4. DARSTELLUNG DER EMPIRISCHEN ERGEBNISSE

4.1. Einführung

Der eigentlichen Darstellung unserer Ergebnisse möchten wir eine kurze Vorstellung unserer Gesprächspartner, der Gesprächssituation und eine kurze deskriptive Zusammenfassung der jeweiligen Interviews vorausschicken. So können im Rahmen der Bedeutungskategorien die Aussagen, die in den Daten der einzelnen Interviewpartner verankert sind, besser verstanden und nachvollzogen werden. Wir stellen die Gesprächspartner in der Reihenfolge vor, in der die Interviews geführt wurden. Alle Namen sind durch Pseudonyme ersetzt, ebenso wie wir zur vollständigen Gewährleistung der Anonymität Nicknamen oder Channels, in denen sich unsere Interviewpartner häufig aufhalten, unkenntlich gemacht haben.

In unserem Auswertungsteil finden sich Zitate aus den Interviews, die durch doppelte Anführungszeichen kenntlich gemacht sind. Längere Gesprächsausschnitte haben wir in unserer Darstellung vom Rest des Textes abgesetzt und durch einen geringeren Zeilenabstand gekennzeichnet. Innerhalb der Zitate sind Einfügungen in eckige Klammern gesetzt, die wir entweder zur Erklärung, zur besseren Verständlichkeit des Zitats oder zur grammatikalisch korrekten Angleichung an den Textfluß vorgenommen haben. Nach jedem Interviewausschnitt findet sich in Klammern die nach Abschnitten durchnumerierte Stelle im Interview, von der das Zitat stammt. Ein vor diesen Zitaten stehendes „A:" symbolisiert die Antwort unserer Interviewpartner, ein „F:" steht für die Fragenstellende. Innerhalb der Interviews haben wir folgende nonverbale Gesprächsinhalte transkribiert:

Pause????...

starke Betonung???Unterstreichungen

nonverbale Äußerung??(lacht)

4.1.1. Linda

4.1.1.1. Zur Person der Gesprächspartnerin

Linda ist 22 Jahre und studiert Geschichte und Politik. Sie ist ledig, hat aber seit anderthalb Jahren einen festen Freund, mit dem sie sehr glücklich ist. Pro Monat hat sie 1600 DM zur Verfügung. Computernutzerin ist Linda seit Beginn ihres Studiums, also seit etwa zweieinhalb Jahren, kurze Zeit später begann sie mit ihrer Internettätigkeit. Seitdem chattet sie circa jeden zweiten Tag für durchschnittlich drei Stunden. Linda wohnt in einer Zweier- Wohngemeinschaft, die sie jedoch als Zweck- WG bezeichnet. Ihr Computer befindet sich auf dem Schreibtisch ihres Zimmers. Die Wohnung ist etwas dunkel, hübsch eingerichtet und sehr ordentlich. Linda macht den Eindruck einer sehr korrekten, etwas förmlichen, und durch Kichern manchmal etwas unsicher wirkenden Person. Im Gespräch erweist sie sich dann aber als offen und auskunftsfreudig. Viele von Lindas IRC- Handlungen hätte die Interviewerin - ihrer ersten Einschätzung nach - bei ihr gar nicht erwartet.

4.1.1.2. Interviewsituation- und dynamik

Das Interview wird in der Küche von Lindas Wohngemeinschaft geführt. Die Mitbewohnerin ist nicht zu hause und stellt daher keinen potentiellen Störfaktor dar. Vor Beginn des Gespräches bereitet die Linda Tee. Durch eine kurze Plauderphase über eher belanglose Themen kommt man sich näher, obwohl Linda anfangs eine leicht distanziert- förmliche Haltung an den Tag legt. Nach Klärung der Datenschutzfrage wird mit dem Gespräch begonnen. Das Interview wird in Sie- Form geführt, was gerade bei einem Internet- Kontext etwas ungewöhnlich ist. Allerdings ist Linda diejenige, die mit dieser Anrede bereits innerhalb der Antwort auf unsere Newsgroup- Annonce, und später dann beim Telefongespräch den Anfang macht, von daher hat die Interviewerin sich dieser Form angepaßt. Als mögliche Erklärung für diese Art der Anrede könnte gelten, daß Linda vielleicht eine Interviewsituation als besonders offiziell oder förmlich einstuft. Vom Verlauf her ist das Gespräch sehr flüssig und frei von Mißverständnissen, auch wenn die Aussagen der Gesprächspartnerin nicht immer sofort nachvollzogen werden können. Dies gelingt aber durch Nachfragen, Linda gibt sich Mühe, ihre Aussagen über IRC- Handeln nachvollziehbar und verständlich zu machen. In Momenten, in denen es um ihr eigenes, möglicherweise als seltsam oder ungewöhnlich eingestuftes Handeln geht, kichert sie meistens, vielleicht, um Unsicherheit zu überspielen. Insgesamt scheint Linda bei diesem Gespräch guter Laune zu sein, denn sie wirkt vergnügt und aufgeschlossen. Die Interviewdynamik und das Verhältnis zwischen Fragender und befragter Person ist sehr gut, gegenseitige Sympathie ist deutlich vorhanden. Die Dauer des Interviews beträgt zwei Stunden und zehn Minuten. Nach dem Gespräch bereitet Linda noch einen Kaffee, und im anschließenden kurzen Gespräch zeigt sie sich neugierig, wie mit den im Interview gewonnenen Daten weiter verfahren wird. Sie ist am Verlauf der Arbeit interessiert und möchte das Ergebnis gerne sehen, da sie auch am Thema Gefallen und Interesse findet.

4.1.1.3. Kurze Zusammenfassung von Lindas Interview

Mit IRC hat Linda ein jederzeit verfügbares Medium gefunden, in dem sie aktiv und gestaltend kommunizieren kann. Im Gegensatz dazu steht das Fernsehen, da Linda dort nur passive Rezipientin ist und das Medium ihren eigenen Vorstellungen nicht im selben Maße wie IRC anpassen kann. Linda sucht im IRC nach Neuem und Überraschendem, nach Spaß und Unterhaltung. An langfristigen Kontakten oder Gemeinschaften im IRC ist Linda nicht interessiert. Dennoch integriert sie sich manchmal kurzfristig in eine Gruppe, um dort teilhaben und mitmischen zu können, aber auch zur Beobachtung von Gruppenprozessen. Linda hat keinen Stammkanal, sondern nutzt die Vielfalt der IRC- Channels, wobei sie bei ihrer Auswahl unter anderem auf Dynamik achtet. In Einzelchats möchte Linda sich von herkömmlichen Konversationsformen entfernen und Informationen, die ihre außermediale Wirklichkeit wie z.B. Alter und Aussehen betreffen, außen vor lassen. Vielmehr erwartet sie von einem Idealkommunikationspartner die Fähigkeit, sich auf sie einzulassen und auf einer anderen Ebene zu kommunizieren. Linda legt Wert auf kreativen Umgang mit Sprache als einzigem Ausdrucksmedium des IRC. In ihrem Sinne zu chatten bedeutet, eine eigene „kommunikative Fähigkeit" aufzuweisen. Bei Auswahl sowohl der Channels als auch der Gesprächspartner selektiert sie von vielen geöffneten Fenstern, also Optionen, die ihr genehmsten heraus. Linda verändert oft ihre Identität, indem sie andere Rollen, z.B. die einer Frau mit ganz anderem Charakter oder die eines Mannes annimmt und sich mit dieser Identität durch die Welt des IRC bewegt. So ist sie losgelöst von gewohnheitsmäßiger Rezeption. Im Zusammenspiel mit der Annahme mehrerer Rollen kann es geschehen, daß Linda in einen Zustand gerät, in dem sie das Gefühl zeitlicher und physischer Begrenzung verliert und von der IRC- Welt „verschlungen" wird. Mit dem Medium gewinnt Linda direkten Einblick in unvertraute Denk- und Umgangsformen anderer Leute, so daß sie einen Erfahrungs- und Wissenszuwachs verbuchen kann.

4.1.2. Robin

4.1.2.1. Zur Person des Gesprächspartners

Robin ist 25 Jahre alt, ledig und studiert Werkstoffwissenschaften. Sein monatliches Einkommen beträgt 2500 DM. Robin macht einen äußerst kontaktfreudigen Eindruck, ist aufgeschlossen und an dem Interviewthema sehr interessiert. Sein Computer und somit der Internetanschluß befindet sich im Wohnzimmer seiner 2- Zimmerwohnung. Robin ist seit 15 Jahren Computeranwender. Vor 4 Jahren begann er, sich mit dem Internet zu beschäftigen, was ihn auch recht schnell zum IRC- Benutzer hat werden lassen. Seine durchschnittliche Zeit online pro Woche beträgt ca. 20 Stunden, wovon 10 Stunden auf das Chatten im IRC fallen.

4.1.2.2. Interviewsituation und -dynamik

Robin hat Kuchen besorgt und Kaffee vorbereitet, so daß von vornherein eine sehr gemütliche Atmosphäre herrscht. Man unterhält sich ein wenig, um sich näherzu kommen, ehe nach Besprechung der datenschutzrechtlichen Fragen das Tonbandgerät angeschaltet wird. Auf die zu Beginn gestellte offene Frage, was ihm alles zum IRC einfalle, fängt Robin an, ' brainstorm' - artig vom IRC zu berichten. Das Interview verläuft sehr flüssig, da Robin ohne Nachfragen Themenbereiche weit ausgestaltet und auch bei brisanteren Themen, wie z.B. Cybersex sehr auskunftsfreudig ist. Das Interviewerin- Partner- Verhältnis ist über den gesamten Verlauf hinweg als gut zu bezeichnen, da es keine Verständigungsschwierigkeiten gab. Insgesamt haben wir uns fast 4 Stunden unterhalten, wovon 2 Stunden 30 Minuten aufgezeichnet wurden.

4.1.2.3. Kurze Zusammenfassung von Robins Interview

Robins Interesse im IRC ist auf soziale Handhabung fokussiert. Er nutzt das Medium zur Knüpfung, Pflege und Vertiefung von Bekanntschaften. Es ist für ihn ein Weg, neue Menschen kennenzulernen. Bei seinen Chats bevorzugt er ernsthafte, persönliche, tiefgehende Gespräche, es kommt aber auch oft zum einfachen „Plausch" mit den Bekannten. Im IRC kann er sein Kommunikationsbedürfnis befriedigen. Robin hat zwei Stammkanäle Auf dem einen trifft er all seine IRC- Bekannten und kann dort mit ihnen kommunizieren. Dabei wählt er meist die Form des Privatchats, in der die angestrebte persönliche Unterhaltung besser möglich ist. Deshalb kennt er auch die meisten Anwender seiner Channelclique. Dies vermindert das Gefühl von Anonymität und läßt Robin sich dort heimisch fühlen. Robin rechnet mit Unterstützung, Trost, aber auch Ablenkung durch seine Channelgemeinschaft im Falle tragischer Ereignisse. Im Stammchannel herrschen bestimmte Umgangsformen, wie z.B. sich gegenseitig immer zu begrüßen und kurz ein paar Worte zu wechseln. Die computervermittelte Kommunikationsform bewirkt, daß er in den Chats unverklemmter und legerer ist, da sein Gesprächspartner ihm nicht direkt gegenüber sitzt. Allerdings mißfällt ihm das Fehlen visueller Wahrnehmungskomponenten, so daß er bei neuen Bekanntschaften den Austausch von gescannten Photographien anstrebt. Im IRC kommt Robin in Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen, mit denen er außermedial keine Bekanntschaft gemacht hätte. Im Chat kann er sich mit ihnen auseinandersetzen und sie kennenlernen. Das hilft Robin, eigene Klischees abzubauen. Mit manchen Nutzern hat sich Robin auch bereits persönlich getroffen. Diese Freundschaften unterscheiden sich von anders generierten dahingehend, daß ersteren ein langer und intensiver Austausch im IRC vorausgeht. Aufgrund dieser recht weitgehenden Einschätzung hat Robin bei Real- Life- Treffen bislang keine Enttäuschungen erlebt. Sich im IRC aufzuhalten ist für Robin „Fun", diese Tätigkeit macht ihm Spaß. Um den Spaß zu sichern ist Robin ein Befürworter der Netiquette. Identitätsänderungen, Flaming und das häufige Wechseln der Channels lehnt er ab. Bei der Durchsetzung dieser Vorstellungen ist auch seine Stellung als Channel- Operator, die er in einem seiner einen Stammchannels inne hat, hilfreich, da er so unerwünschtes Verhalten sanktionieren kann. Nur beim Cybersex entfernt Robin sich von seinem sonst eher an außermedialen Kommunikationssituationen orientierten IRC- Stil, denn Cybersex bedeutet für ihn die Kreation von Illusionen, innerhalb derer sich sexuelle Phantasien ausleben und neue Bereiche der Sexualität gefahrlos ausprobieren lassen.

4.1.3. Tom

4.1.3.1. Zur Person des Gesprächspartners

Tom ist 26 Jahre alt, ledig und studiert Digitale Medien. Er wird seitens seiner Eltern mit einem festen Einkommen von 1700 DM monatlich unterstützt. Trotz anfänglicher Nervosität macht Tom einen netten und offenen Eindruck. Mit der Computernutzung begann er vor 14 Jahren, IRC hat er vor circa 6,5 Jahren für sich entdeckt. Seitdem versucht er, sich einen technisch immer besser ausgefeilten, permanenten Zugang zum Netz zu verschaffen, um sich mit dem Medium umgeben zu können. In seiner großzügigen 2- Zimmer- Wohnung findet man überall unbenutzte ältere Computerterminals, zu denen er ein schwärmerisches Verhältnis zu pflegen scheint. Mit Begeisterung äußert er ästhetische Urteile über diese ' Oldtimer' . Im von ihm als solchen bezeichneten Rechnerraum befinden sich mehrere angeschlossene und laufende Computer, die über mehrere Modems mit dem Netz verbunden sind. Weitere vernetzte Computer befinden sich in seinem Hochbett und im Badezimmer, letzterer ist von der Toilette aus bedienbar. Seine Internetnutzung beläuft sich, nach eigenen Angaben, auf durchschnittlich 21 Stunden pro Woche, wovon er IRC circa 1,5 Stunden täglich anwendet. Im Flur hängt eine gerahmte Urkunde des Jugendforscherpreises, die er für die Entwicklung von ' Busplatinen' erhalten hat, was schon auf sein frühzeitiges Interesse an Computertechnik verweist. Die Wohnung befindet sich in einem eher unordentlichen Zustand, es liegen überall Zeitschriften und benutztes Geschirr herum. Von seinem Hochbett hängt unterschiedliches sado- masochistisches Inventar herab wie Strick und Ketten. Diese Auffälligkeit findet hier Erwähnung, weil Tom die Bekennung zum Sado- Masochismus im Verlauf des Interviews thematisiert.

4.1.3.2. Interviewsituation und -dynamik

Vor Beginn des Interviews erfolgt eine Wohnungsbesichtigung. Auf dem Bildschirm des Computers im Badezimmer steht ein kurzer Kommentar zur bald eintreffenden „Psychotante von der FU, die nicht an eine IRC- Sucht glaubt". Tom hatte sich offensichtlich kurz vor dem Interview mit einem Chatpartner darüber unterhalten. Das Mißverständnis bezüglich Glauben oder nicht Glauben an eine IRC- Sucht konnte dann vor Interviewbeginn noch geklärt werden, insofern, daß es beim Interview nicht darum ginge, häufige IRC- Anwendung von vornherein als pathologisches Problem zu betrachten, sondern sich auf das zu stützen, was Tom zu sagen habe.

Das Interview wird nach Aufklärung datenschutzrechtlicher Fragen bei Tee und Schokolade auf dem Balkon durchgeführt. Tom ist an dem Thema sehr interessiert und erzählt - nach anfänglichen Schwierigkeiten, auf die offene Frage einen Start zu finden - recht aufgeschlossen über seine IRC Tätigkeit. Tom ist sehr an technischen Themen interessiert. Obgleich spezifische Aussagen zu Technik für unser Interesse keine Relevanz hatten, wurde diese Thematik immer wieder aufgegriffen, um den Interviewfluß und das gute Interviewerin- Partner- Verhältnis aufrechtzuerhalten. Das Gespräch verlief ohne besondere Verständigungsschwierigkeiten recht flüssig. Tom spricht sehr schnell und erzählt oft lange Zeit ohne Unterbrechung, was darauf hindeutet, daß er auch ohne ' Nachhaken' sehr viel zu dem Thema zu sagen hat. Das Interview dauerte 3 Stunden 5 Minuten an. Danach berichtete Tom noch circa eine Stunde ohne Tonbandaufnahme über das IRC.

4.1.3.3. Kurze Zusammenfassung von Toms Interview

Tom fing bereits vor geraumer Zeit mit IRC an und legte sich zum Zwecke intensiver Chatmöglichkeit bald eine Standleitung zu, deren Installation mit hohen Kosten verbunden ist. In der Phase seiner Pubertät war er ein Einzelgänger und kam mit seiner Umwelt nicht sehr gut zurecht. IRC bot sich ihm - als einem technisch sehr interessierten Menschen - an, um in diese Welt einzutauchen und sich darin immer stärker zu engagieren. Hier gewann er Freunde und durch seine technische Kompetenz Anerkennung, was ihn zu einer selbstbewußten Persönlichkeit machte. Heute ist Tom IRC- Operator, eine Stellung, an die er durch seine großen technischen Fähigkeiten, Engagement und den passenden Idealismus gekommen ist. Seine Position verhilft ihm zu Anerkennung durch andere User, bringt aber auch Vorurteile gegenüber seiner Person ein. Als IRC- Operator ist Tom für den IRC- Server verantwortlich. Diese Aufgabe ist mitunter mit Maßnahmen verbunden, die ihn bei einigen Nutzern als „Schreckgespenst" erscheinen lassen. Nur um sich vorurteilsfrei durch die Welt des IRC bewegen zu können, nimmt Tom hin und wieder andere Identitäten an, sonst lehnt er solches Handeln ab. Seine Netzpersönlichkeit bezeichnet er als mit seiner Real- Life- Identität ' gut korrellierend' . Tom hat sich über das Medium einen großen Freundeskreis aufgebaut, dessen Kernpunkt IRC ist. Er trifft sich mit den anderen Usern, Mitgliedern seiner IRC- Clique, in persönlicher Begegnung sowohl privat als auch auf Channel- Parties. Das hat sich als einfacher und unkomplizierter Weg herausgestellt, andere, aus dem IRC bereits bekannte Nutzer auch FTF kennenzulernen. Umgekehrt lernt Tom Anwender auf Channel- Parties kennen, um dann mit ihnen im IRC den Kontakt zu pflegen und auszubauen. IRC ist für Tom ein Medium der einfachen Kontakterhaltung. Im IRC konnte er als Sado- Masochist auf sexuell Gleichgesinnte treffen. Aufgrund der durch textbasierte Kommunikation nicht vermittelbaren personalen Einschätzungsmöglichkeiten können die Beziehungen bei der Transformation ins außermediale Leben eine Veränderung erfahren. Innerhalb seiner IRC- Clique werden Umgangsformen und ähnliche thematische Interessen wie z.B. Technik geteilt, aber man tauscht neben Small Talk auch klatschartige Informationen über das Channelgeschehen und andere User aus. Durch IRC hat Tom zu sonst massenmedial vermittelten Information einen ungefilterten und wesentlich direkteren Zugang. Tom ist durch seine Standleitung meist den ganzen Tag bis zum Schlafengehen eingeloggt und beteiligt sich am IRC- Geschehen nur bei Interesse. Er chattet heute deutlich weniger als in seiner IRC- Anfangszeit. IRC ist für ihn in jedem Zimmer der Wohnung erreichbar, außerhalb kann er mittles Handy im IRC präsent sein.

4.1.4. Sarah

4.1.4.1. Zur Person der Gesprächspartnerin

Sarah ist 37 Jahre alt und lebt seit ungefähr einem Jahr von ihrem Mann getrennt. Die Folgen dieser Scheidung scheint sie noch nicht ganz überwunden zu haben. Aus dieser Ehe stammt noch ein 7- jähriger Sohn, der bei Sarah lebt. Sie ist halbtags tätig bei einer Firma für Lernsoftware, hat deshalb also beruflich bereits Kontakt mit dem Medium Computer. Über ihr Einkommen macht sie keine Angaben. Sarah nutzt Computer seit ca. 12 Jahren, mit Internettätigkeit allgemein und speziell IRC begann sie vor zwei Jahren, Sarah ist also auf diesem Gebiet kein Neuling. Sarah nutzt IRC fast täglich für etwa zwei Stunden. Ihre sehr geräumige, saubere und moderne Drei- Zimmer- Wohnung wirkt durch herumliegendes Kinderspielzeug sehr belebt. Der Computer befindet sich in ihrem Schlafzimmer, das gleichzeitig als Arbeitszimmer dient. Die Gesprächspartnerin ist offen, freundlich und herzlich, sie reflektiert viele ihrer Handlungen.

4.1.4.2. Interviewsituation- und dynamik

Das Gespräch findet in Sarahs Wohnung statt. Die durch das Kind verursachte Unordnung scheint ihr ein bißchen peinlich zu sein. Das aber macht der Interviewerin nichts aus, so daß von Anfang an ein gutes Verhältnis besteht. Das Interview wird in Sie- Form gehalten, was vermutlich zurückzuführen ist auf den Altersunterschied und die gewohnte Konvention, Menschen, die man nicht kennt, nicht zu duzen. Nach Klärung der Datenschutzthematik scheint Sarah beim offenen Gesprächsbeginn leicht erstaunt über die unstandardisierte Art des Interviews zu sein. Sie hat mit mehr Fragen seitens der Interviewerin gerechnet, kommt dann aber recht schnell in einen Erzählfluß und spricht die unterschiedlichsten Themenbereiche selber an. Sarah scheint es zu genießen, sich über das Thema IRC auslassen zu können. Nur bei etwas privateren Themen wird Sarah ruhiger, zurückhaltender und leicht verschlossen, überwindet sich aber jedesmal und äußert sich zu Persönlichem. Ansonsten hat sie einen eher starken Mitteilungsdrang. Manchmal überstürzt Sarah ihre Erzählung etwas und beginnt vor Beendigung des alten Themas schon mit einem neuen. Das Interview läuft flüssig ab, Sarah hat viel zu sagen und geht willig auf alle Fragen ein. Nur gegen Ende ist Sarah leicht gehetzt. Es ist Sarah, die das Gespräch, das zu diesem Zeitpunkt die eigentlich festgesetzte Zeit von anderthalb Stunden schon überschritten hat, beendigt, da sie ihren Sohn abholen muß. Daher fällt auch ein Nachgespräch verhältnismäßig kurz aus. Die Dauer des Interviews betrug insgesamt eine Stunde und 52 Minuten.

