten zu den gelieferten Informationen gibt, denn:

    "essentially there is nothing that one IRC user can ascertain about another (...) that is not manipulable by that user" (Reid 1991).

    Die Anwender müssen in die Wahrhaftigkeit der Darstellungen des Interaktionspartners vertrauen, bzw. gehen sie das Risiko ein, mit jemandem zu interagieren, der seine Identität oder Teile davon verändert oder damit spielt. Solchen Täuschungen zu unterliegen wird von den Betroffenen eher negativ erlebt. So waren Reaktionen auf die Verwendung eines gegengeschlechlichen Spitznamen laut Reid das Gefühl, betrogen und durch dieses Handeln im Interaktionsprozeß benachteiligt worden zu sein sowie das Einstufen solchen Handels als unethisch (Reid, 1994).

    Bei Online- Beziehungen werden zusätzlich aber auch andere Kommunikationsformen und demnach andere Kommunikationskanäle genutzt. Die Beziehung expandiert also in andere Bereiche. Ein Drittel aller Untersuchungsteilnehmer von Parks und Floyd nutzen Briefe, Telephon und auch direkte Begegnungen als Kontaktform ebenso wie gescannte Bilder ausgetauscht wurden (Parks & Floyd, 1996). Auch bei Albright und Conran (o. J.) wird diese Expansionstendenz deutlich, wobei diese unter anderem auf das Streben nach Überwindung computerbedingter Kommunikationslimitationen (Parks & Floyd, 1996) und den Wunsch nach Reduktion von Unsicherheit zurückzuführen ist. Das Konzept, das vom Interaktanden gebildet wird, basiert so auf faktengebundeneren Informationen, als sie im IRC vermittelt werden können. Bei längerer Interaktion über CMC besteht das Risiko, ein Fehlkonzept, also ein mit der kompletten, außermedialen Person nicht übereinstimmendes Bild des anderen aufzubauen (Fuller, 1994). Die Authentizität der Identität kann durch Ausweitung der Kommunikationskanäle leichter verifiziert werden, wodurch eine erhöhte Einschätzungsmöglichkeit des anderen gegeben ist (Wetzstein et al., 1995). So kann die Beziehung von den oben angesprochenen Unsicherheitsfaktoren weitgehend befreit werden. Eine Vielzahl der online gebildeten Beziehungen erfährt auch eine Ausweitung durch FTF- Begegnungen, die aber - aufgrund möglicher Mißkonzeptionen (Fuller, 1994) oder überhöhter Erwartungen - Enttäuschungen und deshalb eine Beendigung der Interaktion mit sich bringen können (Albright & Conran, o.J.).

    Des weiteren möchten wir noch zwei spezielle Typen von Beziehung erwähnen, bei welchen viele womöglich eine computervermittelte Formation eher ausschließen würden. Im Netz können romantische Beziehungen entstehen, in denen die Interaktionspartner Gefühle füreinander entwickeln und sich, unter Auslassung physischer Aspekte, auch ineinander verlieben können (Albright & Conran, o.J., Reid, 1994), was immerhin 8% der Respondenten bei Parks und Floyds betraf (Parks & Floyd, 1996). Eine weitere, wesentlich häufiger v.a. in Kommunikationsszenarien wie IRC anzutreffende Beziehungsform sind sexuelle Beziehungen, auch Cybersex oder Netsex genannt. Sexuelle Handlungen können hier über schriftsprachliche Vermittlung von physischen Aktionen, Reaktionen und Gefühlen vollzogen werden. Die Motive für solches Handeln sind strittig. Das Ergänzungsmodell betrachtet Cybersex als Bereicherung und sexuelles Experimentierfeld, wohingegen das Ersetzungsmodell von defizitären Substitutionshandlungen ausgeht (Döring, 1997a).

    Alles in allem scheinen auch computervermittelte Beziehungen zu einem Bestandteil des sozialen Netzwerkes der jeweiligen Benutzer zu werden.

    2.3.2. Virtuelle Gemeinschaften

    Beziehungsbildung in Netzwerken ist nicht nur auf Dyaden beschränkt. Es bestehen auch virtuelle Gemeinschaften, die sich aus einer größeren Anzahl von Usern konstituieren. Der Begriff "virtuelle Gemeinschaft" ist allerdings noch amorph. Es ist weder eine eindeutige, allgemeingültige Definition vorgegeben, noch geklärt, was für Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer ' virtual community' , so der geläufige englische Ausdruck, sprechen zu können. Ebensowenig wurden bislang die Funktionen, die sie erfüllt, empirisch ausgearbeitet. Einen möglichen Zugang sehen wir im eher soziologischen Gemeinschaftsbegriff gegeben, für den wir auch das in der Psychologie gebräuchliche Konstrukt der Gruppe als Synonym gelten lassen wollen. Dem wollen wir uns erst von allgemeiner, also nicht auf Computernetzwerke bezogener Seite annähern, um dann darauf aufbauend mögliche Kennzeichen und Funktionen virtueller Gemeinschaften zu behandeln.

    Im Normalfall ist jedes Individuum ist Mitglied zahlreicher und verschiedener sozialer Gruppen. Unter Gruppe versteht man ein soziales, durch Interaktionen konstituiertes Gebilde aus mehr als zwei Personen, die über einen längeren Zeitraum hinweg miteinander interagieren (vgl. Herkner, 1991). Über weitere Kriterien, die eine Gruppe definieren, herrscht Uneinigkeit, jedoch werden vielfach die Existenz gemeinsamer Normen, einer Gruppenstruktur und eines Zusammengehörigkeitsgefühls erwähnt. (Herkner, 1991). Grob unterschieden gibt es zwei Arten von Gruppen, zum einen größere, formelle, rational geregelte Gruppen mit eher unpersönlichen Beziehungen der Mitglieder zueinander, zum anderen kleine, intime, von häufiger Interaktion und persönlichem Engagement der Mitglieder geprägte Gruppen (Forgas, 1994). Ähnlich konstruiert der Soziologe Ferdinand Tönnies schon Ende des letzten Jahrhunderts die Modelle Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies, 1887). Die Gesellschaft entspringe dem rationalen ' Kürwille' und sei ein mechanistisch- rationales Zweckbündnis formeller und unpersönlicher Natur. Ein treffendes Beispiel hierfür sieht Tönnies in den Gesellschaftsformen Unternehmen oder Staat. Dem steht die Gemeinschaft als durch den ' Wesenswillen' naturhaft gewachsene, um ihrer selbst Willen existierende, organische Gesellungsweise gegenüber, die von informellem, herzlichem und nicht auf Rationalität basierendem Verhalten zueinander geprägt ist. Beispielhaft dafür sind laut Tönnies Familie oder Nachbarschaft. Die Einbindung des Individuums in solche kleinen, überschaubaren, lokal angesiedelten Gemeinschaften oder Primärgruppen (Cooley, 1902, nach Forgas, 1994) hat jedoch mit Einsatz des Industrie-, und noch erheblicher des Informationszeitalters eine drastische Transformation durchgemacht: Die Integration des Einzelnen in - damals lokale - Gemeinschaften ist zugunsten größerer Individualisierung innerhalb der Gesellschaft(en) sowie sozialer und individueller Moblität zurückgegangen.