4.1.4.3. Kurze Zusammenfassung von Sarahs Interview

Sarah hat nach ihrer Scheidung begonnen, vermehrt zu chatten. So hat sie eine abwechslungsreiche Beschäftigung und nutzt des weiteren das Medium, um „einen Bekanntenkreis aufzubauen". Denn in ihrem direkten Umfeld gibt es wenige, die sich in einer ähnlichen familiären Situation als alleinstehende Mutter befinden. Mit IRC fand sich für Sarah auch ein Forum, um über ihre Probleme, die vielfach mit ihrer Trennung zusammenhängen, aber auch über sämtliche andere sie betreffende Themen, sprechen zu können. Dieser Austausch findet innerhalb ihrer Stammchannels statt, wobei es sich überwiegend um altersbezogene Kanäle handelt, die Sarah immer wieder besucht. In diesen hat Sarah Menschen gleicher „Wellenlänge" gefunden, mit denen sie sich gut versteht und ihre IRC- Zeit gerne verbringt. Nach und nach hat sich in den Stammchannels eine Art Gemeinschaft entwickelt. Die Anwender kennen sich untereinander und besprechen persönliche Themen, wodurch, so Sarah, die im IRC herrschende Anonymität vermindert wird. Bei den anderen Anwendern handelt es sich nicht nur um Deutsche, sondern Sarah zählt auch internationale Teilnehmer zu ihrem Bekanntenkreis, was sie als positiv erlebt. Die im Stammchannel herrschende Atmosphäre beschreibt sie als freundlich und hilfsbereit, anders als sie den außermedialen Alltag erlebt. Als hilfreich bei der Besprechung von Problemen oder sonstigen persönlichen Themen wird von Sarah die Kommunikation unter Aussparung direkter Begegnung erlebt. So fällt es ihr leichter, derartiges zu äußern und anderen mitzuteilen. Textbasierte Kommunikation gibt Sarah darüber hinaus auch die Möglichkeit, eine Identitätsveränderung dahingehend vorzunehmen, daß sie sich beizeiten als eine wesentlich jüngere Sarah darstellt.

 

 

4.2. Unbefangenheit

Sarah

IRC ist ein Medium, in dem Sarah viel über sich selbst, ihre privaten Probleme und generell mit ihr in Zusammenhang stehende Themen spricht. Dies wird offenbar durch größere Unbefangenheit begünstigt, einem Phänomen, das viel mit der computervermittelten Kommunikation zu tun hat.

A: (...) Mir geht' s eben nur so, daß ich durchaus auch viel über mich selbst spreche...was nun wieder mit der Kommunikationsart zusammenhängt. 64

F: So? Inwiefern?

A: Daß, äh, ich da, äh...scheinbar doch mehr bereit bin, den Leuten etwas aufzutischen, wie es bei mir oder in mir aussieht; was ich normalerweise nicht machen würde, schon gar nicht Leuten, die man nicht kennt. 65

Sarah stellt selbst den Bezug zur Kommunikationsart her, die sie dafür verantwortlich macht, daß sie im IRC anderen Menschen viele sie betreffende Inhalte nahebringen kann. Mit dem Nichtkennen der Menschen bezieht sich Sarah wohl auf eine persönliche Begegnung, da sie mit den Usern innermedial bereits bekannt ist - siehe hierzu Kategorie 4.4. zu IRC- Gemeinschaften. Den anderen Anwendern vermittelt sie eine Menge Wissen über ihren persönlichen, auch innerlichen Zustand, wozu sie normalerweise nicht bereit wäre. Da es hier um sehr persönliche Dinge geht, was wir aus der Äußerung „in mir" ableiten, vermuten wir, daß sie derartiges sonst aus Gründen des Selbstschutzes und der natürlichen Zurückhaltung bei Offenlegung des eigenen Innenlebens nicht tut. Es scheinen also bestimmte Bedingungen gegeben zu sein, die die Situation verändern. Um welche Rahmenbedingungen es sich handelt, werden wir versuchen, im Verlauf dieser Kategorie herauszuarbeiten.

A: Es ist einfach schon wesentlich einfacher, gewisse Inhalte zu tippen, als die einem Gegenüber ins Gesicht zu sagen. 66

Sarah macht deutlich, daß es ihr durch das Tippen anstelle von FTF- Explizierung erleichtert wird, sich zu äußern, sie also dadurch ihre Befangenheit abbaut oder verliert. Daß sie befangen ist, läßt sich damit nachweisen, daß sie in der Interviewsituation - also bei einer direkten Begegnung - das, was sie den anderen sonst vermittelt, nicht beim Namen nennt. Es wird mit „gewisse Dinge" umschrieben, die Befangenheit ist demnach wieder vorhanden.

F: Wie kommt das?

A: Hm...dadurch, daß man sich einfach nicht direkt gegenüber sitzt, sondern durch eine vermittelnde Instanz...äh...den Computer...äh...also man ist räumlich nicht zusammen und sieht sich auch nicht, sondern sich auf eine ganz...ja, eigentlich eine ganz, ganz unpersönliche Art und Weise unterhält, und, äh, das worüber man sich unterhält ist eben schon ganz persönlich, aber das nimmt dem Ganzen dann auch etwas das persönliche, oder die Hemmung...weil der Inhalt, das bleibt klar, worum es da geht, aber so ist es einfach ein bißchen einfacher...gewisse Dinge zu äußern. 67

Die Unbefangenheit wird durch die räumliche Trennung, also auch die Anonymität hervorgerufen, welche die Kommunikationsart mit sich bringt. Faktisch ist Sarah in diesem Moment allein, es gibt keinen Blickkontakt. Das erleichtert Offenheit auch allgemein, wie man in klassischen Situationen wie der Beichte oder einer psychoanalytischen Sitzung beobachten kann. Anstatt dem Gesprächspartner direkt gegenüber zu sitzen, findet die Kommunikation nur über einen Kanal statt. Sarah gibt ihre Inhalte in die Tastatur des Computers ein, über den sie an die Kommunikationspartner vermittelt werden. Diese Art der Kommunikation erlebt sie als unpersönlich, vermutlich da keine direkte Auseinandersetzung mit den anderen stattfindet. Statt dessen funktioniert die Kommunikation nur über eine dazwischengeschaltete Instanz, in diesem Falle über das mechanistisch- technische Objekt Computer. Das ' Wie' , also das Medium, und die Form der Kommunikation sind unpersönlich. Dem setzt Sarah dafür ein Mehr an Persönlichem auf der Inhaltsebene entgegen, fast als ob sie die unpersönliche Art durch persönliche Inhalte ausgleichen wollte. Aus der Vermittlungsform resultiert also verstärkte Unbefangenheit bezüglich der eigenen, privaten Gesprächsinhalte und somit deren vereinfachte Äußerung.

Eine weitere Komponente, die Sarahs Befangenheit verkleinert, Persönliches an andere weiterzugeben, ist ein Gefühl von Unangreifbarkeit.

A: (...) Aber da geht' s einfacher, da macht man das [persönliches mitteilen] viel eher. Weil einem die Leute auch nichts können...mir kann einfach keiner blöd kommen, ich bin im IRC nicht angreifbar. Mich kann keiner...was weiß ich...auslachen, oder beleidigen...solche werden weggeklickt. Es kann einem keiner was anhaben...Bzw. kommt es bestimmt mal vor, daß irgendwer andere beleidigt, aber da halt' ich mich erstens nicht auf; und zweitens tut das glaub' ich in dem Medium nicht sehr weh... 61

Sarah hat das Gefühl, nicht angreifbar zu sein, obwohl sie sehr Persönliches mitteilt. Sie muß aus Gründen des Selbstschutzes nichts verschweigen. Mit Angriffen scheint Sarah Reaktionen zu meinen, die hauptsächlich durch physische Anwesenheit vermittelbar sind wie z.B. Auslachen. Eine derartige Reaktion geht - medial bedingt - verloren, was in dieser Situation sein Gutes hat. Beleidigungen sind zwar im IRC ebenfalls möglich, aber Sarah könnte sich in diesem Fall die technische Möglichkeit des IRC zunutze machen und denjenigen einfach verschwinden lassen. Ihre Ansicht, daß Beleidigungen - mit denen sie bei ihren Stammchannels sowieso nicht rechnet - im IRC weniger verletzend wirken, steht vermutlich auch wieder im Zusammenhang mit der eigentlich unpersönlichen, weil nicht direkten Kommunikationsweise. Also auch das Gefühl von Unangreifbarkeit fördert Unbefangenheit.

Tom

A: (...) das ist ja ein interessantes Phänomen im IRC, daß man Leute, die trifft man das erste oder zweite Mal und quatscht mit denen über Probleme, über die würde ich mit meinen echten Freunden nicht quatschen. Ich kann gegenüber denen wahnsinnig offen sein. 30

F: Wieso ?

A : Ja, eben weil das so schön anonym ist, ich muß dem nicht in die Augen schauen. 31

Tom stuft die Tatsache, im IRC mit mehr oder weniger Fremden offen über persönliche Probleme zu reden, als eigenes Phänomen ein. Er bewertet es positiv, daß IRC von Anonymität geprägt ist. Man kennt sich nicht und er muß seinem Gegenüber nicht in die Augen schauen, was in der außermedialen Welt ein Hemmfaktor ist, private Inhalte wie seine Probleme zu äußern. Im IRC hingegen ist dies leicht. Tom ist „wahnsinnig offen" und spricht über Probleme, die er gegenüber seinen „echten" Freunden nicht thematisieren würde. Es handelt sich wahrscheinlich um Freunde, die er aus persönlicher Begegnung kennt und zu denen er vermutlich ein Vertrauensverhältnis hat, wie das bei Freunden üblich sein sollte. Anstelle der Auseinandersetzung mit seinem direkten sozialen Umfeld zieht Tom bei der Problembearbeitung eine deutlich beschnittenere Kommunikationsform vor. Der Vorzug scheint hier gerade in der Restriktion zu liegen, also in der Tatsache, daß bei CMC unter anderem Visuelles ausgeklammert ist.

A: (...) Es ist manchmal sehr schön, wenn man Leuten nicht in die Augen gucken muß, wenn die nicht merken, daß man zittrige Finger hat (...). 82

Das im IRC nicht gegebene gegenseitige In- die- Augen- Blicken ist offenbar ein wesentlicher Faktor, der Unbefangenheit fördert. Wenn man bedenkt, was Blicke - auch ungewollt - alles aussagen können, erstaunt dies nicht. Zusätzlich dazu spricht Tom am Beispiel der zittrigen Finger non- verbal vermittelte Informationen an, die ihn bloßstellen oder seine Aufregung oder Unsicherheit durchscheinen lassen könnten. Es handelt sich dabei um Informationsgehalte, bei denen Tom froh ist, daß sie über IRC nicht transportierbar sind.

A: (...) außerdem kommen im IRC viele Leute ganz anders aus sich heraus, als sie es in Real Life schaffen. Es gibt Leute, die mit extremer Schüchternheit zu kämpfen haben und sind das im IRC oft nicht (...). 33

IRC gibt nach Toms Meinung ganz allgemein die Möglichkeit, anders aus sich herauszukommen, was er dann im nächsten Satz sogleich mit der Eigenschaft der Schüchternheit verknüpft. Damit verbinden wir einen Wesenszug, der mit Angst vor negativer sozialer Bewertung zu tun hat und daher in Verbindung mit Befangenheit oder Hemmung steht. Mit dem Wort „schaffen" drückt Tom aus, daß hier etwas klappt, was im außermedialen Leben so nicht zu gelingen scheint, daß diese Leute im IRC sogar also aus sich heraus gehen können. Das Beispiel unterstreicht die Vermutung, daß im IRC Blockaden, Hemmungen oder andere Formen von Befangenheit weniger wirksam werden.

Linda

A: Ja, dadurch, daß ich nicht, wie ich es halt normalerweise mache oder oft überlege, was ich sage oder wie ich jetzt bin, es da einfach aus mir herausströmen lasse (...). 153

In FTF- Situationen scheint sich Linda vermehrt Gedanken um ihre Selbstdarstellung zu machen. Möglicherweise hängt die Motivation, in besonderer Weise aufzutreten, damit zusammen, daß sie bei außermedialer Kommunikation vermehrt etwas bei ihren Interaktionspartnern erreichen möchte - sei es nur, um einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Diese strategische Interaktionsform ist außermedial vermutlich wichtiger, weil sich einerseits positive Rückmeldungen seitens ihrer Kommunikationspartner auch positiv auf ihre Selbstkonzepte und Selbstwirksamkeit auswirken. Andererseits soll der Eindruck, den Linda vermitteln möchte, ihren Selbstkonzepten, die im außermedialen Bereich im Vordergrund stehen, entsprechen. Im IRC scheint sie hingegen nicht immer auf derartige Bestärkungen bezüglich ihres FTF- Selbstbilds aus zu sein, sondern möchte planende Aspekte der Kommunikation außen vor lassen, um auch anderen Selbstanteilen die Gelegenheit zu geben, sich auszudrücken. Man könnte sagen, daß aufgrund von Anonymität und textbasierter Kommunikation der sonst präsenten Kontrolle ein Entspannungsmoment entgegengesetzt wird. „[E]s da einfach aus mir herausströmen lasse", klingt - unserer Meinung nach - recht entspannt und unbefangen, wohingegen ihr außermediales Auftreten anstrengender zu sein scheint.

A: ...Also im normalen Leben bin ich eher zurückhaltend, und da kann ich eben mal so richtig...auf den Tisch hauen...ich spiel' dann in der Rolle...ja, eben viel temperamentvoller als ich jetzt so bin, und...eben auch krasser in ihren Ausdrucksweisen, also ich benutze normalerweise nie solche vulgären Wörter wie...äh...es halt Gang und Gebe ist, also so Fuck oder...Und das mach' ich dann da einfach mal...und, hm, das ist halt ' ne derbe oder burschikose Frau, die ich da spiele. (...) 38

Linda ändert ihr Verhalten von zurückhaltend in temperamentvoll und derb. Das sind Züge, bei denen sie nichts mehr zurückhält und scheinbar von nichts gehemmt ist. Linda geht über Anstandsgrenzen hinaus, die sie sich entweder selbst gesetzt hat oder die nicht den Normen ihres sozialen Umfeldes entsprechen. Bemerkenswert ist, daß sie bei enthemmtem Verhalten die Anonymitätserfahrung noch um einen Schritt steigert und durch Annahme einer Rolle ihr Handeln auch zu sich selbst in Distanz setzt. Die Rolle scheint es ihr zu ermöglichen, sowohl Alltagsselbst- bezogene Kontrolle als auch soziale Kontrolle weitgehend unberücksichtigt zu lassen und in diesem Rahmen ihre Zurückhaltung aufzugeben.

Robin

A: Der Reiz ist, daß man nicht genau sieht, wie der andere jetzt mit einem spricht, denn es läuft ja auch sehr viel über Gestik und Mimik. Wenn man das halt nicht hat...selbst Telefon ist noch was anderes, da hat man immer noch so' n bißchen die Betonung und die Stimmlage, und das fällt da halt alles weg. Rein auf das Wort reduziert, und vielleicht noch auf so' n paar kleine Smileys, die so Gefühlsregung darstellen sollen...daß man halt im IRC, ähm, eigentlich schreibt, ohne viel nachzudenken, daß es eigentlich viel viel lockerer abgeht. Wenn man so sich mit wem unterhält, dann überlegt man sich doch oftmals, so, sagt man das jetzt oder nicht, gerade so wenn der andere einem dann ein Problem oder was in der Richtung erzählt, dann ist man bei IRC doch unbefangener in seinen, hm, Lösungsvorschlägen.... Eben weil der andere einem nicht direkt gegenüber sitzt (...). 27

Hier spricht Robin von Kommunikation, wie sie im IRC gegeben ist. Wie er treffend bemerkt, ist diese auf Textualität reduziert. Die anderen Sinnesmodalitäten zur Rezeption fallen weg, was er reizvoll findet. Dadurch scheint eine IRC- Umgangsform begünstigt zu werden, die in hohem Maße „lockerer", vermutlich auch ungezwungener ist als in der außermedialen Welt, was wahrscheinlich das eigentlich Reizvolle für Robin ist. Die Lockerheit oder Unbefangenheit führt er offenbar auf die Tatsache zurück, daß sein Gesprächspartner nicht sichtbar ist. Durch die Textbasiertheit sind sowohl die Person als auch deren Reaktionen anders repräsentiert. Eine Konsequenz davon ist scheinbar, daß Robin sich in Ermangelung der Ansicht des Gegnübers auch vermindert Gedanken darüber macht, wie das von ihm Geäußerte aufgenommen werden könnte. Deshalb fühlt er sich in seinen Äußerungen unbefangener, die mangelnde Rezeptionseinsicht lockert seinen Umgang auf. Außermedial hingegen scheint Robin gerade bei sensiblen Themen wie Problemen aufgrund direkter Anwesenheit seines Gegenübers stärker die Konsequenzen seiner Äußerung zu antizipieren und sie auf die mögliche Reaktion abzustimmen.

Unbefangenheit oder verminderte Hemmung tritt bei Robin auch im Bezug auf die Inhalte seiner Unterhaltungen auf.

A: Im IRC ist man doch so locker, daß man da ein paar Fragen stellt, die man demjenigen, wenn man dem gegenüber sitzt, so ohne weiteres nicht stellen würde. 91

Bei Robin bezieht sich Unbefangenheit - neben der ungehemmten Äußerung seiner Gedanken - auch auf bestimmte Themen und Inhalte, die er, anders als außerhalb des Mediums, im IRC anzusprechen bereit ist. Hier meint Robin wohl Chatgespräche, in denen er peinliche oder brisante Fragen stellt, woraus sich dann ein entsprechendes Gespräch ergibt, das er im Alltag so nicht hätte umsetzen können. Das ergibt sich aus seinen weiteren Ausführungen, bei denen Robin anspricht, was geschieht, wenn er denjenigen dann vor diesem Hintergrund persönlich trifft.

A: (...) wenn man solche Gespräche hat, ja, und dann denjenigen das erste mal sieht, das ist eine ganz heikle Kiste, sag ich mal. Weil man hat diesen Background aus dem IRC und weiß, über was man da alles mal geschrieben hat und dann sieht man denjenigen zum ersten Mal und dann kann' s schon sein...dann kommt so: bei mir gab' s heute abend auch Tomatensuppe zum Abendbrot, du hast so einen knallroten Kopf...ja, weil viele Sachen einem ganz einfach auch unangenehm sind, wo man wahrscheinlich einfach zu verklemmt ist, wenn einem jemand persönlich gegenüber sitzt...Aber, da habe ich die Erfahrung gemacht, das geht beiden so. (...) 92

Robin erlebt es als eine heikle Situation, jemanden vor dem Hintergrund der im IRC unbefangen und ungehemmt geführten Dialoge von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Die Unbefangenheit kann offenbar nicht übertragen werden. Sie scheint daher in direktem Zusammenhang mit einer FTF versus CMC Kommunikationssituation zu stehen. Vieles Gesagte ist Robin unangenehm, er ist jetzt im Nachhinein verklemmt. Was für Peinlichkeit erzeugende Themen besprochen werden, macht er aber direkt nicht klar, vermutlich da es sich ja beim Interview auch um ein Gespräch in direkter Begegnung handelt. Robin erzählt, daß bei einer FTF- Begegnung die im IRC geführten Gespräche durch Entstehung von Peinlichkeit und rotem Kopf - womit er wohl die Peinlichkeit veranschaulichen will - fortwirken. Bei physischer Abwesenheit hingegen konnte er anscheinend brisante oder heikle Inhalte äußern. Dies scheint also wesentlich besser unter den Rahmenbedingungen der textbasierten Kommunikation zu funktionieren.

A: Daß man, wenn man jemanden wirklich gegenüber hat und dem in die Augen guckt und die Gestik und so, daß man doch viel verklemmter ist. Da ist halt...nichts zwischen. (...) 94

Im IRC ist Robin weniger verklemmt oder befangen, denn es ist noch etwas dazwischen, hinter dem sich Robin vielleicht verstecken kann. Er ist nicht als reale Person, sondern bloß als Schriftzeichen vertreten und muß demnach dem Gesprächspartner nicht in die Augen blicken, was ihn offenbar hemmt. Die Aussagen werden mittels eines verallgemeinernden „man" gemacht, Robin geht davon aus, daß es nicht nur ihm so geht. Auch bei einer physischen Begegnung verspürt ebenso der andere Beklemmung und Peinlichkeit (siehe Abschnitt zuvor), offenbar, weil man sich dabei eben schon in die Augen guckt.

Theoretisierende Zusammenfassung

Mit der Kommunikation über das Medium Computer anstatt in direkter Begegnung liefert das Medium IRC Rahmenbedingungen, die bei seinen Anwendern einen Zustand der Unbefangenheit und Enthemmung begünstigen. Das hat ganz unterschiedliche Konsequenzen. Unsere Gesprächspartner sind offener und unbefangener im Umgang mit Themen, bei denen sie sich außerhalb des Mediums zurückhalten. Die Gesprächsinhalte, die im IRC auch gegenüber fremden Personen thematisiert werden, können privater, intimer, peinlicher, sexuell angehauchter oder problematischer Natur sein, allgemein gesprochen alles, was ansonsten zurückhaltender behandelt wird. Die Phänomene, die sich innerhalb unserer Kategorie Unbefangenheit zeigen, sind auf einen Zustand der Anonymität sowie die Zwischenschaltung eines Mediums anstelle von direkter Begegnung mit Blickkontakt zurückzuführen. Einzig Linda in ihrer Rolle der vulgären Frau setzt sich zusätzlich im Rahmen eines Identitätswechsels über ihre alltäglichen Selbstkonzepte hinweg. Sie stimmt dann ihre momentane Rolle nicht auf ihre Gesprächspartner ab. Unsere restlichen Interviewpartner profitieren davon, über den Computer als anonymisierende Zwischeninstanz zu kommunizieren anstatt in direkter physischer Anwesenheit, wobei mehrfach der Blickkontakt erwähnt wird. Eine FTF- Situation würde sie normalerweise hemmen und sie wären in ihren Äußerungen wesentlich befangener. Es ist ein allgemein bekanntes Phänomen, daß Anonymität Selbstentblößung begünstigt. Dabei fungiert der Computer anonymisierend, ähnlich beispielsweise der Wand eines Beichtstuhls. Aufgrund der computervermittelten Kommunikation verschwinden nonverbale Ausdrucksformen, was sich ebenfalls positiv auf die Unbefangenheit auswirkt. Eventuell bloßstellende eigene Reaktionen wie beispielsweise aus Mimik und Blicken ersichtliche Verunsicherung können genauso wenig transportiert werden wie Reaktionen des Chatpartners, z.B. Auslachen. Beides scheint dazu zu führen, daß sich die Anwender bei dieser Kommunikationsform sicherer und unangreifbarer fühlen. Ein weiterer möglicher Effekt des Zustandes der verstärkten Unbefangenheit kann eine größere Spontaneität oder Ungezwungenheit bezüglich der Gesprächsinhalte sein. Durch die physische Abwesenheit des Kommunikationspartners sind außermedial wirksame Rollenvorgaben, denen sonst Genüge getan werden muß, nicht vorhanden, weshalb man sich in seinen Äußerungen mehr an dem orientiert, was einem durch den Kopf geht. Weiterhin kann durch die beschränkten Wahrnehmungskanäle bei CMC der andere als Person mit seinen Reaktionen mehr in den Hintergrund treten. Daher findet auch nur eine verminderte Antizipation der Konsequenzen eigener Äußerungen statt, weshalb man sich spontaner und unbefangener äußert.

Die Kategorie Unbefangenheit betrachten wir im Zusammenhang mit der erhöhten Offenheit und Bereitschaft, ansonsten eher zurückhaltend behandelte Inhalte zu thematisieren, als eine Bedingung für die Kategorie ' Bewältigung unterschiedlicher Probematik und Persönlichkeitsfindung' . Denn ohne die offene und ehrliche Äußerung privater oder persönlicher Themen könnte diese in der Form, wie es im IRC der Fall ist, nicht stattfinden.

 

4.3. Kontakte und Beziehungsbildung

Linda

Gleich zu Beginn des Interviews erzählt Linda von der Möglichkeit, zu jeder Zeit mit anderen kommunizieren zu können:

A: Also, das ist eine Möglichkeit, jederzeit mit jemandem sich unterhalten zu können, dran teilzuhaben, an Aktionen, oder halt irgendwas, was da so passiert...Unterhalten...Und da erreicht man halt immer jemanden, das ist immer wach, und...kann irgendwie Spaß haben. 1

A: Ja, IRC ist halt, sagen wir, bequem, weil immer wer zu erreichen ist...Manchmal ist's auch so, daß ich Freunde von mir anrufe, und wenn ' se nicht da sind oder keine Zeit haben, dann will ich mich halt trotzdem irgendwie, ja, unterhalten, und das geht halt dann da drin. 46

IRC ist „immer wach", Kommunikationspartner stehen stets zur Verfügung. Die Lebendigkeit, die sie offensichtlich mit dem Medium verbindet, scheint ihr Ticket zum „Spaß haben" zu sein. Das Chatten kann aber auch als reine Ablenkung vom Gefühl des Alleinseins verstanden werden, die sie unter Umständen nutzt, wenn ihre Freunde keine Zeit für sie haben oder nicht erreichbar sind. Außermedial läßt sich Kommunikation weniger einfach und „bequem" herbeiführen, doch im IRC kann sie „immer" jemanden erreichen. Dabei geht es ihr offensichtlich nicht um einen persönlichen Austausch mit speziellen Freunden, sondern generell um Unterhaltung mit Menschen. IRC als Interaktionsraum bietet ihr nicht nur Gesprächspartner, sondern auch die Option, sich an Aktionen, also Handlungen beteiligen zu können. Die Verfügbarkeit über Interaktionssituationen scheint demnach im Vordergrund zu stehen. Von der Interaktion und ihren Partnern verspricht sich Linda ein Erfolgserlebnis, das sie von ihrer eigenen Verfassung abhängig macht:

A: Ja, äh. Das ist eher so ' ne Kopfenergie. Es ist nicht, daß ich dann statt dessen jetzt rennen könnte oder Sport machen, sondern eher so kopfartig. Ich hab' Lust, mich, ja, gedanklich...oder was weiß ich, dieses Kopfspiel....Das isses eher. 63

F: Wie kommt das, daß es dabei auf solche Kopfenergie ankommt?

A: Die brauch' ich, damit ich irgendwie kommunikationsfähig bin. Weil, ja...wenn ich schlapp bin, hab' ich keine Ideen, mir fällt nichts ein, was ich schreiben soll, ich weiß nicht, wie ich mich präsentieren soll. Ich kann da auf niemanden eingehen...und dann ist das langweilig, ist dann blöd. Und wenn ich mich gut fühle und eben Energie hab' , dann kann ich...ja, eben palavern...Und habe dann auch Erfolg...Wenn ich schlapp bin, hab' ich weniger Erfolg. Also schlapp war ich auch schon drin, aber irgendwie weiß ich nicht, was ich sagen soll, und wenn ich dann was sage, isses langweilig...Dann geht auch niemand auf mich ein, der mir passen würde, und ich schätz' da kann ich den Computer auch gleich wieder abschalten, das bringt dann nichts. 64

F: Was bedeutet denn für Sie, in dem Zusammenhang Erfolg zu haben, also da im IRC? Wann würden Sie sagen, diese Sitzung war erfolgreich.?

A: Ja, wenn irgendwie viele Leute Interesse an mir haben...oder interessant oder lustig finden, was ich dann sage... 65

F : Und was gibt Ihnen das?

A: Ja, daß Leute positiv auf mich...mich positiv finden...auf mich eingehen. (...). 66

Um ihren eigenen Unterhaltungsansprüchen gerecht werden zu können, benötigt Linda ein gewisses Maß an „Kopfenergie". Sie will sich womöglich „gedanklich" auf der Höhe fühlen, um das von ihr angestrebte „Kopfspiel" innerhalb der Interaktion auch umsetzen zu können. Steht ihr diese Energie zur Verfügung, hat das offenbar positive Auswirkungen auf ihre Selbstrepräsentation und Kommunikationsfähigkeit. Der energiereiche Zustand scheint Linda das Gefühl zu geben, die Interaktion ideenreich beleben und adäquat auf ihre Kommunikationspartner eingehen zu können. Nur so gehen dann andere Teilnehmer auf sie ein, die ihr auch „passen" bzw. gefallen. Mit ihnen kann sie anscheinend ihr „Kopfspiel" im „Palavern" umsetzen und eine angenehme Kommunikation führen. Das von Linda angesprochene Erfolgserlebnis könnte auch darin begründet sein, daß sie ihren eigenen Ansprüchen genügen kann, mit sich selbst zufrieden ist und von anderen Teilnehmern, die sie ihrerseits favorisiert, bestärkt wird. Sie möchte positiv erlebt werden und entsprechende Rückmeldung erlangen. Bei dem Erfolg geht es ihr möglicherweise auch um soziale Anerkennung. Offensichtlich ist zumindest, daß Linda gemocht werden möchte. Daß sie diese Erfahrung zur positiven Selbstbewertung nutzt, ist anzunehmen. Gradmesser für den Erfolg ist das Gelingen der wechselseitigen Kommunikation. Der von ihr dahingehend selbst gesetzte Maßstab wird dabei offenbar nicht an ihren jeweiligen Zustand angepaßt. Er stellt eine eher statische Größe dar, der nur Kriterien beinhaltet - wie „lustig finden, was ich dann sage" - die zu einer für sie unterhaltenden und spaßigen Interaktion führen können. Fühlt Linda sich schlapp, kann ihr Maßstab nicht erfüllt werden. Somit kann Linda weder den richtigen Gesprächspartner für sich gewinnen noch ein Erfolgserlebnis verzeichnen. Unter diesen Umständen macht die IRC- Anwendung auch keinen Sinn für sie.

Bevor Linda eine Kontaktherstellung einleitet, beobachtet sie erst das Geschehen im Channel:

A: Ja, ich versuch' dann jemand aufzutreiben. 18

A: (...) also ich guck' ja immer erst mal, was abläuft, also was da drinne alles passiert. Und wenn ich sehe, das ist nicht so ' ne starke Gruppe und mich da...da brauche ich mir auch keine Mühe geben, mich irgendwie, ja, einzubringen, sozusagen. Wenn ich seh' , da sind Einzelpersonen, die sich auch grade erst kennenlernen, dann bin ich natürlich eher, äh, ich halt, und versuche eben, mir jemanden rauszukriegen, der mir halt ganz gut gefällt. 19

Ist der Channel nicht gruppendominiert, sondern durch Einzelpersonen gekennzeichnet, „die sich auch grade erst kennenlernen", muß Linda sich weder auf gruppentypisches einlassen - wie beispielsweise auf spezifische Kommunikationsweisen - noch mit den Mitgliedern arrangieren. Sie kann mehr sie selbst sein und jemanden „rauskriegen", der unter Umständen ihren Ansprüchen gerecht werden kann. Gruppen scheinen ihr im Unterschied zu Einzelpersonen keine Identifikation zu bieten, dafür spricht zumindest: „dann bin ich natürlich schon eher, äh, ich halt". Die Wortwahl ' Auftreiben' und ' Rauskriegen' impliziert, daß Linda nicht an einer beliebigen Kommunikation interessiert ist, sondern etwas spezielles sucht. Ihr angehender Interaktionspartner soll ganz bestimmte, von ihr festgelegte Kriterien erfüllen, die sich in dem spiegeln, was er sagt. Dabei geben die jeweiligen Inhalte Rückschluß auf die Person:

A: Von dem, was er sagt. Es hängt davon ab, wie lustig ich den finde, oder ob der Sachen sagt, die ich auch finde, praktisch mehr oder weniger, ob ich das auch hätte sagen können. Oder eben Dinge, die mich irgendwie erfreuen oder begeistern oder so was... 20

Linda möchte denjenigen lustig finden, er soll „Sachen" sagen, mit denen sie „praktisch mehr oder weniger" übereinstimmt. Das Mehr an Übereinstimmung gipfelt in der Aussage, daß bestimmte Inhalte auch von ihr hätten stammen können. Der Begriff der Identifikation liegt hier besonders nahe. Darüber hinaus sollen die Interaktionspartner sie erfreuen und begeistern können, was sich wiederum von der bloßen Übereinstimmung abhebt und die von ihr präferierte Qualität der Unterhaltung - also Spaß und Erzeugung guter Gefühle - betont. Linda sucht jemanden, der mehrere von ihr als positiv eingestufte Eigenschaften in sich vereint. Solch eine Person ist für sie ein Schlüssel zu Spaß und positiven Gefühlen. Lindas Anspruch an die Interaktion orientiert sich scheinbar vorrangig am Unterhaltungswert.

Um eine erfolgreiche Interaktion sicher stellen zu können, versucht Linda über die inhaltliche Ebene und was diese mittransportiert, zu einer Einschätzung der Person zu gelangen:

A: (...) Und den einschätzen als Person, das kann ich halt nur anhand, von was er schreibt...ob der charmant ist, oder eher lustig oder eben energetisch...Denn weiß ich, daß das bestimmt eben in meine Richtung geht und derjenige so ist. 131

A: (...) Am besten find' ich ganz klar die, die lustig und mit Charme schreiben. Was heißt schreiben, die lustig und charmant sind, und das eben bei der Form auch umsetzen können. Das versuche ich ja auch, mich da immer zu verbessern. 79

Die Authentizität der von ihr bevorzugten Eigenschaften wie „charmant, lustig, energetisch", zweifelt Linda nicht an. Sie verfährt vermutlich nach dem Motto: Man ist, was man schreibt. Diese Eigenschaften werden von ihr scheinbar als Persönlichkeitsanteile verstanden, die man nicht vortäuschen kann, obgleich sie davon ausgeht, daß sich bei einem FTF -Treffen „noch viel mehr Facetten" von ihren Chatpartnern zeigen werden, als sie auf IRC -Ebene „präsentieren konnte[n]". Interessant ist, daß Linda versucht, sich in ihrer Präsentation auf der Textebene zu verbessern. Dabei lernt sie scheinbar von der Autorenschaft anderer Teilnehmer, die sich ihrer Meinung nach womöglich auch stilistisch gut darstellen können. Linda honoriert deren gewissermaßen ' schriftstellerische' Begabung und überträgt sie zugleich auf das eigentliche Wesen ihrer Interaktionspartner, da diese - nach Lindas Auffassung - ihren tatsächlichen Charme auf Worte reduziert an andere vermitteln können. Offenbar liegt ihr daran, durch guten Stil ihre Eindruckssteuerung zu verbessern. Ein guter Schreibstil würde auch mit Lindas Hobby - Geschichten schreiben - korrespondieren.

Hat Linda eine Person gefunden, die sie interessiert, spricht sie diese entweder direkt öffentlich an oder indirekt durch ein auf den Nicknamen bezogenes Kompliment - ein Vorgang, der wohl ein wenig Flirtcharakter hat und damit eine Reaktion wahrscheinlicher macht. Wird im Channel nicht öffentlich kommuniziert, orientiert sich Linda am Nicknamen, der dann zum einzigen Informationsüberträger und somit zum ersten Auswahlkriterium wird. Auch der Nickname muß ihr „relativ gut gefallen". Wir gehen davon aus, daß der Nick eine Art Image ist, das dazu benutzt wird, etwas bewußt oder unbewußt von sich zu entwerfen, so z.B. ein Persönlichkeitsbild. Vermutlich gewinnt der Nick auf diese Weise an symbolischer Bedeutung. In ihm verdichten sich Motive, Interessen etc., auf die sich Linda beziehen kann. In Anbetracht des Anspruchs auf Ähnlichkeit mit ihrer Person und ihren Kommunikationswünschen spielt bei der auf den Nicknamen bezogenen Auswahl wahrscheinlich die Identifikation mit diesem Image eine Rolle.

Besonders wichtig ist ihr, daß der oder die Kommunikationspartner sich auf sie einlassen können „und umgekehrt", so daß es ihr und „denen" gut gefällt. Wie das genau vonstatten geht, sagt Linda nicht. Doch in der Traurig- Lustig- Episode meinen wir, einen Hinweis darauf zu finden, was unter ' Einlassen' zu verstehen sein könnte:

F: Und wie geschieht das Ihrer Meinung nach, daß sich die Leute da verstehen oder daß man Sie versteht?

A: Ja, ..wie das genau geht weiß ich nicht, ich schätze mal...es kommt drauf an, wie ich eben...wenn die halt so reagieren, wie' s mir halt...wie ich' s halt mehr oder weniger optimal finde, dann...hab ich das Gefühl, daß mich jemand versteht....Wenn ich z.B. reingehe und mich ' Traurig' nenne, als Nick,...ja, dann sagt das ja schon sehr viel aus...Und wenn jemand darauf dann eingeht, und z.B. extra seinen Namen für mich wechselt, in ' Lustig' , und mich damit aufmuntert, das find' ich superlieb und nett. 58

F: Und das kann tatsächlich Ihre Stimmung irgendwie ins Positive hin verändern ?

A: Ja. ...Da gehört auch vielleicht noch ' n bißchen mehr dazu, vielleicht reicht das noch nicht, aber das ist schon mal...ja, ist total lieb, und ich find' das dann voll nett, daß sich jemand um mich kümmert, also sich darauf einläßt, und Lust hat, daß es mir besser geht. ..Und das kann ich dann dadurch zeigen, daß ich auch meinen Namen ändere, in z.B. ' Nicht- mehr- so- traurig' oder so. 59

Hier zeigt sich, daß es Linda nicht um alltäglich- informative Inhalte geht, sondern um eine Art Kommunikation über Images. Wer das versteht und sich darauf einläßt, 'reagiert optimal' auf sie. Indem also der Interaktand seine Sorge um sie anhand der gleichen, über Inhalte hinausgehenden stilistischen Mittel kenntlich macht, ist der erste Schritt in Richtung einer verbesserten Stimmung getan. ' Auf sie einlassen' bedeutet anscheinend, daß der andere ihre gegenwärtige, besondere Kommunikationsweise sowohl inhaltlich als auch formal verstehen und im selben Stil auf sie eingehen soll. Linda geht es also weniger um Informationsaustausch, sondern eher um Stimmungsmodulation und menschliche Empathie im innermedialen Alltag. Eine Voraussetzung dafür ist, sich auf derselben „Ebene" zu befinden, womit Linda vermutlich ähnliche oder sich ergänzende Interessen, Bedürfnisse, gleichartigen Umgang mit dem Medium oder ganz grundsätzlich Ähnlichkeit anspricht. Möglicherweise kann sie mit solch einem Interaktionspartner auch gemeinsam aus dem Alltag ausbrechen, da es ihr oft darum geht, eine außeralltägliche Situation zu konstruieren bzw. nicht auf die physische Welt zurückzugreifen. So lehnt sie Interaktionspartner ab, die sie „da zu sehr" nach ihrer äußerlichen Erscheinung befragen:

F: Beschreiben Sie sich denn ansonsten der Realität entsprechend ?

A: Also, wenn...Ich stehe eigentlich überhaupt nicht so drauf, wenn jemand anfängt, da zu sehr zu fragen...mich nach meinen Äußerlichkeiten zu fragen. Das spielt im IRC auch keine Rolle, da sind andere Dinge wichtig. Ja...wenn derjenige darauf fixiert ist, sich ein photographisches Bild von mir zu machen oder sogar ein Bild haben will, wenn ich ihm ein Pic schicken soll, dann find' ich das eher langweilig...Dann ist der nicht auf der Ebene wie ich und will auch nicht dasselbe wie ich. 137

In dem Medium kommt es ihr gerade nicht auf den Entwurf eines am außermedial orientierten Bildes und Austausch von Photos an. Auch das Einholen demographischer Daten und die Nennung des echten Namens passen nicht in ihr IRC- Erlebenskonzept. Vielmehr geht es ihr darum, sich entsprechend der textbasierten Form auf sprachlicher Ebene „kreativ" zu „präsentieren", um so aufeinander einzugehen. Auch der Kommunikationspartner „soll sich selbst, wie er drauf ist, durch die Möglichkeit der Sprache" darstellen. Hier scheint Linda materielle Formen und Bezüge hinter sich lassen zu wollen. Da sie demzufolge IRC unter anderem als symbolisches Ausdrucks- und Verständigungsmittel zu erleben scheint, wundert es auch nicht, daß sie jemanden, der sich nicht auch mit ihrem Nick auseinandersetzen will, sondern nach dem echten Namen verlangt, ablehnt. Linda kommt es in diesem Fall nicht auf die photographische Widerspiegelung von Wirklichkeit an, sondern auf eine neue Erfahrungswelt, in der Selbstinhalte, also „wie er drauf ist", im Vordergrund stehen. Kurz: An Gegenständlichkeit hat sie kein Interesse.

Im Unterschied zu Anwendern, die sich im Medium einfinden, um längerfristige Beziehungen zu einzelnen Leuten und Gruppen aufzubauen, geht es Linda darum, ihre „Sache [zu] machen", ihren „persönlichen Spaß" zu haben. Der läßt sich scheinbar nur dann umsetzen, wenn niemand im Medium Eindrücke von ihr sammeln und Vorstellungen bezüglich ihrer Person entwickeln kann:

F: Sie wollen also richtig unerkannt sein ?

A: Ja. 29

A: (...) Ich möchte gar nicht...daß die mich richtig gut kennen. (...) 69

A: (...) Ich will eher meine Sache da machen. 70

F: Was ist denn Ihre Sache?

A : Ja, meinen persönlichen Spaß zu haben. 71

F: Also Sie fangen da immer wieder bei Null an.

A: Ja! Ich habe halt auch keine Lust, irgendwie Initiator zu sein, und mich zu kümmern, oder wem zu mailen, daß er dann und dann drin sein soll...also so, das möchte ich nicht. Sondern ich möchte da ganz spontan das Gerät anschalten, wenn mir danach ist, und eben auch keine Verpflichtungen haben...Mir liegt auch gar nicht daran, bekannt zu sein, um Gottes willen. 110

An längerfristigen Kontakten im IRC hat Linda kein Interesse. Anstatt sich auf Beziehungsverpflichtungen einzulassen, Treffen zu initiieren oder Kontakte aufrechtzuerhalten, will sie offensichtlich für andere Teilnehmer immer wieder ein unbeschriebenes Blatt sein, um IRC spontan nutzen zu können. Linda versucht also, die Anonymität bezüglich ihrer Person aufrechtzuerhalten, da diese die Art von Spaß begünstigt, die sie haben möchte. Anonymität ist Voraussetzung dafür, stets andere Entwürfe von sich ausgestalten zu können. Im Unterschied zu einem Telefongespräch mit ihrer Freundin, die sie kennt und die immer wieder in derselben Weise mit ihr umgeht, ist Linda im IRC unbekannt. Niemand wird aus einer „Gewohnheit" heraus auf sie reagieren. Auf diese Weise kann Linda etablierten Interaktionsroutinen mit ihren Freunden entkommen und sich anderweitig entfalten oder ausleben - wie sie es z.B. im Rollenspiel tut - ohne Negativsanktionen in Kauf nehmen zu müssen. Sie scheint daher eher hedonistische als soziale Absichten zu haben - auch wenn es zu ihrer hedonistischen Befriedigung noch eines anderen Kommunikanten bedarf. Allerdings möchten wir mit dieser Aussage keine Polarität zwischen hedonistisch versus sozial festlegen.

Das, was Linda im Medium umsetzen will, soll unabhängig von sich entwickelnden sozialen Beziehungen sein. Ihre Kontakte scheinen eher von Einmaligkeit, Kurzfristigkeit und Zufall gekennzeichnet:

F: Und das versuchen Sie dann aber nicht zu wiederholen ?