    Somit besteht das soziale Umfeld eines Menschen also heute weniger aus einer klar abgrenzbaren Gemeinschaft denn aus verschiedensten, sozial und geographisch gestreuten sozialen Interaktionsgebilden wie Partnerschaften, Freundschaften, Familie, Arbeitsverhältnisse, Vereinstätigkeiten und so fort, die sich insgesamt als das soziale Netzwerk des Subjektes beschreiben lassen. Auch computervermittelte Beziehungen sind dem hinzuzufügen (Döring, 1994). Dieser Umstand könnte weitreichende Veränderungen mit sich bringen, die unter anderem in veränderten Verflechtungen der Personen, der Ausweitung der Netzwerkperipherie bei gleichzeitiger Partialisierung und der Überwindung raum- zeitlicher Beschränkungen liegen (Gräf, 1997). Ein umfangreiches soziales Netz liefert das Gefühl sozialer Integration, sozialer und emotionaler Unterstützung und erfüllt Funktionen bei der Festlegung von Sinndeutungsmustern. Innerhalb des Beziehungsnetzwerkes scheint sich - neben den im Netzwerkkontext entstandenen Beziehungen - mit der virtuellen oder elektronischen Gemeinschaft eine neue Gemeinschaftsform zu verbreiten, die Funktionen des sozialen Netzes erfüllen kann und die wir nun etwas eingehender betrachten wollen. Indem wir uns an sozialpsychologischen Gruppendefinitionen orientieren, wollen wir Kennzeichen dessen herausarbeiten, was allgemein als eine virtuelle Gemeinschaft betrachtet werden kann.

    2.3.2.1. Definition und Kennzeichen virtueller Gemeinschaften

    Definitionen für die virtuelle Gemeinschaft ähneln oft denen der idealtypischen FTF- Gruppe, angereichert mit der Dimension computervermittelter Kommunikation. Höflich spricht von einer Gruppe medial miteinander verbundener Individuen, die distinktive Kommunikationsnetzwerke bilden (Höflich, 1996). Nach Fernback und Thompson ensteht eine virtuelle Gemeinschaft

    "through repeated contact within a specified boundary or place (e.g. a conference or chat line) that is symbolically delinated by topic of interest" (Fernback und Thompson, 1995).

    Virtuelle Gemeinschaften bilden sich auf der Grundlage längerfristiger, computervermittelter Kontakte zwischen mehreren Menschen. Es ist also letztlich der wiederholte, interpersonale Kommunikationsakt, der die Gemeinschaft konstituiert. Die Interaktion findet in einer bestimmten virtuellen ' Örtlichkeit' oder auch Öffentlichkeit (Faßler & Halbach, 1994) statt, also innerhalb eines bestimmten Kommunikationskanals. Sie ist von physischer Lokalität gelöst, also gewissermaßen entterritorialisiert.

    Ein weiterer, von der Sozialpsychologie für Gruppen propagierter Punkt ist die Existenz eigener Regeln und Normen. Zwar ist diese Annahme letztlich nicht bewiesen. Das Vorhandensein eines Normen- und Regelsystems trifft jedoch in den meisten Fällen auch auf elektronische Gemeinschaften zu. Für sämtliche Kommunikationsszenarien ist zunächst nur eine gewissermaßen allgemeine Form der Netiquette gültig. Von Gruppe zu Gruppe werden solche Regeln jedoch aufgrund der Heterogenität der Anwendungsformen, der Nutzer und ihrer Intentionen intern modifiziert, was wiederum zum Profil der Gemeinschaft beiträgt. So sind in manchen IRC- Channels unflätige und vulgäre Ausdrücke gestattet, in anderen dagegen nicht; in vielen newsgroup- Systemen ist Anonymität beim Schreiben eines Beitrags gestattet, in einigen nicht. Die Genese der gemeinschaftlichen Normen kann überliefert, aktiv von Netzamtinhabern verfaßt oder im Laufe der Zeit entwickelt werden (Wetzstein et al., 1995). Verstöße gegen das gruppenintern ausgehandelte Regelsystem werden gewöhnlich mit Sanktionen geahndet. Diese müssen, in Ermangelung des physischen Zugriffs auf den ' Täter' , innerhalb des kommunikativ konstituierten Raums greifen. Auch die Sanktionierung findet demnach medial vermittelt statt. Auf informeller Ebene kann ein Regelverstoß durch den Ausdruck von Verachtung oder Mißbilligung durch andere Mitglieder geahndet werden oder, je nach Grad der Normverletzung, durch kurzfristigen, langfristigen oder endgültigen Entzug der Zugangsberechtigung. Beim IRC werden die entsprechenden Vorgänge als Kick, Ban oder Kill bezeichnet. Vielleicht ist es auch noch wichtig zu erwähnen, daß der größte Teil der Internetgemeinde eine behördliche Kontrolle strikt ablehnt und statt dessen, unter Berufung auf die übergeordnete Bedeutung der Meinungsfreiheit in demokratischen Gesellschaften, vollständige Autonomie des Internet fordert (z.B. Barlow, 1990, Tribe, 1994, Rheingold, 1994).