A: Doch, das schon, aber eben auf keinen Fall mit denselben Leuten, sondern eben wenn es sich ergibt. 121

A: (...) mich interessiert eigentlich mehr, durch Zufall immer wieder neue Sachen und andere Sachen zu sehen. (...) 109

A: (...) Also, wenn ich im IRC jetzt jemand gefunden hab' den ich ganz toll finde, dann habe ich gar nicht unbedingt das Interesse, den immer wieder zu treffen. Sondern ich schätz' es ist halt so 'ne Einmaligkeit, die mich halt mal umgehauen hat...beeindruckt hat...Ja, und so was bleibt dann natürlich, nicht im Wortlaut, hängen, aber äh...der Sinn...bleibt schon was übrig. (...) 85

Lindas Interaktionsform ist, wie wir gesehen haben, mit keiner Planung oder weiterem Aufwand für Linda verbunden. Das entspricht Lindas von uns als hedonistisch eingeschätzter Natur. Sie kommuniziert mit einer Person, so lange der gegenwärtige und potentiell folgende Lustgewinn vorhanden ist. Die ' Kosten' die vermutlich bei der Kontakterhaltung entstehen würden, sind ihr offensichtlich zu hoch. Kontaktpflege geht Linda scheinbar - abgesehen von der Lüftung ihrer Anonymität - mit zu viel Engagement einher. Was sie möchte, ist unverfänglicher Spaß. Dabei hat ein herausragendes Erlebnis Einmaligkeitswert und soll - so wäre es denkbar - nicht durch ein weniger beeindruckendes Zusammentreffen mit derselben Person entthront werden. Der „Sinn" des besonderen Erlebnisses bewahrt sich von selbst und bedarf keiner Wiederholung. So weicht Linda anscheinend lieber auf „Sachen" aus, die ihr zufällig begegnen und Neuheitswert haben.

F: Das bleibt dann einfach eine schöne Erinnerung, oder was hat das dann für eine Bedeutung in ihrem eigenen Alltag ?

A: (...) daß ich sehe, daß es Leute gibt, die mir ähnlich sind...die ich aber nicht unbedingt im Alltag treffe, sondern weiß, die gibt es...ja...Leute zu finden, die auch kreativ sind. (...) Einfach zu wissen, es gibt Leute, die so und so sind und das gibt mir einfach ein gutes Gefühl, zu wissen, die gibt es. 86

F: Hmm.

A: Ja, daß ich mit dem, wie ich bin, nicht allein bin...Das weiß ich eh, ich habe ja auch Freunde, aber das, das ist noch mal globaler. (...) so verstreut auch in anderen Ländern...gibt' s überall welche, die eben ganz ähnlich sind wie ich. 87

Das Gefühl, daß es auf globaler Ebene Menschen gibt, die Lindas ihrer Natur ähnlich sind, scheint ihr Wohlbefinden zu steigern. Möglicherweise sind diese Menschen, auf die Linda immer wieder im IRC zu treffen scheint - gerade im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit ihr - eine der Quellen für ihre Selbstbewertung. Ob es sich dabei um sozialen Vergleich handelt, der zur Selbstbestätigung führen kann, bleibt unklar. Lindas Aussagen erwecken allerdings ein wenig den Eindruck, als würde sie sich selbst, ganz allgemein, als etwas eigen- oder einzigartiges wahrnehmen. Dennoch möchte sich Linda auf der Welt nicht allein fühlen und bedarf wohl der Bestätigung seitens anderer. Abgesehen von Lindas Freunden bilden diese Menschen offenbar eine weitere Art von Bezugssystem, .das ihr möglicherweise zu einer verbesserten Einschätzung des eigenen Wesens bzw. zur Steigerung des Selbstbewußtseins hilfreich sein könnte.

 

Robin

Für Robin ist IRC ein Mittel, um seinem „Bedürfnis, neue Menschen kennenzulernen", nachzukommen:

A: Das ist das Problem, es gibt eben nichts, was dem IRC so in RL vergleichbar wäre, für mich. Ich bin weder groß der Disco- noch der Kneipengänger, das ist beides nicht so mein Stil, und...ja...um neue Leute kennenzulernen würde mir jetzt nichts vergleichbares einfallen. 60

Robins Lebensweise schließt den Disco- oder Kneipenbesuch zunächst scheinbar aus. Die hochfrequentiertesten und konventionellen außermedialen Orte der Geselligkeit kommen für ihn also kaum in Frage. Dennoch spricht er später davon, daß sich eine im IRC aufgebaute „Freundschaft" auch zum Bier trinken in die Kneipe übertragen läßt. Man kann daher annehmen, daß Robin nicht grundsätzlich kein „Kneipengänger" ist. Womöglich geht es ihm vielmehr um die Schwierigkeit, in einer Kneipe Leute kennenzulernen, was im IRC, wie wir noch sehen werden, einfacher geht.

Das „Tolle" am IRC ist die Verfügbarkeit zwangloser Kommunikationssituationen:

A: (...) Das ist halt das Tolle auch am IRC, daß man da die Möglichkeit hat, also daß man mal 'nen Chat machen kann, mit irgendwem, auch oberflächlich (...). 22

Obwohl Robin ansonsten daran gelegen ist, einen persönlichen Bezug zu einer Person aufzubauen, kommt es ihm nicht immer darauf an. Auch für ein unverfängliches ' Schwätzchen' macht IRC Sinn.

Ganz allgemein möchte Robin auf jemanden treffen, der wie er an einem „persönlichen" Gespräch interessiert ist:

A: (...) Ja, halt jemand, der einem mal ein bißchen was persönliches erzählt und wo man das umgekehrt auch tun kann. (...)7

A: (...) und auch seine Situation und Probleme mir offenbart (...). 117

A: (...) also ich will nicht irgendwie oberflächlich mit denen quatschen, sondern...bißchen...ich sag mal intimer, aber nicht im Sinne von flirten (...). Nicht so oberflächlich, so Standardfragen, wie was der für Musik hört und was hat der für ein Auto. Und das sagt ja jetzt nicht so viel über denjenigen aus. Dann lieber so ein persönliches Erlebnis. 19

Seine Aussagen machen deutlich, daß Robin das Medium unter anderem nutzt, um eine Beziehung aufzubauen, in der er vermutlich neben persönlichen Erlebnissen usw. auch seine sonst wahrscheinlich sorgfältiger abgeschirmten intimen Selbstinhalte äußern kann. „Intimer, aber nicht im Sinne von flirten" bedeutet hier also, eine freundschaftliche Beziehung herzustellen, die es beiden Interaktionspartnern ermöglichen soll, sich zu offenbaren. Robin geht es um Gespräche, die wirklich etwas über den anderen aussagen können. An Stelle des Musikgeschmacks etc. interessieren ihn „persönliche Erlebnisse", die ihm tiefergehenden Aufschluß über den Chatpartner eröffnen sollen. Diese Art geteilter Intimität führt vermutlich zu einem Gefühl von Freundschaft und wirkt beziehungsvertiefend und -festigend. So kommt Robin auch, wie sich später noch zeigen wird, zu einer besseren Einschätzung der Person. Die Möglichkeit wäre in Betracht zu ziehen, daß Robin auf diese Weise den außermedial meist längeren Weg zu einer Freundschaft unter gegenseitiger Selbstoffenbarung vermeiden und über IRC eine ' Abkürzung' gehen möchte. Man könnte aber auch annehmen, daß der Wunsch persönlichen Bezug zu gewinnen damit zusammenhängt, daß einige Anwender dazu neigen ihre Kommunikationspartner stark zu selektieren - im Sinne von Wegklicken eines Chatpartners. Diese Gefahr oder Angst könnte durch persönlichen Kontakt verringert werden.

Eine Person zu finden, mit der sich diese Art von Freundschaft aufbauen läßt, ist für Robin wie die Suche nach der „Nadel im Heuhaufen" und daher „eigentlich relativ selten" erfolgreich. Dennoch bleiben Versuche nicht aus, einem geeigneten Kommunikationspartner näher zu kommen. Sie beginnen bei den Nicknamen:

A: (...) Jetzt zum Thema User...daß da eben jeder seinen Usernamen frei wählen kann, dadurch alleine schon so ' n bißchen charakterisiert wird, was das denn für ' n Jemand ist.(...) 2

Die Nicknamen sind auf IRC- Ebene erstes Selbstdarstellungsmoment und dienen dazu, erste Einschätzungen bzgl. der dahinter stehenden Person vornehmen zu können. Die Nicks weisen für Robin auf bestimmte Charakteristika der Person und helfen bei der Auswahl:

A:(...) dann sagt man, da ist ein netter Name, der hört sich irgendwie nett an, chattest du den einfach mal an, sagst einfach mal hallo. 103

F: Ein netter Name, das ist ja interessant.

A: (stöhnt) Ja...ja, also es gibt so Usernamen, RedDeath oder so was, das ist schon arsch- merkwürdig. Ich sag mal, das wär' jetzt nicht jemand, wo ich mal gucke, im ' who-is' gucke, wer ist das überhaupt. 104

F: Interessiert dich nicht?

A: Interessiert mich nicht. 105

F: Bist du mehr an Nicknames interessiert, die...

A:(unterbricht) Einfach nett klingen. 106

Robin ist an Nicknamen interessiert, die seinem Geschmack nach „nett klingen". Wie solch ein Name beschaffen sein muß, sagt er zwar nicht, als Negativbeispiel wird aber der Name ' RedDeath' angeführt. Von dem ist Robin scheinbar eher befremdet und deshalb an der Person weniger interessiert. Der Nick verkörpert also einerseits einen Komplex von Ideen, Gefühlen, Haltungen etc. auf Seiten des Darstellers und ruft anscheinend andererseits bestimmte Assoziationen auf Seiten des Rezipienten hervor. Offenbar korrespondiert der gewünschte „nette" Name mit Robins Bedürfnislage, seinen Erwartungen und Vorstellungen bezüglich des Interaktionspartners.

Robin unterscheidet drei verschiedene Arten von Nicknamen:

A: (...) Und da gibt es natürlich Leute, die sich absolut kryptische Namen geben, wo man dann denkt, die wollen nicht erkannt werden oder irgendwie so was. Dann gibt' s Leute, die sich mit dem normalen Vornamen anmelden und dann die, die sich mit ' m Spitznamen melden (...). 2

Mit Anwendern, die sich „kryptische Namen" geben, verbindet Robin Leute, die etwas verbergen wollen. Das läuft wohl seinem IRC Ansatz entgegen, denn Robin ist an persönlichen Gesprächen interessiert, in denen etwas offenbart und nicht verschleiert werden soll. Unter die Kategorie „krypitsch" fällt vermutlich auch RedDeath - eine Name mit offensichtlich negativer Konnotation - weshalb die dahinter stehende Person nicht weiter interessiert.

Hat Robin eine passende Person gefunden, kann er sie „einfach mal anchatten". Hier zeigt sich, wie problemlos die Kontaktherstellung funktioniert. Wir nehmen an, daß sich im Unterschied zur Kneipen- oder Discosituation die Ansprache mit keinerlei Risiken oder Unsicherheiten verbunden wird, die unter Umständen zu einer Vermeidung des Ansprechens führen könnten. Befürchtungen wie z.B. ' einen Korb zu bekommen' und damit ' das Gesicht zu verlieren' bleiben vermutlich weitgehend aus. Kneipe oder Disco sind wohl auch weniger als explizite Kommunikationsräume zu verstehen, in denen es vorzugsweise ums Kennenlernen anderer Menschen geht, sondern Orte allgemeiner Geselligkeit. IRC als Kommunikationsmedium dagegen macht die Schranken überwindbar, die Robin anscheinend außermedial gesetzt sind. Denn das Medium ermöglicht es, jeden jederzeit gefahrlos ansprechen zu können.

Vor der Ansprache versucht Robin, mit dem ' who-is' -Befehl reale Verhältnisse der Person zu identifizieren, z.B. wie sie realiter heißt, aus welcher Stadt oder welchem Land sie kommt. Diese Informationen können, müssen aber nicht von den Anwendern im Programm- Setup genannt werden. So kann es durchaus vorkommen, daß entweder nicht der echte oder überhaupt kein Name im ' who-is' erscheint. Sofern Robin einen ' echten' Namen findet, spricht er die Person mit diesem und nicht mit ihrem Nick an :

A: Ich sag man, ich habe so einen typischen Spruch, um ein neues Gespräch anzufangen, also mit jemandem, den ich noch nicht kenne...Das ist also meistens ein Username, dann gucke ich in ' who-is' nach...Da steht ja meist der reale Vorname und dann erst mal: Hallo, Name, Ausrufezeichen, wenn derjenige aus Berlin kommt, schreibe ich: Gruß aus Neukölln; und wenn derjenige aus Deutschland kommt: Gruß aus Berlin...oder wenn aus den Staaten ist, schreibe ich meistens auch: Berlin, Germany und dann frage ich immer noch: Kennst du Berlin, oder sagt dir Berlin was... und dann kommt: ja hier, verhüllter Reichstag, Mauer und so. (...) 101

Die Nicknamen sind für Robin nur erster Anhaltspunkt, um einen geeigneten Kommunikationspartner ausfindig zu machen. Darauf folgen mehrere Versuche, einen Bezug zur außermedialen Welt herzustellen. Die Kommunikation bezieht sich somit vom ersten Augenblick an auf die physische Welt. Die Anknüpfungen an Außermediales - „Gruß aus Neukölln", oder spektakuläre kulturelle und politische Ereignisse, von denen Robin annimmt, daß sie international bekannt sein dürften - scheint er als Bezugspunkte anzubieten, auf die sich dann sowohl er als auch sein Partner einlassen können. Der Bezug zur physischen Welt spricht außerdem für Robins Anliegen, sie nicht aus den Augen verlieren zu wollen.

Diese Annahme erschließt sich auch aus seinem Umgang mit der Anonymitätserfahrung. In mehreren Abschnitten beschreibt Robin seine Versuche, Herr über Identitätstäuschungen zu werden - z.B. wenn Männer sich als Frauen ausgeben. Das Wissen, mit welchem Geschlecht Robin es zu tun hat, wirkt sich auf sein Verhalten gegenüber der Person aus. So würde er z.B. beim „Thema Computer" bei einer Frau „viel vorsichtiger rangehen" und „weniger Fachausdrücke" verwenden als bei einem Mann, dem er bedenkenlos „ein paar Fachausdrücke an den Kopf hauen kann". Robin scheint das stereotype Bild von ' Frauen und Technik' auf IRC zu übertragen und geht beim „Thema Technik" entsprechend vorsichtiger mit Frauen um. Vermutlich liegt ihm daran, es sich bei Frauen nicht gleich zu verscherzen, weil es so wenige davon im IRC gibt. Bei Männern kann er sich dagegen dem Fachsimpeln hingeben und sich möglicherweise Anerkennung verschaffen.

Um der Anonymität etwas entgegenzusetzen und „persönlichen Bezug" zu gewinnen, möchte Robin wissen, wie die Leute realiter aussehen. Das läßt sich für ihn durch einen Phototausch oder Betrachten der „Homepage" verwirklichen - auf der meist ein Bild und einige Worte zur Person abgelegt werden. Robin möchte sich ein „Bild" von der Person machen, mit der er „chattet", das ist ihm „relativ wichtig". Wir nehmen an, daß Robin mit der rein auf Text reduzierten Personenwahrnehmung nicht besonders gut zurecht kommt und die sich daraus ergebenden Leerstellen durch das Photo anzufüllen versucht. Auf diese Weise scheint er sich einen besseren „Eindruck" von seinem Kommunikationspartner machen zu können. Da es bei Robin unter anderem um persönlichen Bezug und Austausch von Intimitäten geht, steht die Eindrucksgewinnung wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit Schutzmechanismen vor Täuschungsmanövern. Bei Preisgabe sehr persönlicher Themen wäre es für ihn wahrscheinlich besonders unangenehm, einer Falschdarstellung zu unterliegen. Die Authentizität der gesendeten Photos zweifelt er nicht an. In der ' man' - Version, scheinbar für alle Anwender sprechend, erzählt Robin von der Entwicklung eines „Feelings" - gemeint ist wohl die Entwicklung einer vom Gefühl bestimmten Fähigkeit - mit der er „übereinstimmendes" und demnach auch divergierendes zwischen „Wort und Bild" erkennen kann. Robin spricht sich also anhand dieses „feelings" selber die Fähigkeit zu, die Echtheit der Bilder beurteilen zu können.

F: Und meinst du, die Bilder, die du da kriegst, sind wirklich Bilder von genau den Leuten?

A: Ja, das merkt man...Es gibt...ich will jetzt nicht sagen, daß ich wirklich Menschenkenntnis habe, aber vom Gefühl her hat das jeder. Daß man sagt, Mensch, was der oder die schreibt, paßt zu dem.(...) 16

Robin gesteht allen Menschen die Fähigkeit zu, gefühlsgeleitet die Authentizität der Photos beurteilen zu können. Diese Verallgemeinerung nimmt er vermutlich vor, da die Verfügung über derartige Fähigkeiten ansonsten schwer zu erklären wäre. Der von uns vermutete motivationale Hintergrund seines Anliegens, sich hinsichtlich der Echtheit der Bilder und somit des Chatpartners abzusichern, liegt in Robins Angst vor Täuschung. Er scheint mit dieser Seite der Virtualität des IRC, die den Nutzern große Freiheitsgrade bei ihrer Selbstdarstellung bietet, Probleme zu haben. Darauf verweist auch eine andere Stelle im Interview. Dort thematisiert Robin die Täuschung hinsichtlich der im IRC dargestellten Identität anhand eines Cartoons. Zu sehen sind zwei Chattende, der eine ein „Rockertyp", der andere „einer, wie man sich so ' n Computerfreak vorstellt, so ' n abgehagerter, dicke Brille". Beide kann man beobachten, wie sie sich gegenseitig bezüglich ihrer Identität und ihres Aussehens falsche Angaben vermitteln. Auch wenn Robin um die Witzigkeit des Cartoons weiß, ist ihm wahrscheinlich auch dessen Wahrheitsgehalt deutlich und die Möglichkeit, getäuscht zu werden, stellt eine Bedrohung dar. Robin möchte wohl den festen Halt an außermediale Fakten nicht verlieren. Auch beim Ansprechen neuer Chatpartner stellt er, wie erwähnt, diesen Bezug aktiv her. Durch den Bildertausch wird versucht, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln des Mediums zu einem kohärenten Gesamteindruck seines Chatpartners zu gelangen, was wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit Schutz vor Täuschungen steht.

Ein Freundschaftsverhältnis, das sich auf die außermediale Welt übertragen läßt, entwickelt sich bei Robin durch „in die Tiefe" gehende Gespräche. In ihnen wird unter anderem Intimes ausgetauscht. Bekanntschaften hingegen pflegt er innerhalb des Mediums durch die Besprechung von Alltagsgeschehnissen oder außeralltäglichen Begebenheiten, die jeweils eine besondere Relevanz im Leben der einzelnen Leute haben, wie beispielsweise:

A: (...) Freundin weg, oder sie waren auf den Malediven (...) 22

A: (...) der eine hatte Probleme mit dem Untermieter, der hat drei Monate seine Miete nicht bezahlt, den hat er rausgeschmissen, da fragt man dann, ob sie schon einen neuen getroffen hat, ...so Kleinigkeiten halt. (...) 103

Besprochen werden Dinge, die das Leben aktuell bewegen, ob dramatische Ereignisse, wie der Verlust der Freundin oder besondere Erlebnisse, wie der Urlaub auf den Malediven, oder eben die mehr oder weniger kleinen Probleme des Alltags.

Die Kontakterhaltung bezeichnet Robin anfangs als eine „Art Pflege von Freundschaft". Den Freundschaftsbegriff nimmt er aber wieder zurück - da er ihn „sehr vorsichtig" benutzen möchte - und ersetzt ihn durch „Bekannte". Die „Pflege dieses Bekanntschaftsverhältnisses" läßt sich anscheinend relativ einfach umsetzen, indem Robin beispielsweise sein Interesse an der Person durch sein Wissen um Inhalte vorangegangener Gespräche bekundet, an die er dann anknüpft :

A: Also ich frag' auf jeden Fall auch, weil mich die Sachen interessieren, nicht jetzt bloß um die Freundschaft zu erhalten. (...) 53

A: (...) dann knüpft man meist so ganz kurz an das letzte Thema an (...) 103

An das letzte Thema anzuknüpfen entspricht wohl herkömmlichen Interaktionsroutinen, auf die Robin auch auf IRC- Ebene zurückgreift. Erinnert sich Robin nicht mehr an das letzte Chatgespräch, zieht er den entsprechenden Log File - man könnte auch sagen, sein materielles Gedächtnis - zurate. Obwohl er betont, daß ihn die „Sachen interessieren" und die Fragen nicht bloß gestellt werden, um die Freundschaft aufrechtzuerhalten, scheint Robin das Wissen um den Inhalt des letzen Gesprächs doch besonders wichtig zu sein. Denn er möchte nicht, daß „der andere dann den Eindruck" erhält, daß er „nicht richtig zugehört" habe oder daß er „nicht so interessiert" gewesen sei. Offensichtlich möchte Robin die Vorstellung von sich als sozial kompetentem Menschen in entsprechender Weise innerhalb der Interaktion zum Ausdruck bringen.

Ganz allgemein läuft die Bekanntschaftspflege im IRC „ungezwungener" ab als in Real Life:

A: (...) Mit den Leuten, die man halt ein bißchen besser kennt, ich sag ich mal im Grunde genommen, könnte man die Leute theoretisch auch anrufen und könnte fragen: du, und wie geht' s und hier und da, bloß im IRC da geht man einfach mal einen Abend rein und (lauter werdend, überrascht) durch Zufall sieht man denjenigen, man muß sich nicht Gedanken machen: ah, da muß ich mal wieder melden, da ruf' ich mal wieder an, sondern das ist einfach ungezwungener, man sieht den da und dann fragt man halt mal nach. 119

Gegenüber seinen IRC- Bekannten muß Robin sich offensichtlich nicht auf gleiche Weise verantworten wie gegenüber seinen außermedialen Freunden. Im IRC braucht er sich keine Gedanken darüber zu machen, daß er sich „mal wieder melden muß". Wo Robin sich also scheinbar seinen außermedialen Freunden gegenüber zur aktive Kontaktpflege verpflichtet fühlt, bleibt die Bekanntschaftspflege im Medium mehr dem Zufall überlassen. Sie ist mit weniger Initiative verbunden und wird als leichter, bequemer und zwangloser empfunden. Interesse an seinen außermedialen Freunden bekundet er durch aktive Kontakterhaltung, während er auf seine IRC Bekannten fast automatisch trifft.