    Im Kontext der Sanktionen kristallisiert sich noch eine weiteres Kriterium der Gruppe heraus: die Existenz einer hierarchisch angelegten Rollenstrukutur, die auch den meisten Gruppen im Netz zu eigen ist. So gibt es im IRC neben den gewöhnlichen Anwendern in einem Channel die Operatoren, die erweiterte Rechte haben und Normverstöße sanktionieren. Über diesen stehen wiederum die IRC- Operatoren, die mit den höchsten administrativen Befugnissen, gültig für den gesamten IRC- Server, ausgestattet sind. Ähnliche Hierarchien findet man auch in den Mailboxsystemen, in denen Netzämter wie das des Systemoperators und darüber stehend das des Systemadministrators existieren. Die hierarchische Stellung ist unabhängig von äußerlichen Merkmalen. Oft beruht sie auf technischer Kompetenz und der Dauer der Gruppenteilhabe.

    Manche Autoren betonen besonders kulturelle Aspekte, um den Gemeinschaftsstatus elektronisch vermittelter Zusammenschlüsse zu definieren. Sie betrachten dabei aber weniger distinkte Netzgruppierungen als vielmehr bestimmte Anwendungsformen in ihrer Gesamtheit. Diesen interessanten Punkt wollen wir kurz weiterverfolgen, da sich die im folgenden zu erarbeitenden Aussagen auch auf virtuelle Gruppen anwenden lassen. Elisabeth Reid lehnt sich an eine Kulturdefinition von Maanen und Barley an:

    "Culture can be understood as a set of solutions devised by a group of people to meet specific problems posed by situations they face in common" (Maanen und Barley, 1985, nach Reid, 1991).

    Das spezifische Problem von Netzbeziehungen liegt in den Restriktionen textbasierter und computervermittelter Kommunikation und Interaktion. Das bringt, wie wir bereits erwähnt haben, eine Reihe von Implikationen mit sich, zu denen auch die Notwendigkeit zählt, nonverbale Gesprächsinhalte und Emotionen zu textualisieren. Auch der primär sprachliche (Raymond, 1993) Einfluß der Hackerkultur (North, 1994) bewirkt, daß sich - besonders bei den synchronen Kommunikationsszenarien des Netzes - eine eigene Diskursform entwickelt hat. Ein eigenes individuelles System von Symbolen, Interpretationsregeln und sinngebenden Ausdrucksweisen steuert den Diskurs und gewährleistet dadurch den Transport intersubjektiver Bedeutungszuweisungen im Verlauf des kommunikativen Aktes. Gruppen, die nicht in der Lage sind, auf der Basis des eigenen, gemeinsamen Symbolsystems zu kommunizieren, können nicht als Zugehörige der selben Kultur gelten (Geertz 1973, nach Reid, 1991). Reid argumentiert im Umkehrschluß, daß aufgrund der Existenz eines solchen Systems IRC- Anwender als eine Subkultur differenziert werden können (Reid, 1991). Wir sehen also, daß sich Zusammenschlüsse von Individuen auch anhand der im Kommunikationsprozeß bedeutsamen Symbole voneinander unterscheiden und, basierend auf diskursiver Gemeinschaftlichkeit, zur Gemeinschaft werden.

    Wie solch eine Netz- Gemeinschaft nun strukturiert ist, läßt sich in Anbetracht der Vielfalt und und zunehmenden Diversifizierung schwer sagen. Döring (1997a) geht jedoch von einem harten Kern häufig anwesender, etablierter Anwender und einer unbeständigen Peripherie aus. Wie man Mitglied einer solchen Gemeinschaft wird, kann ebenfalls nicht formal beschrieben werden.

    2.3.2.2. Gratifikationen virtueller Gemeinschaften

    Die Mitgliedschaft in einer virtuellen Gemeinschaft kann in verschiedenen psycho- sozialen Gratifikationen münden. Wir beziehen uns hier im wesentlichen auf die Ausführungen des Schriftstellers Howard Rheingold in seinem Buch "Virtuelle Gemeinschaft" (1994), anhand dessen positive Auswirkungen einer virtuellen Gemeinschaftsteilhabe offenkundig werden. Allerdings handelt es sich bei diesem Text weniger um eine genuin wissenschaftliche, analytisch fundierte Ausarbeitung der Thematik denn um einen subjektiven, mit Anektdoten und Meinungen angereicherten Erfahrungsbericht plus einer gehörigen Portion visionären Idealismus. Dennoch läßt sich dem Text ein Einblick in die psycho- sozialen Funktionen einer Online- Gemeinschaft entnehmen. Rheingold bezieht seine Ausführungen zur virtuellen Gemeinschaft auf das 1985 in Sausolito, Kalifornien gegründeten Koferenzsystem The WELL (Whole Earth ' Lectronic Link). Schon Rheingolds Definition einer virtuellen Gemeinschaft läßt die Betonung des sozialen Aspekts bei der Gemeinschaftsbildung erkennen:

    "Virtuelle Gemeinschaften sind soziale Zusammenschlüsse, die dann im Netz entstehen, wenn genug Leute diese öffentliche Diskussion lange genug führen und ihre Gefühle dabei einbringen, so daß im Cyberspace ein Geflecht persönlicher Beziehungen entsteht" (Rheingold, 1994, S.16).

    Dies erinnert an Tönnies Gemeinschaftsbegriff, demzufolge Gemeinschaften aus der Bindung der Menschen untereinander entstehen. Rheingold fühlt sich dieser Gemeinschaft emotional verbunden. Er versteht sich als ' WELLianer' , also Teil dieser Gemeinschaft, über die er am Leben anderer Mitglieder teilhat und umgekehrt. Solche Zugehörigkeit und soziale Integration haben neben dem generell positiven Gefühl, das sie auslösen, zweierlei Konsequenzen:

    Ein positiver Aspekt virtueller Gemeinschaften liegt in emotionaler und sozialer Unterstützung, was wir ja bereits im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken, deren Teil solch eine Gemeinschaft ja ist, erwähnt haben. Exemplarisch hierfür finden sich bei Rheingold Fälle, in denen die Eltern schwer erkrankter Kinder zu jeder Tages- und Nachtzeit ein hohes Maß engagierter emotionaler, inhaltlicher und sozialer Unterstützung erfuhren (Rheingold, 1994).