Abgesehen vom mehr oberflächlich angehauchten Plausch bis hin zu tiefen persönlichen Gesprächen nutzt Robin seine IRC Bekannten auch als Informationsquellen:

F: Was bedeutet denn so eine Bekanntschaft für dich noch?

A: Daß man ...also viele haben ja ' nen Job auch in der Computerrichtung, und da sind auch welche bei, die einem, sagen wir mal, nützlich sein können. Wenn man mal in dem Bereich ' ne Frage hat, hat man ' nen Ansprechpartner. (...) Ich denk' mal, Bekannte kann man nicht genug haben, ' ne andere ist z.B. auch beim Finanzamt. 54

Bekannte unterschiedlichster Art können Robin helfen, in verschiedenen Lebensbereichen besser zurecht zu kommen; ob bei Problemstellungen, die den Computer oder die Bewälitigung der nächsten Steuererklärung betreffen. Mit Bekanntschaften verbindet er also auch einen Nutzenaspekt.

„IRC ist einfach Fun", weil Robin darin unter anderem sehr unterschiedliche Leute kennenlernen kann, mit denen er „im wahren Leben" nicht in Kontakt treten oder kommen würde. Denn Alltagswelt verhindert oftmals durch abgegrenzte Lebensräume und Interaktionsgewohnheiten bestimmte Begegnungen. Sein prominentestes Beispiel zur Veranschaulichung dieser Erfahrung ist der Rocker. Auf diese Möglichkeit wird in der Kategorie ' Horizonterweiterung' näher eingegangen.

Tom

Toms Interesse am IRC orientiert sich stark am Menschen- Kennenlernen. Über diesen Weg geknüpfte Kontakte sind dabei nicht nur auf medialer Ebene existent, da sie sich schon relativ zu Beginn seiner IRC- Biographie in die physische Welt verlagerten. Darauf werden wir in der Kategorie ' Überführung der innermedialen Kontakte in die physische Welt' ausführlicher eingehen.

F: Was bedeutet IRC für dich ganz allgemein ?

A: (...) Das IRC ist für mich einfach ein Sozialkontakt. 81

Diese Aussage und vor allem der von Tom verwendete Begriff „Sozialkontakt" weisen daraufhin, daß er durch das Medium mit Menschen in Berührung kommen möchte. Der Begriff „Sozialkontakt" deutet in gewisser Weise Toms Gemeinschaftsdenken an, da ' sozial' auch das gesellige Zusammenleben beinhaltet (vgl. Duden, 1963). Somit ist IRC bezüglich seiner sozialen Qualitäten für Tom offensichtlich ein Ort der Geselligkeit, in dem es menschlich und hilfsbereit zugeht und wo Kontakte geknüpft werden können.

Das Soziale am IRC zeigt sich auch, wenn es um den idealistischen Ansatz der IRC- Pioniere geht:

A: (...) Und natürlich aus einem gewissen Idealismus heraus, was da eigentlich laufen soll. Also dieser Idealismus heißt eben, daß die IRC- Server nicht dazu da sind, sich zu bekriegen, das ist kein Videospiel, sondern eigentlich dazu da ist, daß sich die Leute unterhalten können. (...) 43

Der Gegenpol zu der zwischenmenschlichen Kommunikation im IRC scheint für Tom das computergenerierte Videospiel zu sein, in dem zumeist das Bekriegen im Mittelpunkt steht, soziale Aspekte also außen vor bleiben. Die Aussage „was da eigentlich laufen soll", ist idealistisch angehaucht. Offenbar steht die IRC- Technik und ihre Aneignung im Zusammenhang mit der Verwirklichung idealer Kommunikationsmöglichkeiten. Sie soll den Einzelnen durch die mediale Anbindung an einen immer erreichbaren globalen Pool von Menschen dazu in die Lage versetzen, sich jederzeit mit anderen zusammenzuschalten und interagieren zu können.

Eine weitere Qualität des Mediums sieht er in der Vereinfachung der Kontaktherstellung wie auch der Kontakterhaltung:

A: (...) vergleichbar, wie wenn man (...) einem normalen Menschen, der nicht in dem Medium aktiv ist, wenn man dem plötzlich sein Telefon wegnehmen würde. Ich meine, der müßte jetzt auch nicht seine Sozialkontakte abbrechen, der könnte immer noch seine Briefe schreiben, der könnte immer noch in die Eckkneipe gehen Aber es ist halt irgendeine Vereinfachung dieser Kommunikation, ist einfach nicht mehr da. (...) Also ich glaube, daß eine Menge Kontakte mit Ircern abbrechen würden, wenn ich es nicht mehr hätte. (118)

A: (...) Es ist eine Vereinfachung der Kommunikation, man kann mit den Leuten ja trotzdem noch in Kontakt treten, aber weil es nicht mehr so einfach ist, tut man es nicht...Irgendwann sind natürlich schon die Leute weg, aber hm... ja, (unverständlich) scheitert an dem erhöhten Aufwand, den man da hat. (119)

Für Tom trägt IRC dazu bei, das In- Beziehung- treten mit Menschen zu vereinfachen, weil der Aufwand, den er dafür aufbringen muß, ihm vergleichsweise gering erscheint. Mit Hilfe von IRC muß er seine Bekannten und Freunde vermutlich weniger aktiv kontaktieren, sondern kann seine „Ircer" einfach antreffen. Die Kontaktherstellung und -erhaltung verläuft demnach in gewisser Weise ökonomischer. Der Kontaktabbruch zu vielen Ircern würde dann eintreten, wenn er keinen Zugang mehr zum Medium hätte. Seine Befürchtung geht wahrscheinlich auch damit einher, daß Tom - eben da es sich um Ircer handelt, die das IRC bevölkern - diese Menschen nicht in der nächsten Eckkneipe antreffen würde. So finden Verabredungen für außermediale Treffen wahrscheinlich auch vorzugsweise im Medium statt.

IRC dient ihm jedoch nicht nur zur vereinfachten Kontaktherstellung, sondern auch, um für andere erreichbar zu sein:

A: (...) Das ist eine gewisse Präsenz, 24 Stunden am Tag da drin und teilweise ist es wie ein Telefon oder Anrufbeantworter, wenn mir jemand eine Message schreibt, die sehe ich ja hinterher und wenn das noch eine Aktualität hat, werde ich ihm antworten und wenn sie keine mehr hat, ignoriere ich sie einfach. (...) (93)

Mit der Standleitung zum Netz ist Tom zwar nicht jederzeit - im Sinne einer Echtzeitkommunikation - verfügbar, doch zumindest symbolisch durch seinen Namen, vertreten. Möchte ihn jemand kontaktieren, kann derjenige ihm über den ' message-mode' eine Botschaft übermitteln. Ist Tom bei der eingehenden Nachricht aktiv online, kann er sie sofort beantworten, was dem Telefonieren gleichkäme. Bekommt er die Nachricht später zu sehen, ähnelt der Vorgang der Anrufbeantworterfunktion. IRC eignet sich demnach für Tom nicht nur zur Echtzeitinteraktion, sondern auch zur zeitlich verzögerten Kommunikation.

Durch die thematische Gliederung in Channels kann Tom wesentlich einfacher, als es offensichtlich für ihn in der physischen Welt zu bewerkstelligen ist, Gleichgesinnte antreffen, die seine sexuelle Neigung teilen:

A: (...) ich bin übers IRC an Bondage und SM gekommen, da hat es mir z.B. einen großen Dienst erwiesen, nech. Also das erste Mal, daß ich, also ich meine in meinem Umfeld, sowohl unter meinen Mitschülern, geschweige denn mit meinen Eltern konnte ich über so was überhaupt nie reden und wenn ich es versucht habe, bin ich sehr schnell an Grenzen gestoßen. Das ist klar, wenn ich das mit Leuten versuche, die da überhaupt keinen Bezug zu haben, das war für mich auch ein relativ großes Problem, irgendwelche Phantasien, die ich überhaupt nicht einordnen konnte und die ich mit keinem anderen teilen konnte. Im IRC bin ich dann damit in Kontakt gekommen, habe bemerkt, das ist etwas völlig normales, habe bemerkt, das ist ein Teil meines Lebens und ich bin auch nicht bereit, den zu verstecken. Das wäre halt vorher anders gewesen. 64

A: Da trifft man auch solche Leute, die so extremere, was heißt extremere, die so ausgefallene Interessen hatten, erst mal gestoßen und da gab es Bereiche, wo man in solche Themengebiete vordringen konnte. (...) 65

In Toms physischer Umgebung ließ sich offensichtlich kein Ansprechpartner finden, mit dem er über seine sexuelle Neigung - die ihm selbst erst mal klar werden mußte - hätte sprechen können. Erst die Begegnung mit Gleichgesinnten auf IRC -Ebene ermöglichte ihm einen inhaltlichen Austausch darüber, so daß er seine Phantasien einordnen konnte. Der Zusammenschluß von Gleichgesinnten auf medialer Ebene trägt demnach dazu bei, einen Bezugspunkt zu finden, in dem man seine Interessen und somit, in gewisser Weise, sich selbst vertreten sieht. Dafür würde zumindest Toms Aussage sprechen, daß die Bestätigung seiner Interessen durch andere ihm „eine Menge Selbstbewußtsein gegeben" hat, weil er „erkannt" hat, daß er mit seiner scheinbar außergewöhnlichen sexuellen Interessen nicht allein war. Die Identifikation mit seiner sexuellen Neigung war nun möglich und wirkt im außermedialen Bereich weiter. Das SM- Inventar, das für alle Besucher seiner Wohnung sichtbar von seinem Hochbett herabhängt, bestätigt diese Annahme. Es geht hier anscheinend um eine Art Auffanggemeinschaft für Nutzer, die ein spezielles Interesse verbindet. Sie können sich gegenüber der außermedialen Welt einen vertrauten Raum bilden, in dem sie vor gesellschaftlicher Ablehnung weitgehend befreit sind.

Sarah

Eine der erst benannten Möglichkeiten, die IRC Sarah eröffnet, besteht im „Leute kennenlernen":

A: (...) das ist eine Art Begegnungsstätte (...). 60

Sarah erlebt das Medium als „Begegnungsstätte", worunter sie vermutlich einen öffentlichen Ort versteht, an dem sich Gemüter unterschiedlichster Art immer wieder begegnen können, um Erfahrungen, Meinungen und ähnliches auszutauschen. Diese Begegnungsstätte nutzt sie seit ihrer Scheidung vermehrt, um ganz allgemein eine Alternative zu ihrem alten Bekanntenkreis aufzubauen, der von Kleinfamilien geprägt ist.

Mit Hilfe von IRC kann Sarah sich einen Bekanntenkreis aufbauen, der ihrer neuen Lebenssituation, Single sein, mehr entspricht:

A: (...) und da eben auch sich einen Bekanntenkreis aufzubauen, der neu ist und anders, bzw. wo man eben auch...wo Leute gemeinsam dieses Interesse haben (...). 9

F: Was ist das für eine Gemeinsamkeit der Leute ? Was für ein Interesse verbindet die Nutzer?

A: Hm, die Interessen sind da schon äußerst verschieden, aber einfach dadurch, daß alle da hinein gehen und in irgend einer Form auch aufeinander angewiesen sind, daß da was zustande kommt, dadurch hat man schon etwas gemeinsam oder eine Art gemeinsames Interesse. (...) 10

Die Gemeinsamkeit, von der Sarah hier spricht, bezieht sich nicht auf bestimmte Interessen, denn die „sind da schon äußerst verschieden". Gemeint ist wohl der Aspekt der Intersubjektivität, also die besondere Beziehung zwischen den Anwendern ihres Stammhannels, also ihr Zu-, Mit-, und Füreinander. Dies steht im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Interesse an Kommunikation im Medium. Es soll etwas „zustande komm[en]". Diese Aussage beinhaltete sowohl einen Entwicklungs- als auch einen Produktionsprozeß. Beide sind vom Bemühen jedes einzelnen Teilnehmers abhängig. Was genau zustande kommen soll, sagt Sarah nicht, wir vermuten, daß es um die Entwicklung einer gemeinsamen Kommunikationsbasis geht, von der aus sich weitere Interaktionsmöglichkeiten entfalten können.

Allein schon die Tatsache, daß Sarah über einen Interaktionsraum, eine Begegnungsstätte verfügen kann, macht IRC für sie so attraktiv:

A: (...) aber [man] ist auch mit Leuten eben einfach so beisammen, oder äh...unterhält sich (...). 7

A: (...) Das einzige, wo ich manchmal ein bißchen die Befürchtung habe, ist, daß ich ' s übertreibe ein klein wenig...Also zwei, drei Stunden am Tag und davon eben auch noch in der Arbeit manchmal, also daß das vielleicht ein wenig zu weit geht. (...) daß man sich vielleicht aufgrund der Einfachheit, die diese Sache auch innehat, es sich vielleicht etwas zu einfach macht...Weil Kommunikation dort so einfach läuft...Und man einfach auch wieder weg kann...Das ist so meine Befürchtung. 80

F : Was befürchten Sie da ?

A: Ja, daß es eine zu starke Eigendynamik annimmt. Weil' s eben sicherlich so ist, daß es einfacher ist, abends in der Jogginghose davor zu sitzen und nicht mich für' s Restaurant schick machen muß, zum Weggehen, also es ist bequemer und bringt mir trotzdem was. Ja, ist bequemer und auch diese Freundschaften kosten weniger...an wahrer zwischenmenschlichen Investition...also die sind auch schon Freundschaften, aber anders geartet. 81

A: (...) Das einzige, was ich manchmal vielleicht ein ganz klein wenig vernachlässige, ist die Arbeit. (...) 82

Die Verfügbarkeit über die Begegnungsstätte, die den Kontakt zu Menschen so bequem und einfach vonstatten gehen läßt, birgt aber auch die Gefahr in sich, daß ihre Nutzungsgewohnheit eine zu starke Eigendynamik annimmt. Hiermit spielt Sarah vermutlich auf eine Art Verselbständigung ihres Nutzungsverhaltens an. Diese könnte ihr die Kontrolle aus der Hand nehmen, wann, wo und wieso sie IRC anwenden möchte, so daß es zu einem exzessiven Gebrauch kommen könnte. Daß Sarah während ihrer Arbeit chattet, weist daraufhin, daß IRC nicht nur in ihrer Freizeit viel Raum einnimmt, sondern bereits in ihr Berufsleben eindringt. In Abschnitt (82) sagt Sarah sogar deutlich, daß sie wegen ihrer IRC Nutzung am Arbeitsplatz ihre eigentliche Aufgabe vernachlässigt. Der erste Schritt in Richtung ' Entgleisung' der IRC- Anwendung ist also in gewisser Weise schon getan. Dessen ist sich Sarah allerdings bewußt. Als bequem erlebt Sarah das In- Kontakt- treten mit anderen Menschen im Medium auch, da sie sich - anders als in ihrer physischen Umgebung - weniger darauf vorbereiten muß, im Sinne von Garderobe auswählen, in ein Restaurant gehen und ähnliches. Die Kommunikation verläuft offenbar besonders einfach, da Sarah sich zu jeder Zeit problemlos wieder aus dem Kontext entfernen kann, ohne mit negativen Folgen rechnen zu müssen. Ihre Handlung müssen sich hier scheinbar nicht an den üblichen bzw. gesellschaftlich festgelegten Interaktionsregeln orientieren, nach denen man sich beispielsweise erst verabschieden und einen Grund für sein Gehen ausdenken muß oder überhaupt nicht einfach so verschwinden kann. IRC ist also die bequemere Variante, Leute zu treffen. Abgesehen davon kosten die darin aufgebauten Freundschaften weniger an „wahrer zwischenmenschlicher Investition". Der hier aus dem Finanzwesen entnommene Begriff der Investition läßt darauf schließen, daß Sarah bei der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung auch auf den Kosten -Nutzen -Faktor achtet. Das weniger ' Wahre' kann sich - unserer Meinung nach - auf mehrere Komponenten beziehen. Die eher unbefangene Art, sich innerhalb des Mediums mit Menschen zu interagieren, kann leichter zu einem intimen und vertraulichen Verhältnis führen. Der Aufbau einer derartigen Beziehung wird in der außermedialen Welt wahrscheinlich aufwendiger und zeitintensiver sein und bezüglich der Selbstenthüllung mehr Überwindung kosten. Die Begegnung und Kontakthaltung an sich ist einfacher umzusetzen, da Sarah keine Strecken dafür zurücklegen muß. Was die emotionale Seite der Freundschaft betrifft, entwickelt Sarah womöglich weniger Gefühle und auch weniger Verantwortung gegenüber ihren medialen Freunden, weil eben kein körperlicher Bezug da ist.

Theoretisierende Zusammenfassung

IRC wird von allen unseren Interviewpartnern als sozialer Interaktionsraum verstanden. Dafür sprechen Bezeichnungen wie „Begegnungsstätte" oder „Sozialkontakt" und Aussagen, die sich auf ' gegenseitiges Einlassen' und ' Menschen kennenlernen' beziehen. Besonders attraktiv für die Nutzung ist, daß man einfach, bequem und zu jeder Zeit über diesen virtuellen Raum verfügen kann. Damit einher geht die Vereinfachung der Kontaktherstellung und -erhaltung, was aber auch Gefahren in sich birgt. Denn je leichter der Zugang zu Sozialkontakten erlebt wird, desto schwieriger kann die Kontrolle über diese Möglichkeit ausfallen. Hier wäre, im Hinblick auf die Interneteinführung auf betrieblicher Ebene, zu überlegen, ob der Netzzugriff am Arbeitsplatz nicht öffentlich plaziert werden sollte, um potentiellen Ausschreitungen in der Nutzung vorzubeugen.

Die Verfügbarkeit hebt sich sowohl zeitbezogen von den Möglichkeiten der physischen Welt ab - im Sinne von ' Wann kann ich jemanden erreichen ?' - als auch hinsichtlich des Aufwands, der bei außermedialen Treffen unweigerlich auftritt. Wo die positive Seite Bequemlichkeit und in gewisser Weise Ökonomisierung der Kontaktherstellung heißt, könnte sich die andere Seite in Richtung Vernachlässigung von Pflichten entwickeln. Abgesehen von der allgemeinen Verfügbarkeit über diesen Raum wird im Unterschied zum außermedialen Bereich vor allem das Kennenlernen anderer Menschen als leichter empfunden. Die bei vielen Menschen außermedial gegebene Befürchtung vor Zurückweisung und Ablehnung beim Ansprechen bleibt im Medium weitgehend aus, da man der Person eben nicht FTF gegenüber steht, sondern anonymisiert durch eine vermittelnde Instanz kommuniziert, die das „einfach mal [A]nchatten" erheblich erleichtert. Ein Verständnis von IRC als „Sozialkontakt" und „Begegnungsstätte" impliziert, daß der virtuelle Raum für dieses risikolose Ansprechen, geschaffen ist.

Was die konkrete Kontaktherstellung anbelangt, sind unsere Interviewpartner zumeist an Menschen interessiert, die ihnen in irgendeiner Weise ähneln - seien es Interessen, Einstellungen, Bedürfnisse oder Wesenszüge. Erste Einschätzungsmerkmale, die zum gewünschten Interaktionspartner führen können, werden über öffentliche Einzelaussagen oder Gespräche und die Nicknamen transportiert. Von den Gesprächsinhalten wird entweder ohne weitere Zweifel auf authentische Eigenschaften der jeweiligen Person geschlossen, oder die Inhalte werden einer genaueren Überprüfung unterzogen, indem Aussagen mit einem Photo der Person verglichen werden. Mit der Gegenüberstellung von Bild und Wort wird sozusagen die Einheit respektive Uneinheitlichkeit erschlossen, um nicht einer Identitätstäuschung zu erliegen. In der Anonymität des Mediums sehen manche Anwender offenbar die Gefahr. über Tatsachen getäuscht zu werden, so daß sie aktiv einen Bezug zur außermedialen Welt herstellen, um ein Gefühl von Sicherheit zu gewinnen. Der Phototausch kann jedoch auch als Versuch angesehen werden, die Anonymität - die offensichtlich nicht von allen Benutzern goutiert wird - aufzubrechen, um eine erste Vertrauensbasis auf zwischenmenschlicher Ebene aufzubauen, die zu einem persönlichen Bezug zum Gegenüber führen soll. Besonders interessant ist die Rolle, die den Nicknamen bei der Auswahl eines geeigneten Chatpartners zukommt. Ruft der Nick bzw. das Image, das er transportiert, Assoziationen hervor, die eigenen Erwartungen, Vorstellungen und Bedürfnissen bezüglich der Kommunikation entsprechen, oder kann man sich gar mit diesem Image identifizieren, ist er offensichtlich ein erster Prädikator von Anziehung. Wir nehmen an, daß die Tendenz, sich einen gleichartigen Partner zu suchen, damit zusammenhängen wird, daß Ähnlichkeit - wenn man sich sozusagen auf gleicher Wellenlänge befindet - als eine Art Garant für gut funktionierende Kommunikation verstanden wird. Darunter fällt wohl auch, daß die Bestätigung eigener Ansichten durch das Gegenüber wahrscheinlicher wird und zu behaglichen Gefühlen führen kann. Wie weit diese Ähnlichkeit geht, ob in Bedürfnissen oder Einstellungen, scheint vor allem auf die Beziehungsentwicklung Einfluß zu nehmen. Weitreichende Ähnlichkeit hinsichtlich der Bedürfnislage, wie z.B. Interesse an einem persönlichem Gespräch, ist sozusagen Voraussetzung für den Aufbau eines intimen Verhältnisses, in dem es um Einblick in die subjektive Weltsicht des anderen und um gegenseitige Selbstenthüllung geht. Unter solchen Umständen kann die Gleichartigkeit zur Freundschaft führen. Im Gegensatz zu innermedialen Bekanntschaften, bei denen es vorzugsweise um bindungsfreie Geselligkeit und Nutzenaspekte - im Sinne von Hilfestellungen - geht, ist die Freundschaft mit einem Mehr an persönlichem Engagement verbunden, was sich aus den Gesprächsinhalten ableiten läßt.