    Weiterhin können virtuelle Gemeinschaften zu ' Orten' der Geselligkeit, des sozialen Austausches, der Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen werden, die einem aufgrund von Einstellungs- und Interessensähnlichkeit sympathisch sind. Rheingold bezeichnet sie, in Anlehnung an Ray Oldenburg, als einen ' Third Place' , einen ' Dritten Raum' (Rheingold, 1994). Oldenburg sieht im Leben eines Menschen drei essentielle Örtlichkeiten, nämlich den Platz, an dem man lebt, den Platz, an dem man arbeitet und schließlich die hier angesprochenen dritten Räume, an denen man nach Geselligkeit in informeller Umgebung strebt. Diese dritten Räume sind es auch, über die sich Gemeinschaften konstituieren. (Oldenburg, 1991).

    "Die Atmosphäre, die entsteht, wenn man (...) mit WELL Kontakt aufnimmt, ist der Atmosphäre sehr ähnlich, die aufkommt, wenn man kurz ins Café, die Kneipe oder den Aufenthaltsraum reinschaut, um zu sehen, wer da ist, und ob ein kleiner Schwatz angesagt ist" (Rheingold, 1994, S.41).

    Hier besteht die Gratifikation also in menschlicher Gesellschaft, Beisammensein und Gemeinschaftsgefühl trotz physischem Verharren vor dem Computer. Auch die Inhalte der Gespräche sind von Relevanz, da es sich um interessante, und daher Freude bereitende und erfüllende Konversationen handeln kann.

    Die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft oder Gruppe kann sich auch auf die Identität einer Person auswirken. Auf das Konstrukt der Identität werden wir im Abschnitt 2.4. noch eingehen. An dieser Stelle wollen wir uns nur auf den Zusammenhang zwischen Gruppenzugehörigkeit und Identität beziehen, den Tjafel und Turner (1986, nach Herkner, 1991) in ihrer Theorie der sozialen Identität darstellen. Den Autoren zufolge besteht das Selbstkonzept einer Person aus zwei Komponenten: der persönlichen Identität, die sich auf das einzelne Individuum bezieht, und der sozialen Identität, die sich über Gruppenzugehörigkeiten definiert. Beide Teile des Selbstbilds beeinflussen den Selbstwert, der natürlich hoch sein sollte. Aus diesem Grund wird eine positive soziale Identität angestrebt. Die jeweiligen Gruppen, denen ein Mensch angehört, sollten dementsprechend subjektiv möglichst positiv bewertet werden. Das geschieht im Zuge des sozialen Vergleichs mit anderen Gruppen, wobei die eigene Gruppe positiv, andere dagegen negativ bewertet werden, so daß positive soziale Distinktheit und dadurch positive soziale Identität entsteht. Dieser Vorgang kann auch bei Online- Gruppierungen auftreten. Gerade in Anbetracht der Tatsache, daß mittels computervermittelter Kommunikation die Möglichkeit besteht, sich über räumliche Begrenzungen hinwegzusetzen und mit Gruppierungen in Kontakt zu treten, die ähnliche Einstellungen, Interessen, und vielleicht durch Enthemmung zudem noch ein großes Maß an Offenheit aufweisen, ist anzunehmen, daß auch virtuelle Gemeinschaften zu einer positiven sozialen Identität beitragen.

    2.4. Identität und Selbstdarstellung

    An dieser Stelle möchten wir den Identitäts-, Selbst- und Selbstdarstellungsbegriff beleuchten. Identität besteht nicht per se, im Sinne eines festgelegten und unveränderlichen Personenmerkmals, sondern ist eng mit zwischenmenschlicher Interaktion verbunden. Im Hinblick auf computervermittelte Kommunikation ergeben sich aufgrund der entkörperlichten Präsenz und anderer medienspezifischer Besonderheiten neue Interpretationsmöglichkeiten dieser Begriffe.

    Für den Anwender ergeben sich gleich zu Beginn computervermittelter Interaktion Fragen, die im Zusammenhang mit Identität und Selbstdarstellung stehen. Bevor der Benutzer in die IRC- Welt eintreten kann, wird er aufgefordert, sich einen Nicknamen zu geben, der ihn im textbasierten Raum repräsentiert. Sofern er nicht seinen echten Namen in Anspruch nehmen will, sieht er sich vor die Aufgabe gestellt, eine Entscheidung bezüglich dieser neuen Benennung zu treffen. Der Name ist damit das erste Moment seiner Selbstdarstellung und verleiht ihm eine Identität, auf die sich andere Teilnehmer beziehen können, sie ansprechen, wiedererkennen usw. Als nächstes wird er mit der Frage konfrontiert, wie er sich unabhängig von seiner personalen und sozialen Identität entwerfen soll. Schließlich hält er sich - wie alle anderen Teilnehmer auch - als Persona, als Repräsentation seiner selbst im virtuellen Raum auf. Gerade im Hinblick auf die körperlose Präsenz und ein Verständnis vom Körper als Produkt sozialer Aushandlungsprozesse muß sich die Interaktion im Medium andersartig gestalten. Denn abgesehen von geschlechtsspezifischen Eigenarten, die nicht nur biologisch determiniert sind, sondern auch gesellschaftlich konstruiert und ausdifferenziert werden, transportiert der Körper eigene Gefühle, Einstellungen oder auch persönlichen Stil, also die Identität. So werden innerhalb des Mediums beispielsweise Gestik, Mimik und Laune, so weit es geht, durch Emoticons substituiert. Doch nicht nur der Rückbezug auf den eigenen Körper zeigt sich hier auf andere Weise als in FTF- Situationen. Gewohnte Interaktionssituationen und -partner, die die Selbstdarstellung beeinflussen, entfallen zumindest für Neueinsteiger, so daß deren Identität gezwungenermaßen anders rezipiert wird. Anstatt die Faktoren aufzuzählen, die zur Erklärung von Identität oder Selbstdarstellung herangezogen werden, wollen wir uns zunächst mit den Begriffen auf theoretischer Ebene auseinandersetzen. Denn wenn wir verstehen wollen, was in einem virtuellen Bereich wie dem IRC mit vorhandenen Konzepten von Identität und Selbst geschieht und wie damit umgegangen wird, müssen wir klären, wie es sich mit den Konzepten in der physischen Welt verhält. Ein Problem, das sich hier ergibt, ist, daß dem Identitätsbegriff keine eindeutige Definition zugrunde liegt, was zu uneinheitlicher Verwendung führt. Im Kern beinhaltet Identität die Definition einer Person, die sowohl durch die soziale Umgebung als auch durch Handlungen, Strategien und Eigenschaften des Individuums selbst als einmalig und unverwechselbar angesehen wird. Von der folgenden Darstellung einiger theoretischer Ansätze zu Identitäts- und Selbstkonzepten - beide Begriffe werden häufig synonym verwendet - erhoffen wir uns weitere Bedeutungsableitungen.