Zwischen inner- und außermedialen Freundschaften besteht der wesentlichste Unterschiede wohl darin, daß erstere durch die Unbefangenheit leichter und schneller zu einem intimen Verhältnis und somit zur Selbstenthüllung führen können, während letztere mit mehr Verantwortung und zwischenmenschlicher Investition verbunden werden. Im außermedialen Sektor kann die Annäherung an eine Person bis zu dem Punkt, wo dann Selbstenthüllung angebracht ist, vermutlich mehr Aufwand und Zeit beanspruchen. Vermutlich hängt die Entwicklung von Verantwortlichkeit bezüglich einer Freundschaft mit dem physischem Kontakt zusammen und nicht zuletzt auch mit der wohl höher bewerteten Bedeutung einer außermedialen Beziehung. Längerfristige Kontakte im IRC, ob Freundschaften oder Bekanntschaften, sind inhaltlich von einem Bezug zur außermedialen Welt geprägt, d.h. es werden Lebensereignisse thematisiert, die das gesamte Lebensumfeld betreffen. Langfristige Kontakte dienen ganz allgemein der Erweiterung des sozialen Radius. Kurzfristige Beziehungen - wie sie bei Linda vorkommen - beanspruchen wie längerfristige Kontakte zum Teil ein hohes Maß an Ähnlichkeit zwischen den Interaktionspartnern, damit die Kommunikation als positiv erlebt wird. Bei einmaligen Begegnungen oder kurzfristigen Kontakten spielen wohl weder ein tiefgehender Bezug zu Ereignissen, die das gesamte Lebensumfeld betreffen, noch das Interesse an einer ernst zunehmenden Freundschaft eine große Rolle. Vielmehr dürfte es einerseits um die Erfüllung von Unterhaltungsqualitäten gehen, die kein längerfristig angelegtes persönlich- soziales Engagement erfordern. Zum anderen ist möglicherweise die Überwindung von Einsamkeitsgefühlen relevant. Trotz der Flüchtigkeit dieser Begegnungen scheinen sich Bedeutungen herauszukristallisieren, die von der reinen Unterhaltung abgesehen, das Erfahren von neuen Ideen und Interaktionsformen umfassen und eher ego- und lustzentriert sein können, wie wir bei Linda gesehen haben. Bei kurzfristigen Beziehungen ist man wohl auch mehr an der Erhaltung der Anonymität interessiert, die einen eher spielerisch angehauchten Umgang mit anderen Menschen erlaubt. Kurzfristige Beziehungen sind daher zum einen eher spaßorientiert, andererseits dadurch gekennzeichnet, daß man im IRC die Gelegenheit hat, sich sozusagen am vielfältigen Hilfsangebot zu ' bedienen' - bis man z.B. von „traurig" zu „nicht- mehr- so- traurig" kommt - worauf man sich ohne weitere Verpflichtungen wieder entfernen kann. Im Unterschied dazu sind längerfristige Verbindungen vermutlich mehr durch eben diese Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dem anderen und durch ein Mehr an Ensthaftigkeit gekennzeichnet.

Des weiteren kann man, ob lang- oder kurzfristig, auf ähnliche Menschen oder Gemeinschaften treffen, die als Bezugssystem funktionieren und dabei helfen, sich selbst oder Interessen zu bestätigen und einzuordnen, so wie es bei Linda und Tom der Fall ist. Wichtig scheint hierbei, das Gefühl vermittelt zu bekommen, mit seiner besonderen Art oder seinen außergewöhnlichen Interessen auf der Welt nicht alleine zu stehen. Solch ein Bezugssystem kann aber, unserer Meinung nach, auch negative Konsequenzen mit sich bringen, nämlich dann, wenn beispielsweise sexuelle Präferenzen, wie die Pädophilie bestätigt und als ganz normal eingestuft werden.

 

4.4. IRC- Gemeinschaften und - Cliquen als Formen

sozialer Integration

Linda

Der Begriff Gruppe wird von Linda in erster Linie auf Channelgemeinschaften angewandt, nicht etwa auf die gesamte Userschaft. Die Existenz einer gruppenartigen Gemeinschaft macht sie an verschiedenen Kriterien fest, anhand derer ihre subjektive Definition ersichtlich wird. Ihre folgenden Aussagen stehen in einem Sinnzusammenhang, bei dem es darum geht, wie Linda sich selbst kurzfristig in eine Gemeinschaft integriert, was sie aber nur selten tut. Dabei fällt auf, daß diese Selbstintegration, verglichen mit dem Real Life, deutlich einfacher und auch schneller vonstatten geht. Linda liefert uns gewissermaßen ein Integrationsrezept, aus dem sich ihre Definitionen und Erfahrungen mit gruppenartigen Zusammenschlüssen im IRC herauslesen lassen.

A: Ja, wenn ich z.B. durch Zufall in ' nen Channel reinguck' , also z.B. in ' nen Städtechannel, z.B. Hamburg oder Bremen oder weiß nicht...ja, und da sind halt Leute, die kennen sich, und man merkt das auch, von wie die sich unterhalten. Die wissen halt irgendwie übereinander Bescheid und begrüßen sich immer und so (...). 6

Linda macht IRC- Gemeinschaftlichkeit an mehreren Kriterien fest. Das erste - und für eine informelle Gruppe wohl das am wenigsten erstaunliche - ist, daß sich die Mitglieder untereinander kennen, sich grüßen und bis zu einem gewissen Grad übereinander informiert sind. Das scheint sich auch in den Gesprächen, die in der Gruppe geführt werden, widerzuspiegeln, da Linda es an der Art der Unterhaltungen merkt. Das Wissen übereinander wird scheinbar dergestalt umgesetzt, daß es aus den Chats ersichtlich wird. Es ist nicht stillschweigend oder subtil vorhanden, sondern wird - so vermuten wir - gewissermaßen demonstrativ umgesetzt, um die Gemeinschaftlichkeit deutlich zu machen. Diese Demonstrativität könnte darin begründet sein, daß es im IRC schwieriger ist, Gruppenzugehörigkeit nach außen hin deutlich zu machen, da man weder physische Nähe noch äußerliche Merkmale wie Kleidung oder Frisur dazu heranziehen kann.

A: (...) ja, deren, hm, Arten anzunehmen, wie die sich halt unterhalten, die Art und Weise...gut, ich fang nicht an, irgendwie...sofort irgendwie...sofort äh, channelinterne Kürzel zu benutzen, also irgendwelche Sprachcodes oder so...das wäre ja dann auch wieder blöd, kann man nach ' ner Zeit vielleicht machen. Um dann noch mehr zu zeigen, daß man irgendwie...sich dieser Gemeinschaft zugehörig fühlt. 9

Eine ebenfalls vorhandene Form zur Herstellung von gruppeninterner Eigenartigkeit sieht Linda in der Verwendung der Sprache. Es gibt offenbar je nach Gruppe Eigenheiten im Sprachgebrauch, die allen Mitgliedern teilhaftig ist. Das beginnt bei der Art, sich zu unterhalten und steigert sich in der Verwendung eigener Ausdrücke und, wie es im IRC üblich ist, Abkürzungen, wodurch offenbar stärkere Zugehörigkeit ausdrückt wird. Ihre Wortwahl „Sprachcodes" und „Kürzel" suggeriert sogar ein gewisses Maß an Kryptologie. Man kann annehmen, daß Außenstehenden nicht sofort ersichtlich ist, was mit diesen Sprachformen ausgedrückt werden soll oder wie man sie anwendet. Die Verwendung von sprachlichen Eigenheiten erstaunt nur wenig. Im IRC ist Sprache das einzige Mittel, um sich zu präsentieren und darzustellen, weshalb es offensichtlich auch verwendet wird, um Gemeinschaftlichkeit zu definieren.

F: Was sind denn das für Indikatoren, daß man jetzt gruppenzugehörig ist...also Ihrem Ermessen nach?

A: Hmm, ja, irgendwie...Man versucht, auf dieser Ebene so ' ne Gruppe zu bilden. Durch...sich abzugrenzen durch Sprache und...hm...ja, durch bestimmte...durch bestimmtes Sich- Verhalten, was man aber, aber erst mal irgendwie beobachten muß (...).12

Linda spricht von Abgrenzung, also Maßnahmen zur Herstellung und Herausstellung von Eigenartigkeit. Dies bezieht sich auf eine sprachliche sowie eine Verhaltensebene. Gruppentum ist nach Lindas Ansicht geprägt von einer eigenen Art und Weise des Umgangs miteinander. Wie diese aussieht, erklärt sie nicht näher, der gruppeninterne Umgang ist wahrscheinlich auch von Fall zu Fall ganz unterschiedlich.

Linda versucht nur kurzfristig, sich in eine derartig definierte Gruppe einzubringen.

A: Ja, ich habe an dieser Gruppenbildung nicht so Interesse. Das wär' mir auch zu aufwendig...mich immer drum zu kümmern und jeden Tag reinzugehen. Ich will eher meine Sache da machen. 70

Linda hat an Gruppenbildung kein Interesse. Sie lehnt Aufwand im Sinne von regelmäßiger Präsenz und Engagement -was sie wohl mit ' Sich- kümmern- müssen' meint - zugunsten ihrer eigenen „Sache" ab. Sie möchte „keine Verpflichtungen haben". Linda spricht gewissermaßen die ' Kosten' an, die ihr bei Gruppenzugehörigkeit anfallen würden und die sie nicht zu zahlen bereit ist.

Dennoch versucht auch Linda, von Zeit zu Zeit Teil einer Gemeinschaft zu sein.

A: Und manchmal, hm, versuche ich, mich in so ' ne Gruppe einzubringen. Auch wenn die jetzt nicht unbedingt mir liegt, aber dann, hm, um zu gucken, wie was da halt abläuft und wie die eben sind...und hm.... 4

F: Und was ist dabei dran interessant?

A: Ja, weil es eigentlich so wenig mit mir zu tun hat. Ich versuche einfach, Teil ...also mich da irgendwie mit einzubringen, obwohl ich jetzt nicht...hm...unbedingt...ja, einfach Teil einer anderen Gemeinschaft zu sein, an die ich sonst nicht kommen würde. 5

Lindas Motivation besteht bei solchem Handeln in der Exploration von Gruppen und deren jeweiligen eigenen Verhaltens- und Umgangsweisen, die ihr in ihrer Gesamtheit eigentlich fern liegen. Das macht solches Handeln für Linda scheinbar erst interessant. Bei ihren Versuchen, sich in einer Gruppe zu etablieren, geht es nicht um langfristige Teilhabe, sondern um einen kurzfristigen Einblick in Gruppen und deren Bedeutungszuweisungen. Linda nähert sich gruppenartigen Zusammenschlüssen an, was aber nicht ihren sonstigen Interessen, vielleicht auch nicht ihrer Mentalität entsprechend ist. Gruppen scheine sich Linda kaum zur Identifikation anbieten. Zudem hat sie im außermedialen Bereich nur verminderten Zugang zu Gruppierungen. Im IRC hingegen gelingt es ihr recht einfach, sich einer fremden Gemeinschaft anzunähern. Im außermedialen Bereich agieren Gruppen in der Regel viel weniger öffentlich und können daher nur geringfügigeren Einblick bieten als im IRC. Gerade aber diese Einsehbarkeit und Öffentlichkeit ist, wie im nächsten Abschnitt ersichtlich wird, eine Voraussetzung dafür, sich Umgangs- und Verhaltensformen der Gruppe anzueignen.

A: Also man kann da nicht rein und gleich...Wenn man sich irgendwie nett unterhalten will, kann man nicht rein und gleich, irgendwie, sich selbst so absolut raushängen lassen, sondern muß erst mal gucken, wie' s abläuft. 12

A: (...)und [die anderen Gruppenmitglieder] eben sehen, daß ich mir Mühe geb' , mich mit denen zu unterhalten...ja, deren, hm, Arten anzunehmen (...). 9

Um diesen Einblick zu erlangen, muß sich Linda in die Gemeinschaft integrieren. Der Weg dahin führt über die Zurücknahme ihrer eigenen Person zugunsten des von ihr beobachteten gruppenspezifischen Handelns. Es ist also eine Anpassungsleistung, ja sogar eine Aneignung von „deren Arten" von ihr gefordert.

Neben dem explorativen hat dieses Handeln aber auch noch einen sozialen Aspekt:

A: Ja, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, die sollen sich eben auch mit mir beschäftigen, ja, äh, daß die Interesse haben (...). 9

Linda möchte trotz Ablehnung langfristiger Integration dennoch kurzfristig zur Gemeinschaft dazugehören. Die Zugehörigkeit manifestiert sich darin, daß sie „mitmischen" kann, sich die anderen mit ihrer Person auseinandersetzen, sie beachten und ihr Interesse entgegenbringen. Das könnte man als eine Kurzzusammenfassung der positiv- sozialen Auswirkung von Gruppenmitgliedschaft bezeichnen: Sie ist integriert, darf innerhalb der Gemeinschaft aktiv sein, also mitmischen und wird als Einzelperson von vielen anerkannt, man redet und beschäftigt sich mit ihr. Linda scheint also teilweise doch Bedürfnisse stillen zu müssen oder zu wollen, die innerhalb einer sozialen Gruppierung befriedigt werden können.

Sarah

Sarah hat mehrere Stammchannels, die im Rahmen eines Entwicklungsprozesses zu solchen geworden sind.

A: Ja, das ist so, es ist eine Sache, die so anfängt, daß ich eben öfters in einem mich sehen lasse...ne, noch anders, daß ich dort in einem Channel bin oder war, und mich dort mit ein paar Menschen gut ausgekommen und unterhalten habe, und das auch mehrere waren. Tja, dann ist das so eine Entwicklung, nimmt so ein wenig Eigendynamik an, daß, was macht man?, ich bin natürlich öfters hingegangen, weil ich eben wußte, da war' s schon mal sehr gut. (...) 14

Der Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Stammchannels bei Sarah liegt also in guter Erfahrung, die sie dort mit den anderen Benutzern gemacht hat. Im folgenden beginnt ein von „Eigendynamik" geprägter Prozeß, was impliziert, daß Sarah aus dieser guten Erfahrung heraus in jene Channels ging und sich in mehr und mehr die dortige Gemeinschaft integrierte. Das geschah wohl über Beziehungsbildung zu Einzelpersonen, die in ihrer Gesamtheit die Gemeinschaft konstituieren. Sarah betrachtet ihre Stammchannels aber nicht als ausgewiesene Gruppe, da sie diesen Begriff als „' n bißchen zu starr" betrachtet im Bezug auf die im IRC gegebene Flexibilität. Sie könnte mit dem Terminus Gruppe, ähnlich wie Linda, Verpflichtungen assoziieren, die sie eingehen müßte, oder aber Hierarchien und Führungspersonen, weshalb sie wegen des Vorhandenseins einer solchen Struktur die Gruppe als „starr" erleben könnte.

A: (...) aber es ist durchaus so, daß da, da...so ein gewisses Gemeinschaftsdenken oder -gefühl, äh, mit dabei ist. 15

A: Z.B. bei den Channels, in denen ich öfters bin; wenn da jemand, den man, äh, kennt, ewig nicht mehr auftaucht, kommt dann, daß man sich da ein wenig drüber wundert; und sich fragt: ' wo iss' n der?' Weil' s ja schon irgendwie...auch schon...ein bißchen was...Gemeinschaftliches ist oder so was...Und auch durchaus für einander, hmm, was empfindet oder ähh,...hmm, Interesse am anderen hat. 57

Für Sarah scheint der Begriff der Gemeinschaft zutreffender, da die Leute eher emotional miteinander in Bezug stehen. Es besteht eine Anteilnahme am Schicksal anderer regelmäßiger User, und die Gemeinschaft ist ohne explizite Definitionen als Gemeinschaft und ohne Verpflichtungen aus dem Denken und Fühlen seiner Mitglieder entstanden. Öftere Präsenz wird wohl nicht als verpflichtend empfunden, sondern scheint nur deshalb angebracht, um die anderen nicht in Sorge zu versetzen. Die Gemeinschaftsmitglieder haben also ein emotionales Interesse aneinander. Sie sind einander nicht gleichgültig, was vermutlich Sarahs Einstellung dem Stammchannel gegenüber einen positiven Anstrich verleiht. Im Allgemeinen wird Sorge und emotionales Interesse aneinander als etwas Gutes bewertet. Womöglich fühlt sich Sarah durch die in ihrem Stammchannel bestehenden positiven Gefühle zueinander während eines IRC- Aufenthalts sozial integriert, obgleich sie allein am Computer sitzt. Dieses Gefühl könnte auch außermedial fortwirken.

Verschiedene Kriterien sind bei Sarah für die Entwicklung eines Stammchannels ausschlaggebend.

A: (...) denn ich bin viel auf diesen Alterschannels, das sind an und für sich meine Stammchannels, wo ich denke, daß da mehr mir entsprechende Menschen sind.(...) 29

A: Die Channels, die mit meiner Altersgruppe in irgendeiner Form zusammenhängen und andere, s' gibt noch ein paar, wo ich das Gefühl habe, da Leute meiner Wellenlänge zu finden. (...) 49

Sarah scheint in ihrer Channelgemeinschaft Menschen finden zu wollen, mit denen sie durch eine gleiche Wellenlänge verbunden ist. Bei Leuten desselben Alters geht sie wohl davon aus, mit ihnen etwas gemeinsam zu haben, über das eine längerfristige Beziehung innerhalb der Gemeinschaft funktionieren kann. Das gleiche Alter dient als gemeinsame Basis, über die sich wahrscheinlich andere Ähnlichkeiten - Interessen, Lebenssituation wie z.B. Kinder usw. - ergeben. Solche Menschen sind ' ihr entsprechend' . Damit meint Sarah wahrscheinlich, daß sie sich gut mit ihnen versteht, etwas mit ihnen anfangen kann, und daß somit auch eine ähnliche Umgangsform an den Tag gelegt wird. Sarah ist aber nicht auf Alterschannels festgelegt, auch in unspezifischeren Kanälen hat sie vom Gefühl her eine ähnliche Einschätzung.

Sarah wünscht sich eine Atmosphäre, die „nett" ist, in der es „was schönes ist, was man macht". Später geht sie auf dieses Thema noch einmal etwas intensiver ein. Ihre Aussagen stehen dabei auch im Zusammenhang mit den im Stammchannel besprochenen Themen, bei denen es sich unter anderem oft um persönliche Belange oder Probleme der User handelt. (siehe auch Kategorie Õ Bewältigung unterschiedlicher Problematik und Persönlichkeitsfindung' )

A: (...) Es ist ja auch von der Atmosphäre her, so wie ich das empfinde, durchaus sehr freundlich und hilfsbereit...Also an und für sich immer eine ganz nette Atmosphäre, die da herrscht. 68

F: Was für einen Stellenwert hat denn diese Hilfsbereitschaft?

A: Nun ja, es ist einfach eine ganz schöne Sache, wenn man sich mal ansieht, was in der Welt passiert; und wie die Leute sind. Wie die Leute auf der Straße sich gegenseitig anpöbeln und häßlich zueinander sind...und dann einfach auch zu sehen, daß es anders geht. Daß da wirklich Interesse und Einfühlung herrscht und....man kann auch feststellen, daß der Mensch letztenendes einen guten Kern hat. 69

Sarah polarisiert deutlich zwischen der Atmosphäre und dem Umgang innerhalb des Mediums und dem außermedialen Alltag. Sie erlebt die außermediale Welt offenbar als unfreundlich und feindselig, ebenso wie sie an außermedialen Umgangsformen der Menschen miteinander wenig Gefallen findet. Dem entgegengesetzt erlebt sie Atmosphäre und Umgang in der Channelgemeinschaft. Hier findet Sarah Freundlichkeit, gegenseitiges Interesse, den Willen, auch Engagement und Einfühlung aufzubringen sowie Hilfe zu leisten. Es handelt sich offenbar um Werte und empathische Fähigkeiten, die sie sonst vermißt, in ihrer Gemeinschaft aber antrifft. Das hat sogar eine Auswirkung auf ihr allgemeines Menschenbild, da Sarah sieht, daß der Mensch doch nicht so übel ist, wie sie es wahrscheinlich aus der Alltagserfahrung heraus feststellen mußte. Sarahs unerfreuliche Einschätzung der außermedialen Welt scheint mit ein Grund zu sein, weshalb sie sich beizeiten in eine innermediale Gemeinschaft zurückzieht.

Sarah ist sich bewußt, daß es zwischen Alltag und IRC einige Unterschiede gibt, anhand derer sie sich das Phänomen der größeren Freundlichkeit, Empathie und Ruhe im IRC erklärt:

F: Was meinen Sie, wie das kommt? Daß das ausgerechnet in so einem Medium zum Tragen kommt?

A: Ja, ich glaube vielleicht einfach deshalb, weil die User da vor ihrem Rechner sitzen und es sie auch nicht soviel kostet...Die sitzen da, weil sie es so in dem Moment vielleicht auch wollen, und weil man letztenendes ja auch bloß tippen muß. Wohingegen, wenn man im Alltag, sagen wir an der Supermarktkasse, wenn einem da jemand Probleme erzählen will, dann macht man das nicht, dann will ich weiter, und nicht sich mit dem hinsetzten und Engagement aufbringen. Beispielsweise. Also der Alltag ist eben doch immer sehr hektisch. 70

Sarah kann sich also das Phänomen des einfühlenden Engagements rational erklären. IRC und die Gemeinschaft nimmt sie gerne in Anspruch, um sich gewissermaßen in eine bessere und menschenfreundlichere Realität zu versetzen.

Inhaltlich werden in ihrem Stammkanal, so erzählt Sarah, oftmals persönliche Themen besprochen, die ihr Denken, Handeln, ihre Erlebnisse oder Probleme, sowohl auf ernster als auch banalerer Basis, betreffen - siehe auch Kategorie 4.6. zu Bewältigung unter schiedlicher Problematik. Beim im Stammchannel stattfindenden Diskurs sind in erster Linie die User selbst die Gesprächssubjekte. Die einzelnen Anwender veröffentlichen den anderen gegenüber ihr Selbst und machen ihre Existenzform einsehbar. Da es sich um einen altersgeprägten Channel handelt, vermuten wir in diesem Kontext, daß auch eine Orientierung an bzw. ein vergleichende Betrachtung von Lebensformen der anderen Anwender stattfindet.

A: (...) und es bringt mir auch...das ist so ein wenig ein Forum, oder nein...es ist auch ein wenig Publikum. 75

F: Aha? Ja?