    2.4.1. Theoretische Ansätze zu Identität und Selbst

    2.4.1.1. Einheit versus Multiplizität

    Frühere Auffassungen von einer einheitlichen Identität stützten sich auf die Vorstellung vom Körper als Sitz eines Subjekts. Dem Erscheinungsbild des multiplen Selbst wurde man erst gewahr, als es zum pathologischen Fall wurde, in dem Moment also, in dem Teilpersönlichkeiten des Menschen nicht mehr untereinander kommunizieren konnten und die betroffene Person dadurch in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt wurde. In der historischen Diskussion um die Frage, ob Identität als etwas einheitliches oder aber etwas multiples und formbares verstanden werden soll, haben die psychoanalytischen Theorien eine wichtige Rolle gespielt. Hier kam wohl zum ersten mal die "Seelenzergliederung" als Anschauung zum Einsatz. Psychisch erkrankten Menschen sollte die Wiedergenesung ermöglicht werden. Die Weiterentwicklung der Freudschen Psychoanalyse wurde unter anderem von Erikson fortgesetzt, der die sozialpsychologische Dimension miteinbezog. Nach Erikson entsteht Identität in einer Stufenfolge aufeinander aufbauender Krisenbewältigungen. Diese Krisen stehen zumeist im Zusammenhang mit den Beziehungspersonen, gesellschaftlichen Ordnungen, psychosozialen und -sexuellen Modalitäten (Erikson, 1973). Identitätsbildung wird dabei als zentrale Entwicklungsaufgabe angesehen. Der Prozeß soll dazu führen, die Krisen und deren Bewältigung, wie auch Identifikation mit verschiedenen gesellschaftlichen Einflußgrößen in besagten Stufen mit dem Abschluß der Adoleszenz einer zentralen Identität zu integrieren (Erikson, 1974). Während der Adoleszenz bilde sich endgültig die dominante positive Ich- Identität (Erikson, 1976). Diesem Identitäts- Begriff, den man wohl als klassisch bezeichnen darf, da er auf Einheit, also auf eine ' wahre' Identität abzielt, stehen neuere Auffassungen von Identität als Selbstkonzepte entgegen. Diese Selbstkonzepte formieren sich nicht zu einem stabilen Ganzen, sondern jedes für sich entwickelt sich im Zusammenhang mit den anderen über das gesamte Leben hinweg. Statt einer Identität bildet sich eine Art ' Patchwork' (Döring, 1998), das wir sowohl bei dem noch folgenden ' working self- concept' als auch bei Kenneth Gergens Identitätskonzept als Konstruktion thematisieren werden.

    Ist heute die Rede von einem multiplen Selbst, neigt man also dazu, das Phänomen der Multiplizität aus einem anderen Blickwinkel als dem potentiell pathologischer Entwicklungen zu betrachten. Sherry Turkle spricht von einem multiplen Selbst, das nicht auf einem Verbund voll entwickelter Persönlichkeiten beruht, sondern die Aspekthaftigkeit propagiert, dessen Teilbereiche miteinander kommunizieren (Turkle, 1995).

    "The essence of this self is not unitary, nor are its parts stable entities. It is easy to cycle through its aspects and these are themselves changing through constant communication with each other" (Turkle, 1995, S. 261).

    Das Selbst ist also in diesem Sinne flexibel und gleichsam ein Ganzes, da die Übergänge von einem Aspekt zum anderen fließend sind (Turkle, 1995). Darüber, wie ein multiples Selbst aufgebaut ist und funktioniert, gibt es unterschiedliche Theorien. Donna Haraway versucht der multiplen Identität durch ein ' wissendes Selbst' näher zu kommen, das in allen Teilaspekten der Identität immer anteilhaft vorhanden ist und durch das Subjekt erst lebensfähig wird:

    "The knowing self is partial in all its guises, never finished, whole, simply there and original; it is always constructed and stiched together imperfectly; and therefore able to join with another, to see together without claiming to be another" (Haraway, 1991, S.22).

    2.4.1.2 Identität als Konstruktion

    G.H. Mead, der Wegbreiter des symbolischen Interaktionismus, unterscheidet zwischen ' I' , ' Me' und ' The Generalized Other' . Das Me' sieht er als individuelle Spiegelung gesellschaftlichen Handelnd, während das ' I' die Reaktion des Subjekts auf gesellschaftliche Inhalte verkörpert (Mead, 1973). Als ' Me' ist sich der Mensch seiner Objekthaftigkeit bewußt und antizipiert die auf ihn bezogenen Verhaltensweisen anderer, indem er deren Rolle übernimmt und auf diese Weise eine Außenperspektive zu seiner Person bezieht. Cooley nennt dieses Selbstbild, das aus der Reflexion im Spiegel des anderen entsteht, "looking- glass self" (Cooley, 1902, nach Oerter & Montada 1987, S. 296). Im Unterschied zu Mead fokussiert Cooley die subjektive Seite der Identität. Meads ' Me' geht darüber hinaus.

    Im Hinblick auf das Eingebundensein des Einzelnen in unterschiedliche funktionale Einheiten, wie z.B. bestimmte Schulen, Arbeitsplätze oder Freizeitsituationen, wird der Mensch genauso viele unterschiedliche ' Mes' entwickeln wie nötig, um der jeweiligen Situation gerecht werden zu können. Das ' I' dagegen versorgt den Menschen mit dem Gefühl von Freiheit und Initiative. Es zeigt sich anhand transzendenten Handelns, das auf typisiertes Verhalten Einfluß nimmt. Von der Gesellschaft abweichende Haltungen können demnach nur aus der Funktion des ' I' resultieren. Das ' Me' ist dagegen eine Zensurinstanz. Es legt die Art der Äußerungen in Abhängigkeit vom Kontext fest und ist somit in gewisser Weise vergleichbar mit Freuds ' Ich' . Da das ' Me' das ' I' immer wieder vereinnahmt, um eine Verbindung zwischen dem Selbst und der Situation herzustellen, wird das ' I' als ein Teil des ' Me' verstanden.