A: Nicht, daß ich jetzt unbedingt der Star sein will, aber auf jeden Fall sind einige Leute da, die sich mit mir, meinen Äußerungen, beschäftigen. Sich damit auseinandersetzen und mir dazu sagen, was sie darüber denken. Es ist eine schöne Form von Austausch, die wir da haben. 76

Bedeutsam scheint für Sarah in diesem Zusammenhang zu sein, daß sie in ihrer IRC- Gemeinschaft überhaupt Menschen hat, die ihr zuhören, die sich eingehend mit ihren Äußerungen auseinandersetzen und „ein bißchen" als „Publikum" fungieren. Publikum ist hier also nicht im Sinne nur rezipierender, passiver, sondern aktiver Zuhörerschaft gemeint, mit der ein dialogischer Austausch stattfindet. Es geht nicht um Publikum im Sinne eines Star- Bewunderer- Verhältnisses, eher scheinen alle gleichberechtigt. Die anderen sind nur darum das Publikum, weil Sarah eben temporär diejenige ist, die von sich spricht. Es sei die Vermutung in den Raum gestellt, daß es Sarah im außermedialen Bereich an einer ausreichenden Anzahl aktiver Gesprächspartner zu sie betreffenden Themen mangelt, da sie solche Diskurse so intensiv im IRC betreibt.

F: Ja. Ist denn da die Anonymität aufgehoben?

A: Ein wenig dahingehend, daß man sich einfach doch bereits auch ein bißchen näher kennt. Also die ersten Fragen...also ich würde sagen, worüber redet man mit irgend ' nem Fremden? Da fragt man dann halt mal, woher bist du und was machste so, und von daher hat man dann auch ein paar Angaben. Und es entwickelt sich mit der Zeit so, daß man dann nun mal mehr drüber weiß. (...) Also da weiß man dann einiges übereinander...Die Anonymität ist natürlich dahingehend nicht aufgehoben, daß man sich noch nie begegnet ist. (...) 17

Bei Sarah scheint es normal zu sein, sich bei Fremden - hier springt sie offenbar zurück in die Anfangszeit ihrer Channelgemeinschaft - zu Beginn der Beziehung nach außermedial bezogenen Umständen zu erkundigen, was sich im Laufe der Zeit dann wohl intensiviert. In den Gesprächen übereinander lernen sich die einzelnen Anwender besser kennen und es entsteht über die Zeit hinweg eine Einschätzung, wer hinter der IRC- Persona steht - z.B. was die Leute machen oder wie ihre Lebensumstände sind etc.. Das führt zu einer Verminderung der IRC- eigenen Anonymität und somit wahrscheinlich auch zu einer verstärkten Gemeinschaftlichkeit.

Sarah berichtet von Veränderungen in ihrem direkten sozialen Umfeld, die sich aus ihrer Scheidung und daher ihrem neuen Familienstand als Single ergeben haben. In ihrem Freundeskreis sind vorwiegend Kleinfamilien, mit denen sie nun weniger Interessen teilt.

A: (....) [die vorwiegend aus Kleinfamilien bestehenden Bekannten] machen solche Familienausflüge und dergleichen...Und diese Familie, das ist eine Sache, die bei mir natürlich schon irgendwie fehlt...und äh, IRC ist nun mal eine sehr abwechslungsreiche Weise, sich abends, wenn Sohnemann im Bett ist, zu beschäftigen...Und da eben auch sich einen Bekanntenkreis aufzubauen, der neu ist, und anders, bzw. wo man eben auch...wo Leute gemeinsam dieses Interesse [ IRC ] haben (...) 9.

Offenbar dient IRC Sarah auch als Beschäftigungsalternative. Sie selbst ist nun allein erziehend. Ihre Freunde bleiben vermutlich abends bei der eigenen Familie und haben, wie Sarah andeutet, durch die unterschiedliche Lebenssituation andere Interessen. Mit dem neuen Bekanntenkreis, den sie sich durch das Medium aufbauen kann, meint Sarah wohl die anderen Nutzer in ihrer Channelgemeinschaft. Dieser Bekanntenkreis ist neu und anders, wobei Sarah nicht deutlich sagt, was daran anders ist. Es könnte bedeuten, daß sich die IRC- Bekannten von ihrem außermedialen und in Kleinfamilien eingebundenen Freundeskreis unterscheiden und besser zu ihrer aktuellen Lebenssituation passen. Anzunehmen wäre auch, daß sie sich mit „anders" auf den medialen Hintergrund bezieht, daß man sich also im IRC kennenlernt und FTF noch nicht begegnet ist. Weiterhin spricht Sarah offenbar die Unterschiedlichkeit der Leute an, denn „die Interessen sind da schon äußerst verschieden", aber man ist durch das Chatten im IRC als gemeinsamen Nenner verbunden. Es scheint hier neben einer abendlichen Beschäftigung auch um eine Alternative zu ihrem außermedialen Bekanntenkreis zu gehen, mit dem sie mittlerweile weniger Gemeinsamkeiten teilt als vor der Trennung von ihrem Mann.

Sarah, die sich hauptsächlich in nicht- ortsgebundenen Channels aufhält, ist scheinbar auch fasziniert von der Internationalität und Globalität, die durch IRC in ihr Leben gekommen ist.

A: (...) Und dann, äh, habe ich dort auch die Möglichkeit, Leute kennenzulernen. Das bezieht sich einerseits auf internationale Basis, also daß ich...ich bin keineswegs nur in deutschen Channels unterwegs, sondern auch global. Was natürlich auch einen Reiz ausmacht, da auch Bekannte zu haben, oder fast Freunde zu haben, die aus Großbritannien, Australien oder sonstwo kommen, ist eine ganz schöne Angelegenheit. (...) 12

Sarah steht in Diskurs und Kontakt mit Leuten, „die nicht mal von hier um die Ecke" sind, sondern die aus dem Ausland stammen. Das übt einen Reiz auf sie aus. So ist z.B. eine ihrer engeren Channelbekannten eine Schottin. Das Kennen von Menschen anderer Nationalität gibt ihrem IRC- Aufenthalt im Stammkanal wohl einen Anstrich von Exotik und Kosmopolitismus und stellt vermutlich eine Erweiterung ihrer sozialen Möglichkeiten dar. Interessant ist, daß Sarah auf eine bestimmte Ähnlichkeit achtet, die sich in der gleichen Wellenlänge äußert und gleichzeitig von ihren Bekanntschaften mit Menschen aus anderen Ländern fasziniert ist, wobei wohl auch Interesse an Fremdem mitschwingt.

Robin

Gleich zu Anfang wird offensichtlich, daß nicht jeder Stammchannel automatisch auch das Teilhaben an einer gruppenartigen Gemeinschaft bedeutet. Robin hat zwei Stammchannels, wobei es sich bei einem um eine Art Kontaktkanal handelt, bei dem es also um das Finden von Einzelpersonen zum Zwecke eines netten Flirts geht, während der andere - ein Ortschannel - doch eher der Bedürfniserfüllung nach Gemeinschaft und Kontakt dient. Mitglied dieser Gemeinschaft zu werden, scheint nicht ganz einfach zu sein.

A: Der Anfang ist schwer. Da muß man erst mal so drei Leute kennen, und so mit denen chatten. Weil am Anfang, im Channel...weil da ist ja immer so, im Channel, ' ne kleine Clique. Von so Leuten, die immer da sind und sich untereinander kennen. Und wenn man da probiert rein zu kommen, dann ist man immer erst mal Der Neue. Tja, das ist nun mal so. Aber ich hatte da nicht so Probleme, das Eis zu brechen...Weil ich ja nun doch auch ein ausgefallenes Hobby hab' , und da läßt sich dann auch einfacher ein Gesprächsthema finden. Und da erkennen die dann, daß man vielleicht doch nicht so ganz daneben ist. .naja... . 78

Robin thematisiert die Schwierigkeit der Integration. Die Ausdrucksweise „Eis brechen" und „nicht ganz daneben" vermitteln den Eindruck, daß die Clique Nicht- Mitgliedern gegenüber eine recht abweisende, kalte, unnahbare und den Neuen erst mal als tendenziell schlecht einstufende Einstellung hat. Mit der Betitelung als „Der Neue" wird die Nicht- Integration in die Gemeinschaft auch deutlich zum Ausdruck gebracht, die Integration eventuell erschwert. Robin scheint das aber normal zu finden und wollte wohl trotz dieser ablehnenden Haltung Teil der Clique werden. Worin diese Anziehungskraft liegt, wurde uns nicht deutlich. Wir vermuten jedoch, daß er generell an sozialer Integration interessiert ist und Gemeinschaftsteilhabe für Robin einen guten Ausgangspunkt darstellt, ein innermediales, vielleicht zum Teil bald auch außermediales Beziehungsnetzwerk von IRC- Freundschaften zu knüpfen. Aufgrund der Haltung der Clique, die als abgrenzend bezeichnet werden könnte, war es für Robin hilfreich, einige Einzelpersonen aus der Gemeinschaft zu kennen, die ihm Zugang verschafften. Er konnte sich durch die ihm bereits bekannten Cliquenmitglieder und durch sein Hobby - Standardtanz - das ihm die Bereitstellung interessanter Gesprächsthemen ermöglicht, im Channel etablieren. Die Teilhabe hat sich dann, wie er im nächsten Abschnitt passiv ausdrückt, „ergeben".

Ein Indikator für Robins Stellung und Integration in der Clique ist seine Funktion als Channel- Operator, die, wie wir beobachtet haben, auf diesem Kanal fast alle - offensichtlichen - Cliquenmitglieder innehaben. Der Klammeraffe vor dem Spitznamen scheint hier nach außen hin die Zugehörigkeit zur Clique sichtbar zu demonstrieren. Das ist auch deshalb wahrscheinlich, da in der Regel eine eher geringe Zahl Operators pro Channel ausreichend sind, hier aber ungefähr 80% der User diese Stellung innehaben. Darüber hinaus erhalten hinzukommende Nutzer, die von den anderen freundlich begrüßt werden und daher augenscheinlich zur Clique gehören, ebenfalls sogleich den Operatortitel.

F: Wie siehst du denn deine Op- Stellung, und wie kommst du überhaupt dazu?

A: Da kommt man zu, indem man so die ersten Leute im Channel kennt und die merken, daß man sehr oft da ist. Und die dann merken, daß man es ernst meint. Und in Gesprächen dann, daß man, äh, sagen wir ' nen halbwegs normalen Charakter hat, nicht irgendein Spinner ist. 65

Die Op- Stellung hat hier eindeutig etwas mit Integration, Akzeptanz und Einstellungsähnlichkeit innerhalb der Gruppe zu tun. Es ist erforderlich, die „ersten" User des Channels zu kennen, wobei nicht klar ist, ob Robin hier auf deren Stellung oder deren zeitliche Präsenz in der Clique anspricht. Beides deutet jedoch darauf hin, daß es sich um Personen mit Einfluß handelt, die unter Umständen als Meinungsführer fungieren. Ihnen muß klar werden, daß man ernsthaftes Engagement für den Channel, vermutlich auch Übereinstimmung mit dortigen Gepflogenheiten aufbringt, und gleichzeitig charakterlich, also als Persönlichkeit, für normal befunden werden kann. Normal als Adjektiv richtet sich in diesem Kontext wohl auch nach den Normen, die in der Channelgemeinschaft vorherrschen. Darüber hinaus muß bedacht werden, daß mit der Operatorstellung verschiedene Einwirkungsmöglichkeiten verbunden sind, so z.B. die Möglichkeit, durch das Kicken unerwünschter User „für Ordnung [zu] sorgen", sofern diese nicht den Regeln und Gepflogenheiten, die der Operator für channeladäquat einschätzt, entspricht. Somit kann diese Funktion als eine Art Auszeichnung oder Zugehörigkeitsmerkmal interpretiert werden.

Aus den Kick- Begründungen lassen sich unserer Meinung nach die gruppeninternen Regeln ableiten, die in Robins Stammchannel herrschen. Laut Robins Aufzählungen sind massive persönliche Angriffe, Aussagen oder Unterhaltungen „ auf tiefem Niveau, oder weit unter der Gürtellinie" oder „Kinderpornos" in diesem Channel unerwünscht und werden mit Rauswurf sanktioniert. Am Beispiel Kinderpornographie wird erkennbar, daß sich gemeinschaftsinterne Regeln nicht nur an der Netiquette orientieren, sondern von dieser abweichen können, da Kinderpornographie aufgrund der angestrebten Freiheitlichkeit des Netzes ansonsten geduldet wird, hier aber nicht.

In Robins Channelclique kennen sich die Teilnehmer untereinander. Da er nicht „der typische Channelhopper" ist, hat Robin die anderen Cliquenmitglieder im „Laufe der Zeit kennengelernt". Offenbar beschränkt sich Robin, was seine sozialen Aktivitäten betrifft, hauptsächlich auf seine Stammkanäle.

A: Und mit der Gruppe ist es einfach schön, wenn man sich untereinander kennt. Da wird so ' n bißchen diese Anonymität vom IRC genommen. Es ist weniger unpersönlich...heimischer! (...) 81.

Der Austausch der Gruppenmitglieder untereinander führt also zu einem gegenseitigen Kennen. Das mindert die medial bedingten Eigenschaften Anonymität und Unpersönlichkeit, die in ein Gefühl des Aufgehobenseins, des Heimisch- Fühlens transformiert werden. Wir nehmen an, daß hierin eine Erklärung für die Formation von Gruppen im IRC begraben liegt: Nur so können langfristig die genannten medienimmanenten Eigenschaften - die viele vermutlich als tendenziell negativ erleben - vermindert und durch positivere Gefühle ersetzt werden. Robin schreibt seiner Gemeinschaft auch unterstützende Funktionen zu. Er rechnet damit, daß im Falle eines schlimmen Ereignisses die Gruppe ihm „Trost spenden" und ihn „wieder auf[ ]bauen" könnte. Um sich all das zu erhalten, zeigt Robin in seinem Cliquenchannel regelmäßige Präsenz.

A: (...) Ich geh' manchmal wirklich nur rein, bloß um zu sagen: Hi Leute, also mich gibt' s noch, bin im Moment beruflich so eingespannt und unimäßig, im Moment ist hier mit mir nicht groß Chatten, ich wollte nur sagen, daß ich noch lebe (...). 116

Offenbar ist in dieser Gemeinschaft eine gewisse Form regelmäßiger oder zumindest öfterer Anwesenheit nötig, sonst würde sich Robin nicht ' abmelden' . Hier könnte ein Zusammenhang mit der Schnellebigkeit eines Mediums wie IRC bestehen und mit der Tatsache, daß innerhalb der Channels meist Fluktuation herrscht: Robin sorgt demnach vor, um nicht in Vergessenheit zu geraten und seine weiterhin bestehende Gemeinschaftszugehörigkeit zu verdeutlichen.

Wenn Robin in seinem Cliquenchannel ist, unterhält er sich dennoch eher mit den Bekannten im Einzelchat. Die öffentlichen Gespräche im Channel eignen sich nicht so gut für seine Interessen - nämlich persönliche Themen zu besprechen - da die Kommunikation innerhalb der Gruppe von ihm als „meistens recht flach und oberflächlich" erlebt wird. Gemeinschaftshandlungen bestehen eher in spaßig- oberflächlicher Kommunikation.

A: (...)Wenn einem wirklich mal der Sinn nach blödeln steht, dann passiert das auch, daß man da im Channel so was wie ' ne virtuelle Kissenschlacht anzettelt, oder einfach absoluten Blödsinn macht. Und wenn da ' n paar Leute bei mitmachen, ist das absolut spaßig. 61

F: Aha, und was ist daran spaßig?

A: Wenn viele verschiedene da zusammen kommen - bleiben wir mal beim Beispiel Kissenschlacht - und jeder da irgend ' ne Idee einbringt...also schreib' ich dann von ' nem großen fetten Daunenkissen und zieh` das einem über ' n Kopf, dann kommt vom dritten die Bemerkung, daß er das im letzten Moment in ' nen Baseballschläger umgewandelt hat (kichert), und dann kommt der vierte mit Riechsalz (begeistert), ganz superlustig. Einfach nur Rumblödeln. 62

Das Channelgeschehen selbst ist also nicht von Ernsthaftigkeit geprägt, diese wird in die privaten Unterhaltungen gelegt. Robin berichtet von einer virtuellen Kissenschlacht, wobei auffällt, daß in der Gemeinschaft mit der Virtualität gespielt und diese als Möglichkeit, Spaß zu haben, genutzt wird. Jeder kann, nur abhängig von seiner Phantasie und Kreativität und nicht von physikalischen Gegebenheiten, sich und seine Gedanken einbringen, aufeinander reagieren und weiterhin auch in das Handeln anderer eingreifen kann. Außermedialer Realitätsbezug und die daraus resultierenden Handlungsbegrenzungen fallen in so einem Szenario weg, eine neue Realität wird gemeinschaftlich konstruiert, was Robin, wie aus seiner Stimmlage ersichtlich wird, großen Spaß bereitet. Die Virtualität bewirkt also eine Grenzverschiebung und geht über normale Kommunikationsinhalte weit hinaus.

Ansonsten hält sich Robin selten ausgiebig im Channel selber auf.

A: (...) Da [beim Aufenthalt im Channel] geht' s also wirklich bloß drum, zu gucken, wer ist drin...Und auch gesehen zu werden. Für die Leute, die einen schon kennen: aha, XYZ ist da, den klick' ich doch gleich mal an, und dann kann man gleich plaudern. 71

Der Channel dient mehr als Treffpunkt für Robin und seine Bekannten, mit denen er sich dann im Einzelchat weiter unterhält. Der Treffpunktfunktion des Stammchannels kommen auch technische Gegebenheiten zugute, da automatisch angezeigt wird, wer auf dem Channel ist und wer hinzukommt, so daß eine Begrüßung oder Kontaktaufnahme sogleich möglich ist.

Tom

A: (...)Ja, und da habe ich sozusagen irgendwie Leute kennengelernt, bißchen Small Talk gehabt und rumgewitzelt und irgendwie meine besonderen Freunde gehabt, die mir geholfen haben, zur Seite gestanden haben, das ganze ein bißchen besser zu verstehen und bin dann so in diese Clique reingerutscht (...). 3

Tom begann schon vor ca. 6 Jahren mit IRC und lernte dort gleich Leute kennen, mit denen die Beziehungen wohl, aufgrund des „Small Talk", eher oberflächlich waren. Er hatte aber auch „besondere Freunde", die ihn lehrerhaft einführten. ' Besonders' könnten sie wegen ihres höheren Technikverständnissses sein, das ihnen erlaubt, andere einzuführen, denn Technik ist für Tom ein Kriterium, das auf jeden Fall mit Profilierung und Ansehen zu tun hat. Dadurch ist Tom dann „in diese Clique reingerutscht", es war also keine geplante und erstrebte Handlung, Cliquenmitglied zu werden. Tom spricht bei seiner Gemeinschaft immer von der Clique, wobei aber nicht ganz klar wird, ob er sich auf IRC gesamt, einen Channel, mehrere Channels oder verschiedene User aus mehreren Kanälen bezieht, die eine Clique bilden bzw. ob es mehrere Cliquen gibt. Letzteres scheint in Anbetracht seiner Aussagen zur Struktur dieser Gruppierungen am plausibelsten:

A: (...)also ich habe 3 Channels (...) aber X ist auch nicht so ein schnelllebiger Channel, da gibt' s zwar immer wieder so Randerscheinungen von irgendwelchen Leuten, die da mal eine Zeit lang da sind und auch intensiv mitwirken, aber es gibt einen harten Kern in X. Auf X könnte ich auch in 2 Jahren wieder drauf kommen und würde da noch Leute kennen. (...) Y ist einer der größeren deutschen Channels,...ja,...aus Y vielleicht 20, 30 Leute aus dem engeren Kern (...). 142

Aus diesen Aussagen läßt sich schließen, daß sich die Kanäle in ihrer Beständigkeit unterscheiden, daß aber immer ein konstanter Kern von Nutzern da ist, die intensiv am Geschehen beteiligt sind und vermutlich die Clique innerhalb des jeweiligen Channels bilden. Um also zu dieser Kerngemeinschaft dazuzugehören, ist offenbar engagierte Mitwirkung nötig.

 

A: (...) weil das eben eine begrenzte Clique ist und man kennt sich untereinander und äh, da finden natürlich Leute, die von außerhalb dieser Clique kommen und die auch von der Technik und dem Medium und von dem, wie da miteinander umgegangen wird, einfach keine Ahnung haben, die finden da einen sehr schweren Zugang da rein. (...) 16

A: (...)zu der Clique von so einem Channel kriegt man nur den Zugang, wenn man sich mit den Themen und dem Umgangston identifizieren kann. Wenn ich jetzt ein sehr prüder Mensch bin und komme auf einen Channel, wo die Leute so Einwürfe bringen wie ' ejh, ficken, ejh, und laß unsheute Abend doch zusammen ins Bett steigen' , dann werde ich mich sicherlich nicht lange mit dem Channel identifizieren können. Andersrum eben genau so nicht, das kann natürlich an vielen Punkten scheitern, das ist jetzt mal ein sehr krasses Beispiel, aber es ist halt so, daß man sich in manche Cliquen nicht reinfindet und in manche findet man sich rein. (...) 22

Tom nennt als ein Kennzeichen der Gemeinschaft, das bislang auch von all unseren anderen Interviewpartnern angeführt wurde, daß man sich innerhalb der Clique kennt. Er spricht dies allerdings in einem anderen Kontext an, es geht um den Zugang zu dieser Gemeinschaft. Die Clique ist begrenzt. Es erlangt demnach nicht jeder Zugang, der nämlich von einigen Kriterien abhängig ist. Der ' Anwärter' muß zuerst wissen, was für ein Umgangston im Channel herrscht und was für Themen dominieren, um zu einer Entscheidung zu kommen, ob er in diese Clique überhaupt hinein will. In Toms Fall dreht es sich im Channel oft um Themen technischer und computerbezogener Natur. Daher spricht er die Ahnung an, die man von IRC und Technik haben sollte und deren Nicht- Vorhandensein den Zugang erschwert. Mit Umgangsform und Themen muß man sich also identifizieren können, eine allein von der Wortwahl her schon sehr persönlichkeitsbezogene Aussage. Es klingt danach, als müßte man sich wirklich darin wiederfinden können. Das könnte, in Anbetracht der vielen Zeit - Tom sagt „intensiv mitwirken" - die man im Channel verbringt, auch zutreffen. Aus der Passage „andersrum genauso nicht" schließen wir, daß man auch umgekehrt als Neuling von den Cliquenmitgliedern akzeptiert werden muß, also diese sich gewissermaßen mit dem Neuen und seiner Umgangsweise identifizieren können müssen. Aber dies kann laut Tom „an vielen Punkten scheitern". Offenbar gehen die Forderungen noch über bloßes IRC- und Technikverständnis und das Interesse an cliquenrelevanten Themen hinaus. Tom macht jedenfalls deutlich, daß es ein recht komplexes Thema ist, ob man in eine Clique hineinkommt oder eben nicht.