    Um sich nicht in den vielen ' Me' - Inhalten zu verirren, bildet das Individuum aus allen Einzelteilen ein kohärentes Ganzes - ' The Generalized Other' - um die gesammelten Interaktionserfahrungen in ein Subjekt zu überführen. Hier wird deutlich, daß das Selbst nicht aus einer passiven Übernahme von Rollen etc. heraus entsteht, sondern aktive Integrationsleistungen erbringen muß. Es wird also durch die Fähigkeit des Menschen zur Selbstreflexion und Eingliederung von neuen Inhalten in die eigene Person konstruiert.

    Gergen geht von einem Modell des Menschen als soziale Konstruktion aus. Sein Handeln ist stark mit gesellschaftlichen Entwicklungen verwoben. Dabei wird auch das Selbst nicht mehr als etwas substanzielles, sondern als gesellschaftliche Konstruktion und somit als etwas relatives betrachtet. Der von Gergen geprägte Begriff der "sozialen Sättigung" (Gergen, 1990, S. 194) beschreibt einen Prozeß, der durch eine zunehmende Konfrontation der Menschen miteinander gekennzeichnet ist und dazu führt, daß der Einzelne mit den Perspektiven derjenigen, auf die er trifft, besetzt wird. Damit ist gemeint, daß man durch zunehmenden sozialen Kontakt nicht nur andere Lebenshaltungen und -formen kennenlernt, sondern darüber hinaus in die Lage versetzt wird, "die Welt mit ihren Augen zu sehen" (Gergen, 1990; S. 195), und sich auf diese Weise das Gesehene gleichsam aneignen zu können. (Gergen, 1990). Für Gergen ergibt sich daraus auch die Möglichkeit, ein Mehr an verfügbaren Standards für den Selbstvergleich in Anspruch nehmen zu können und somit verstärkte Selbstreflexion zu betreiben. Mit dem Mehr an unterschiedlichen Meinungen, die man in sich vereint, geht eine Entfernung vom Wahrheitsbegriff als objektiver Repräsentation einher. Je mehr Aspekte der Einzelne in sich aufnimmt und ihnen eine Gültigkeit zuschreibt, desto deutlicher ist die Idee von einer objektiven Wahrheit für ihn nicht aufrechtzuerhalten. So wird die Wahrheit zu einer Frage des momentanen Standpunktes (Gergen, 1990). Aus diesen Überlegungen heraus stellt Gergen Authentizität, Handeln und auch Identität in Frage. An Bedeutung gewinnt jetzt das, was die ' soziale Sättigung' bietet, nämlich ein größeres Repertoire an Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen man sich in Beziehung setzen kann.

    "As the modernist confronts the challenge of social saturation, he or she is continuously ripped from the security of an essential or unified self" (Gergen 1991a, nach Bühler- Illieva, 1997, S.25).

    Diese, von Gergen als "Strategische Manipulation" bezeichnete Entwicklungsstufe, die die Selbstkonstruktion erfährt, kennzeichnet auch den ersten Schritt von der Moderne zur sogenannten Postmoderne, also weg von dem Glauben an das Elementare und der Idee einer objektiven Wahrheit, und hin zur Perspektivität und Relativität (vgl. Gergen, 1991b).

    Das zweite Stadium, das die Selbstkonstruktion erfährt, begründet sich in der von Gergen als solche bezeichneten "Pastiche - Persönlichkeit" (vgl. Gergen, 1991b).

    Sie zeichnet sich dadurch aus, daß alle Aspekte des Selbst potentiell in Erscheinung treten können. Damit wird, in gewisser Weise, auch die Unbeständigkeit der Identität angesprochen wird. Welches Selbstkonzept dann de facto ausgespielt wird, steht im Zusammenhang mit dem jeweiligen sozialen Kontext.

    " (...) constantly borrowing bits and pieces of identity from whatever sources are available and constructing them as useful or desirable in a given situation" (Gergen 1991a, nach Bühler- Illieva, 1997, S.25).

    Im dritten Stadium tritt an die Stelle eines festumrissenen Selbst das Selbst als Prozeß. Gergen nennt es "mutables" - wandlungsfähiges - Selbst (Gergen, 1991b). Das Selbst wird mit einem bestimmenden Kernstück hinter sich gelassen und der Mensch kann sich in den unterschiedlichen Situationen, mit denen es konfrontiert wird, ausprobieren.

    "As social relationships become opportunities for enactment, the boundary between the real and the presented self - between substance and style - is erased" (Gergen 1991b, S.155).

    Aus diesen drei Stadien resultiert das relative Selbst.

    "As the self as a serious reality is laid to rest and the self is constructed and reconstructed in multiple contexts, one enters finally in the stage of the relational self. One's sense of individual autonomy gives way to a reality of immersed interdependence, in which it is relationship that constructs the self" (Gergen 1991b, S.147).

    2.4.1.3. Das ' Working Self- Concept'

    Gemeinsam ist der Psychologie und Soziologie heute, das Selbst oder die Identität als mutlidimensional aufzufassen. Damit wird der Verweis auf ein Selbst hinfällig. Ein interessantes Selbstkonzept ist noch zu erwähnen: das ' working self- concept' (Schlenker 1985, Cantor & Kihlstrom 1986, Markus & Nurius 1986, Rhodewalt 1986, Rhodewalt & Agustsdottier 1986; alle nach Markus & Wurf 1986). Es besagt, daß nicht alle Teilrepräsentationen des Selbst oder der Identität zu einem Zeitpunkt für das Subjekt erreichbar sind. Je nach Situation wird ein aktuelles Selbst aus der eigenen sozialen Erfahrung konstruiert. Dieser Ansatz berücksichtigt ein Selbst, das gleichzeitig stabil und formbar ist. Kernaspekte des Selbst - die individuellen Selbst- Schemata - können relativ unempfänglich gegenüber Veränderungen sozialer Umstände sein. Viele andere Aspekte des Selbst dagegen können in ihrer Zugänglichkeit variieren, was vom individuellen motivationalen Zustand und den vorherrschenden sozialen Bedingungen abhängt. Das ' working self' besteht folglich aus einem Kernstück von Selbstkonzepten und ist eingebettet in eher periphere Selbstkonzepte, die an die vorherrschenden Umstände angebunden sind. Ein Versuch von Fazio et al., bei dem ein Teil der Probanden einen Fragebogen über Extraversion und ein anderer Teil einen über Introversion ausfüllen sollten, ließ nachhaltig auf die Formbarkeit des Selbst schließen. Die Probanden des Extraversionsfragebogen hielten sich für extravertierter, während die anderen sich als eher introvertiert bezeichneten (Fazio et al., 1981, nach Markus & Wurf, 1986). Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß die Ursache der Antworttendenzen dadurch zustande kommt, daß der Mensch sowohl das Konzept der Introversion als auch das der Extraversion in sich trägt, so daß es lediglich auf die Abrufung ankommt (Fazio et al 1981, nach Markus &Wurf 1986). Allerdings ist diese Formbarkeit von einer dauerhaften Veränderung zu unterscheiden, denn letztere ergibt sich erst dann, wenn z.B. neue Selbstkonzepte dem bereits existierenden Set hinzugefügt werden oder wenn sich die Beziehung unter den einzelnen Selbstkomponenten ändert. Am Ende kann man festhalten:

    "At any one time, only some subset of these various representations is accessed and invoked to regulate or accompany the individual´s behaviour. The important remaining task is systematically to implicate these diverse representations of the self and the various organizations they can assume in the regulation of behaviour; and conversely, to delineate how actions in turn influence these various self- representations" (Markus & Wurf, 1986, S. 307).

    2.4.1.4. Selbstmanagement

    Die Einschätzungen des Selbst ist, wie wir gesehen haben, mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Einfacher ist es vielleicht, sich beim Selbstmanagement zu orientieren, wie Erving Goffman es mit seinen ’ Techniken der Imagepflege' vorschlägt. Dabei geht es ihm nicht um die Authentizität des Selbst, sondern vielmehr um die Erzeugung eines solchen Eindrucks.

    Seine Theorie über die Selbstdarstellung im Rahmen verschiedener sozialer Interaktionsprozesse eignet sich gut, um Selbstdarstellungsprozessen auf medialer Ebene näher zu kommen. Goffman hat seine Theorie von der Dramaturgie abgeleitet. Darstellung ist für ihn "die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation, (...) die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen" (Goffman,1969, S.18).

    Um bei einem Menschen gezielt Reaktionen hervorrufen zu können, muß man Informationen über ihn einholen, die dabei behilflich sind, die Situation richtig zu interpretieren. Um gezielt Eindrücke von sich an andere zu vermitteln, kommen zwei Ausdrucksarten ins Spiel: der Ausdruck, den man sich selbst gibt und der Ausdruck, den man ausstrahlt. Ersteres bedeutet Kommunikation im traditionellen Sinn. Dabei geht es um Informationen, die auf Basis von Wortsymbolen und ihrer Substitute vermittelt werden und die sowohl der ' Sender' als auch die ' Empfänger' mit diesen Symbolen verbinden. Letzteres umfaßt Handlungen, "die von den anderen als aufschlußreich für den Handelnden aufgefaßt werden, soweit sie voraussetzen können, daß diese Handlungen aus anderen Gründen als denen der Information unternommen wurden." (Goffman 1969, S.6). Allerdings räumt Goffman ein, daß der Sender mit beiden Kommunikationstypen auch Fehlinformationen einleiten kann - z.B. durch Täuschung oder Verstellung.

    Sozial positiv bewertete Eigenschaften, die sowohl in einer bestimmten Gestaltungsweise unserer Umgebung als auch in unserer Erscheinung und in unserem Verhalten Eingang finden, nennt Goffman Fassade. Die Fassade ist ein inszeniertes Bild unseres Selbst, auf das sich die Interaktionspartner beziehen, wenn sie Vermutungen bezüglich bestimmter Einstellungen oder Absichten anstellen. Doch auch für den Darsteller ist die Fassade von großer Bedeutung, denn sie legt die Regeln der Interaktion fest. Mißlingt ihm die Aufführung, kann eine Erschütterung des Glaubens an die Vorhersagbarkeit und Ordnung seiner sozialen Beziehungen eintreten.

    Wird eine Darstellung den Erwartungen der Gesellschaft angepaßt, vor der sie stattfindet, handelt es sich nach Goffman um eine idealisierte Darstellung. Der Darsteller ist stärker als sonst bemüht, offiziell anerkannte Werte zu verkörpern. Um diese Rolle glaubwürdig zu gestalten, müssen widersprüchliche Ausdrucksweisen vermieden werden. Natürlich können auch negative Idealisierungen entworfen werden, wenn es darum geht, einen Vorteil daraus zu schlagen.

    Ein weiterer interessanter Punkt an Goffmans Ausarbeitungen ist "der Glaube an die eigene Rolle" (Goffman 1969, S.19). Dabei differenziert er mit der ' aufrichtigen' und der ’ zynischen' zwei Darstellungsweisen. Erstere besagt, daß der Darsteller glaubt, sein inszeniertes Bild sei ' wirkliche' Realität, letztere verweist auf eine Situation, in der der Darsteller weder von seiner Rolle überzeugt ist, noch sein Publikum davon überzeugen möchte (Goffman, 1969).

    Mit dem Begriff ' Image' bringt Goffman ein Selbstbild ins Spiel, das sozial anerkannte Eigenschaften beinhaltet und von anderen übernommen werden kann. Aus ihm leitet er die Doppelrolle des Selbst ab. Daraus ergibt sich zum einen das Selbst als Image, "das aus den expressiven Implikationen des gesamten Ereignislaufs einer Interaktion zusammengesetzt ist" und zum anderen das Selbst "als eine Art Spieler in einem rituellen Spiel, der sich ehrenhaft oder unehrenhaft, diplomatisch oder undiplomatisch mit der Situation auseinandersetzt, in der ein Urteil über ihn gefällt wird". (Goffman, 1986, S.38) Das Selbst als Image nimmt dabei mehr die Position eines Objekts ein und wird sowohl durch den Spieler als auch durch das Publikum und dessen Erwartungen und Beurteilungen geprägt. Das Selbst als Spieler versucht sein Image so einzusetzen, wie es ihm angemessen erscheint.

    2.4.2. Identität, Selbst und Selbstdarstellung in computervermittelter Kommunikation

    Im allgemeinen ist das Selbst Ausdruck dafür, daß das erlebende Subjekt sich seiner selbst bewußt ist (vgl. Dorsch, 1996). Als Selbstkonzept bezeichnen wir dagegen das Bild, das ein Mensch von sich hat. In diesem Bild verdichtet sich das Wissen über die eigenen Eigenschaften, Fähigkeiten, Erfahrungen usf.

    Wie aus dem ' working self- concept' hervorgeht, besteht das Selbst aus einem Set von Kernaspekten, die sorgfältiger ausgearbeitet sind und somit den eher peripheren Selbstkonzepten übergeordnet sind. Die Kernaspekte des Selbst stehen in engem Zusammenhang mit zentralen Lebenszielen und Fragen nach Sinn und Bedeutung. Sie können als Kriterien der Identität einer Person bezeichnet werden. Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, das Bezugssystem der eigenen Identität immer wieder neu zu bestätigen und zu erweitern. Wenn das - aus welchen Gründen auch immer - nicht geschieht oder die Umwelt vorwiegend redundant erscheint, kann es passieren, daß wir unser Gefühl von Identität langsam verlieren. Der Mensch neigt also nicht nur dazu, sich Erlebnisse zu verschaffen, die ihm neue Inhalte vermitteln, diese sind darüber hinaus auch unabdingbare Voraussetzung für die Identitätsbildung.

    Giddens beschreibt die Identität auf der Basis kommunikativer Interaktion als Herstellungsleistung. Identitätsgehalte und -strukturen entstehen demnach aus der aktiven Teilnahme am sozialen Leben und deren Verarbeitung. Zur Lebensorientierung tritt außerdem die Aneignung von Medieninhalten oder nicht unmittelbarer Bedeutungsquellen hinzu (Giddens, 1991).

    Das IRC stellt einen Rahmen für solche Erlebnisse oder Aneignungen bereit. Für Menschen, die in FTF- Situationen eher introvertiert sind oder sich im Sinne Goffmans allzu sehr vor einem Fassadenverlust fürchten, bietet das IRC effektivere Selbstdarstellungsmöglichkeiten, wodurch die Wahrscheinlichkeit positiven Feedbacks steigt. Die Anonymität ermöglicht jedem Anwender die Annahme beliebiger Rollen, die je nach Bedürfnislage nah oder fern zu den Kernaspekten des Selbst stehen. Wenn wir, wie in Goffmans dramaturgischem Modell vorgeschlagen wird, alle Schauspieler sind und bestimmte Rollen in Szene zu setzen versuchen, dann eignet sich IRC sich als Bühne für das Einstudieren solcher Rollen besonders gut, da immer auch ein Publikum vor Ort ist, das die Darstellung beurteilen kann: "Eine solche Verschiebung der Grenzen zwischen der Rolle und dem eigenen Ich liefert neue Möglichkeiten, die Rolle für die Arbeit am eigenen Ich zu nutzen" (Turkle, 1996a, S.321).

    Amy Bruckman und Sherry Turkle entdeckten Ähnlichkeiten zwischen traditionellen Rollenspielen und dem Rollenspiel in MUDs6 . Der Begriff ' Identity Workshops' , Identitätswerkstätten, soll dabei im Sinne der zeitgenössischen Psychoanalyse, die das dezentrierte Subjekt betont, auf die Konstruktion, De- und Rekonstruktion der Identität verweisen. Wesentliche Eigenschaften der MUDs als Identitiy Workshop und somit als Kontext für solche Konstruktionen sind:

    1. die Möglichkeit, unterschiedliche Rollen anzunehmen und dabei mit den verschiedenen Aspekten des eigenen Ichs zu experimentieren, sie zu durchleben und zu verarbeiten,
    2. das fortlaufende Spiel,
    3. die Anonymität,
    4. der unsichtbare Körper und
    5. die Möglichkeit nicht nur einer, sondern viele zu sein.

    Ein Ergebnis der Forschungen von Bruckman und Turkle ist, daß die Spieler im sozialen Kontext der MUDs auch ihr eigenes Wesen und ihre Fähigkeiten reflektieren können. Aspekte des Ichs können so ausgespielt werden, daß sie in der Spielsituation als eigenständiges Ich in Erscheinung treten können und unter Umständen auf diese Weise vervollständigt werden. Hier liegt für Turkle der Vergleich zwischen MUDs als Mittel zur Projektion von bewußten und unbewußten Ich- Aspekten und der psychotherapeutischen Umgebung nahe, in der ebenso versucht wird, eine vertraute Atmosphäre aufzubauen, um Probleme zu bearbeiten. Auf diese Weise gelangt Turkle schließlich zur These, "MUDs als mögliche Ausgangsbasis für die persönliche Entwicklung zu betrachten" (Turkle 1996a, S. 324).

    Im Unterschied zu MUDs, in denen die Nutzer neue Welten mit verschiedenen Gegenständen aufbauen, Rätsel lösen, einen Charakter, oft auch Phantasiewesen, ausgestaltend beschreiben und den anderen Teilnehmern mitteilen, was diese Figur in der speziellen MUD- Welt erreichen will, ist IRC weit weniger eine Spiellandschaft als vielmehr ein Kommunikationsraum ohne derartige Vorgaben. Es werden also keine Spielcharaktere im eigentlichen Sinne aufgebaut. Vielmehr obliegt es dem jeweiligen Anwender, ob er eine Rolle einnehmen möchte oder nicht. Folgt man den Erhebungen von Bruckman und Turkle, dann hat IRC somit weniger mit traditionellen Rollenspielen zu tun und stellt auch kein zeitlich kohärentes Spiel dar. Wie IRC- Anwender im Rahmen des IRC- Kommunikationsforums mit Identität und Selbstdarstellung umgehen, stellen wir in unserer Auswertung dar.