F: Du hast vorhin von der Identifikation mit dem Channel gesprochen, kannst du mal beschreiben, wodurch sich so was für dich ergibt.

A: ...Na ja, dadurch ob man sich mit den Leuten auf dem Channel gut unterhalten kann. Also ob man mit denen so auf einer Wellenlinie ist, auf einer Wellenlänge. 53

Vermutlich ist das der Punkt, an dem Cliquenteilhabe noch scheitern kann. Tom möchte mit den Leuten in seinen Stammchannels auf gleicher Wellenlänge liegen, sich also gut mit ihnen verstehen. Das schließt auch ein, sich gut mit den anderen unterhalten zu können und möglicherweise außer IRC noch weitere ähnliche Interessen zu haben.

Tom stellt bezüglich der Themen, die in seinen Stammchannels beredet werden, Schwankungen fest. Es gibt „Small Talk" und reines „Kontakthalten" sowie „vernünftige Diskussionen". Dominante Bereiche sind technische Themen, aber auch Klatsch wird gerne praktiziert.

A: (...) man natürlich in einer größeren Gruppe, zu mehreren immer ein gemeinsames Thema hat und immer gemeinsame Leute kennt, über die man lästern kann, sich gegenseitig ausfragen und ' ejh und Mensch, da ist ein Neuer und kennst du den schon, erzähl mal' . (...) 16

A: (...) irgendwas gibt' s immer worüber man reden kann oder irgendeinen, der Müll gebaut hat oder weg mußte zur Bundeswehr (...). 19

Durch die Tatsache, daß die Nutzer sich untereinander kennen, wird Klatsch als eine Diskursform aktuell. Man spricht übereinander, gibt Informationen über andere Gemeinschaftsmitglieder weiter, lästert und fragt sich aus, wodurch zum einen alle immer auf dem Laufenden bleiben, was die anderen betrifft. Andererseits sind so ausreichend und fast unerschöpfbare Gesprächsthemen bereitgestellt. Treffend ist in diesem Kontext, daß sich das Wort Clique etymologisch aus dem Begriff Klatsch herleitet. Tom schreibt seiner Clique „extremen Dorfcharakter" zu, der wohl gerade aus dem gegenseitigen Kennen und dem Tratsch resultiert. Klatsch ist ein Phänomen, das, wie wohl fast jeder aus der eigenen Alltagserfahrung weiß, von vielen gerne betrieben wird. Interessant ist dabei unserer Meinung nach die ausgewogene Mischung von Freude am Klatsch selbst und dem Informationsgehalt, der dabei transportiert wird, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Klatsch scheint innerhalb des Mediums zur Informationsvermittlung der Anwender übereinander dienlich zu sein.

Gespräche über IRC und Technik ergeben sich aus dem gemeinsamen Interesse der Cliquenmitglieder an Technik, „ist klar, weil sehr viele Computerfreaks da sind". In diesem Bereich kann sich Tom in der Gruppe profilieren.

A: Einerseits fließt das ganz nebenbei ein, da kommt einer auf den Channel, stellt eine Frage und wer es weiß, antwortet halt und wenn man öfters mal dabei ist und antwortet, dann trauen einem die anderen auch gewisse Dinge zu...Das andere ist, viel Small Talk und was machst du heute, wissen die Leute was ich arbeite und was ich mache, dadurch daß ich hier den ganzen Rechnerkram zu Hause habe. (...) ich bin lange dabei und es gibt eine Menge Leute, die mich kennen. (...) Seit Neujahr 1996 habe ich auch noch die Funktion des IRC- Op, gerade für Neulinge (...) ist natürlich ein IRC- Op teilweise noch jemand, wo sie sagen, ja, mein Gott, der sitzt da auf irgendeinem Riesen- Server und macht da irgendwelche tolle Sachen (...). Und im Prinzip bin ich dadurch eigentlich auf dem Status, ich muß mich nicht persönlich profilieren, ich muß das nicht aktiv tun, sondern, das machen andere für mich. (...) 37

Tom hat durch sein Interesse an Technik, Computer und IRC einen Bereich gefunden, in dem er sich automatisch profilieren kann, ohne etwas dazu tun zu müssen. Seine langjährige IRC- Anwesenheit, seine Operatorstellung und seine technische Kompetenz verschaffen ihm innerhalb der Gruppe und auch Neulingen gegenüber einen hohen Status und bringen wahrscheinlich auch Akzeptanz und Anerkennung mit sich.

Beides, Technikthemen und Klatsch, scheint Gemeinschaftlichkeit zu manifestieren und von anderen abzugrenzen: „(...) da stehen halt Leute da, die diese Interessen nicht haben, immer etwas außen vor". Denn wer diese Interessen nicht hat, kann weder mitreden, geschweige denn in die Gemeinschaft integriert sein. Das wird auch in der physischen Welt deutlich, wo eine Durchmischung in Toms Freundeskreis - z.B. auf einer Party - von „Ircern" und Nicht- Ircern nicht stattfindet. „Da sind die Ircer untereinander", weil sie sich durch ihre Gemeinsamkeiten fast automatisch abgrenzen. Tom spricht von der Clique als „relativ eng", was Unzugänglichkeit und nur geringfügig vorhandene Offenheit bedeuten könnte.

A: Ja, das ist auch das Interessante, wo gerade jemand angerufen hat, meine Kontakte haben, also es gibt jetzt sehr sehr viele Kontakte, die sich echt so um' s IRC herum bewegen, so um diese ganze Clique herum, das muß ich schon (lacht) irgendwie feststellen. (...). 16

Für Tom hat die Clique eine wichtige Bedeutung. Sie ist der Kernpunkt sehr vieler Kontakte, sowohl im IRC als auch außerhalb. Auch seine Liebesbeziehungen der letzten Jahre waren immer mit Frauen aus dem IRC- Kontext. Tom ist schon sehr lange ein Chatter, und daher ist das Medium stark in sein Leben involviert, die Grenzen zwischen innermedial und außermedial sind hier flüssiger als bei unseren anderen Interviewpartnern. Mit der Clique hat Tom eine Gemeinschaft gefunden, die seinen Bedürfnissen weitgehend entspricht, da technische Themen eine große Rolle spielen, er sich leicht durch seine eigene technische Kompetenz profilieren kann und es sich des weiteren um eine soziale Gruppe handelt, in der man sich gegenseitig kennt, plaudert, Spaß hat, übereinander Bescheid weiß, klatscht, und auch außermedialen Umgang pflegt. IRC und seine Cliquen sind für Tom alles in allem ein sehr dominanter Bereich seines sozialen Bezugssystems.

A: Na ja, zwischendurch habe ich mal den Punkt gehabt, wo ich kaum noch Kontakt mit anderen Leuten hatte. Kann jetzt aber keine zeitliche Abschätzung geben, ich weiß es nur, daß es eine Zeitlang so war. Das Problem war ja, ich habe mich nicht einsam gefühlt, weil ich meine Ircer noch hatte (lacht). (...) 18

IRC und Toms IRC- Freunde haben sogar einen so starken sozialen Wert, daß Gefühle von Einsamkeit selbst in einer Phase nicht auftreten, in der er keinerlei Kontakt zu Menschen hatte, die nicht mit IRC zusammenhängen. Obgleich sich Toms Sozialkontakte in dieser Phase wahrscheinlich überwiegend auf computervermittelte Treffen beschränkten, fühlte er sich nicht alleine. Um Gefühle von Einsamkeit zu vermeiden ist bei Tom also physische Begegnung nicht obligatorisch. Seine sozialen Bedürfnisse konnten offenbar weitgehend befriedigt werden, wobei die außermediale soziale Welt scheinbar durch IRC ersetzt wurde.

Aus einer von Tom mit viel Inbrunst und ausführlich dargestellten Episode geht hervor, daß Channels nicht nur ein Ort für soziales Cliquentum sind, sondern es zwischen IRC- Gruppen und Einzelpersonen zu ernsten, persönlichen Auseinandersetzungen, unter anderem in der Form von „Krieg", Diskriminierung und Eroberung von Channels mittels Auto- Op- Skripten kommt, so daß man IRC auch als einen von Gruppenprozessen mitgeprägten Austragungsort virtueller Konflikte einstufen kann. Aufgrund der Ausführlichkeit bei gleichzeitiger Sprunghaftigkeit und Dis- Cronologie sowie der Anreicherung der ganzen Episode mit vielen technischen Details und Hintergründen, die uns hier aber weniger interessieren, haben wir uns an dieser Stelle entschlossen, statt zusammenhängender Textstellen primär nur die wichtigsten Schlüsselworte mit Zitaten zu belegen. Dafür haben wir diese Geschichte so zu ordnen versucht und von technischen Zusammenhängen befreit, daß ein Verstehen möglich ist.

Tom handelte bei dieser Episode aus seiner „Funktion als IRC- Op heraus und eben, was die IRC- Ops in Deutschland entschieden hatten, was gut für das Netz sei". Dabei ging es um die Durchsetzung technischer Notwendigkeiten, unter anderem beispielsweise um die Verhinderung von „Auto- Op- Skripts (...) die sehr sehr viel Traffic erzeugen". Das stand aber im Widerspruch zu den Ansichten einer Channelclique, denn „die Leute haben gesagt, ja, Internet ist anarchistisch, IRC ist anarchistisch, wir leben das jetzt aus und machen was möglich ist." Durch die Unterbindung der Skripte hatte Tom gegen den Willen und die Anschauungen einer Channelclique verstoßen. Diese wiederum war stark beeinflußt von der Persönlichkeit des „Channelkönigs (...) der da so im Mittelpunkt dieser ganzen Channelclique stand". Es handelt sich also um denjenigen, der augenscheinlich innerhalb dieser Gruppe eine starke Führungsposition einnahm. Er war der „Anführer", dem alle „hinterherrennen" und „nachquatschen", der etwas vormachte und von den restlichen Cliquenmitgliedern imitiert wurde. Diese Auseinandersetzung war für alle Beteiligten „ein, ja, Krieg". Im Verlauf dieses Krieges mußte Tom genau diesen Gruppenführer dann auch bekämpfen und schließlich langfristig aus dem IRC ausschließen. Auffällig ist, daß Toms Wortwahl hier tatsächlich leicht militaristisch gefärbt ist, z.B. ' unschädlich machen' , ' Aktionen eindämmen' , ' die, die das propagieren' . Seine Handlungen bewirkten, daß sich Tom damit konfrontiert sah, als „Schreckgespenst" dazustehen und mit sehr negativen und diskriminierenden Attributen belegt zu werden wie „machtgeil, sexbesessen, pervers, psychisch instabil", und dieses von ihm verbreitete Bild wieder revidieren zu müssen. Dies geschah durch außermediale Begegnungen mit Mitgliedern dieser Channelgemeinschaft, die halfen, das Bild, das von ihm existierte zu modifizieren. Tom ist nun auch auf diesem Channel wieder „heimisch", eine Wortwahl, die bei einem virtuellen Ort auffällig ist. Denn Tom bezieht sich damit auf tatsächlich mit Heimat verbundene Gefühle wie z.B. sich zu hause, geborgen oder aufgehoben fühlen.

Diese Geschichte macht verschiedenes deutlich, angefangen damit, daß hier eindeutig eine Person war, die innerhalb der Gruppe eine Führungsposition einnahm und Meinungsführerschaft innehatte. Es gibt also Gruppenformen im IRC, die eine solche Struktur aufweisen. Zwischen virtuellen Gruppierungen und Einzelnen kann es zu Animositäten und Auseinandersetzungen kommen. Darüber hinaus wurde unserer Meinung nach deutlich, daß es im Rahmen gruppendynamischer Prozesse zu Konflikten kommt, die nur vor dem Hintergrund des Mediums existieren. Mit anderen Worten, außermedial wären Tom und die Cliquenmitglieder nicht miteinander in Konflikt geraten. Da es aber neben Einzelpersonen virtuelle Gemeinschaften sind, um die es sich hier dreht, kommt es auch in genau diesem virtuellen Bereich zu Auseinandersetzungen und Konflikten.

Theoretisierende Zusammenfassung

Es hat sich in unseren Interviews gezeigt, daß es sich bei Gemeinschaften im IRC in erster Linie um Gruppen handelt, die sich innerhalb eines spezifischen Channels bilden. Als channelübergreifende Gruppe könnte man höchstens die IRC- Operatoren einstufen, was aber als funktionsgebundene Gemeinschaft zu bezeichnen wäre.

Die Gruppenmitglieder kennen sich untereinander, es herrschen soziale Umgangsformen wie gegenseitiges Begrüßen. Durch Austausch und Gespräche, die sich unter anderem auch auf die jeweilige außermediale Realität der User beziehen, wissen die Menschen übereinander Bescheid. Unsere Gesprächspartner ließen durchscheinen oder sagten explizit, daß durch die Bekanntschaft untereinander Eigenschaften, die durch die Natur des Mediums bedingt sind, verringert werden. Dazu zählen Anonymität und Unpersönlichkeit, die beide emotional vermutlich eher negativ bewertet werden. Dem wirkt Gemeinschaftlichkeit entgegen. Durch die Gruppe, das gegenseitige Kennen und den dortigen sozialen Umgang wird eine Minderung dieser Eigenschaften konstatiert. Statt dessen entstehen Gefühle von Heimisch- Sein, also Aufgehobensein. Die Gemeinschaft liefert gewissermaßen innermedial für die einzelnen Anwender ein Setting, in dem sie als Person, die sich im IRC aufhält, sozial integriert sind. Daher gehen wir davon aus, daß einer der Gründe für die Formierung virtueller Gemeinschaften in dem - bewußten oder unbewußten - Streben begründet ist, möglicherweise depersonalisierende Eigenschaften des Mediums IRC wie Anonymität und Unpersönlichkeit zu verringern und durch das positive Gefühl sozialer Integration auszugleichen.

Zwei unserer Gesprächspartner postulieren als Anspruch an eine Gemeinschaft, daß sie in irgendeiner Form mit den anderen Mitgliedern auf gleicher Wellenlänge sein müssen. Das umschreibt den Anspruch, sich mit den Leuten gut zu verstehen, sich gut unterhalten zu können, oder auch den gleichen Humor oder ähnliches zu haben. Vermutlich spiegelt sich in diesem Anspruch der Wunsch nach angenehmer, erfüllender Kommunikation. Dem entspricht ungefähr auch, daß man untereinander Ähnlichkeiten bzw. ähnliche Sinnkonstruktionen aufweisen muß, und dies in Bereichen, die wohl die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis verbessern. Bei Sarah wäre das z.B. die demographische Eigenschaft des Alters, die gegenseitigem Verstehen, also funktionierender Kommunikation zuträglich ist. Bei Tom könnte es das Interesse am Computer sein, das eine gemeinsame Verständigungsbasis liefert. Anhand solcher Ähnlichkeiten, die aber auch die Möglichkeiten zum Vergleich liefern, wie andere das jeweils Spezifische handhaben, könnte man auch Reflexionsprozesse vermuten.

Die gleiche Wellenlänge ist nicht nur nötig beim Bereden spezifischer Thematik - wie bei Tom und dem Thema Technik - sondern sie ist Voraussetzung für einen Zweck, den die Gemeinschaften im IRC auch zu erfüllen scheinen, nämlich den der sozialen Geselligkeit. Treffender erscheint uns hier das englische Wort ' socialising' . Die Gruppenmitglieder treffen sich, plaudern, unterhalten sich, klatschen über- und miteinander, grüßen sich, bringen Interesse aneinander auf etc., sind also auf angenehme Art beisammen. Wir nehmen an, daß das ' socialising' dem Zusammenhalt der Gruppe zuträglich ist, denn so gestaltet sich für viele ein IRC- Aufenthalt mit größerer Wahrscheinlichkeit angenehm als bei alleiniger Wanderung durch die Chaträume des IRC. Die Gruppe liefert einen sozialen Bezugspunkt innerhalb des Mediums. Wie man z.B. am Beispiel des Klatsches als Form von ' socialising' sehen kann, wird bei dieser Tätigkeit eine Art Wissensgemeinschaft gefördert und somit auch die Binnenstruktur der Gemeinschaft.

Die Integration in eine Gruppe muß von Anfang an sowohl vom Einzelnen als auch von der Clique erwünscht sein. Wichtig ist, daß sich innerhalb der Gruppe die Mitglieder gegenseitig akzeptieren und anerkennen, daß man also ein integriertes und geachtetes Mitglied der Gemeinschaft ist. Hieraus erwächst dann für den Einzelnen ein Gefühl sozialer Integration, was sicherlich auch für einige mit ein Beweggrund für die Teilhabe an einer Gemeinschaft ist, zumal die Gemeinschaft zwar virtuell, der Zustand der sozialen Integration aber auch außermedial wirksam bleibt - wie z.B. bei Tom, der aufgrund seiner IRC- Clique trotz fehlender außermedialer Kontakte kein Einsamkeitsgefühl verspürte.

Neben sozialer Geselligkeit und Integration sind viele Gruppen offenbar noch von einer inhaltlichen Thematik gekennzeichnet, die innerhalb der Gemeinschaft von Interesse ist. Die Themen, die innerhalb der Gemeinschaften primär behandelt werden, sind sehr heterogen. Über die dominierenden Gesprächsthemen scheinen IRC- Gruppierungen auch ihre Eigenart mitzudefinieren und sich somit von anderen außerhalb der Gruppe abzugrenzen. Wer beispielsweise, wie bei Toms Clique, an Computern und der damit zusammenhängenden Technik kein Interesse finden kann, wird sich wohl kaum in dieser Gemeinschaft eingliedern. Interessant ist, daß diese dominierende Thematik keineswegs, wie oft behauptet, aus der Überschrift des Channels ersichtlich ist. Bei Tom handelt es sich z.B. um einen Ortschannel, bei Sarah um einen altersbezogenen Kanal. Abgesehen von der Thematik und den im Channel herrschenden Umgangsformen der Mitglieder untereinander können auch eigene Sprach- und Diskursformen an der Herstellung von Eigenart beteiligt sein.

Geht es oft um persönliche, die Mitglieder betreffende Themen, kann der Gruppe - wie bei Sarah - eine stark unterstützende Funktion zukommen. Aber auch ohne einen so deutlich ersichtlichen Gesprächsschwerpunkt kann die Gemeinschaft bei Bedarf der emotionalen Unterstützung dienen. In solchen Fällen fungiert die Gemeinschaft als eine Bedingung für die Bewältigung verschiedener Problematik (siehe gleichnamige Kategorie). Auch dies ist Bestandteil eines Zustands sozialer Integration. Positive Auswirkungen auf die Mitglieder hat sicherlich auch die Option, innerhalb der Gruppe neben allgemeinem Akzeptiert- Sein auch noch an Status und Ansehen zu gewinnen. Dabei sind die Profilierungsmöglichkeiten, ganz wie die Gruppen selbst, sehr heterogen. Tom gewinnt z.B. durch seine technische Kompetenz an Ansehen. Der Status innerhalb der Gruppe kann, muß aber nicht, durch einen Aufstieg in der IRC Hierarchie zum Channel- Operator auch nach außen hin ersichtlich sein. Diese Stellung ist jedem durch das @-Zeichen vor dem Namen ersichtlich. Da mit dieser Funktion unter anderem die Macht verbunden ist, andere rauszuwerfen oder ihnen längerfristig den Zugang zu verweigern, kann man sie gewiß als einen Hinweis auf die Stellung innerhalb der Gemeinschaft betrachten. Die Mitglieder vertrauen demjenigen, daß er seine Rechte im Sinne der Gemeinschaft und, falls vorhanden, ihrer Regeln benutzen wird. Denn abgesehen von der allgemeinen Netiquette haben IRC- Gruppen oft noch ihre eigenen Regeln, die stark mit dem in der Gruppe herrschenden Umgang verbunden sind und beispielsweise den Gebrauch unflätiger oder obszöner Ausdrucksweisen mit Kicks als Sanktion bestrafen.

Zusammenhängend mit unterschiedlichen Anschauungen von Gemeinschaften und Einzelpersonen kann es auch zu Konflikten zwischen selbigen kommen. Diese werden dann auch im innermedialen Bereich ausgetragen.

Neben ähnlichen thematischen Interessen, Umgang und Wellenlänge bedarf es aber auch noch eines gewissen Engagements, um sich längerfristig in eine Gruppe zu integrieren. Da anders kein Zugriff auf die Mitglieder möglich ist und Kontakthaltung primär und meist auf Zufallsbasis im IRC erfolgt, gehört wohl ein gewisse Präsenz des Einzelnen in der Gruppe dazu. Man läßt sich also von Zeit zu Zeit sehen und manifestiert dadurch auch Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Regelmäßige Teilhabe am Gruppengeschehen läßt die Anwender wohl Gleiches erleben, was vermutlich wiederum das Gruppenbewußtsein stärkt und Bezugspunkte für die einzelnen liefert.

4.5. Veränderte versus authentische Selbstdarstellung

und Identität

4.5.1. Veränderte Selbstdarstellung und Identität

Linda

Linda ist eine IRC- Anwenderin, deren IRC- Handeln weniger von sozialen Beweggründen wie z.B. dem Kennenlernen von Leuten gekennzeichnet ist denn von Handeln, das nur mit ihr selbst zu tun hat. Dazu zählt auch der Umgang mit verschiedenen Identitäten und das Experimentieren mit Selbstdarstellung. Bei Linda zeigen sich hinsichtlich der Annahme anderer Identitäten verschiedene Variationen. Die erste besteht in der Konstruktion einer gänzlich neuen Identität.

A: Ähm ja, das ist halt ein so ' n Spiel, oder wenn ich irgendwie...ja...ähm...z.B. spiele ich irgendwie dann ' ne Rolle, ganz einfach. Tu als ob ich, hmm, meinetwegen ein Kerl wär' . Und dann eben, ja, gucke, wie wahr diese Rolle praktisch...also wie gut ich...wie ich das spielen kann, daß die andern mir das eben auch abnehmen, daß ich ' n Kerl bin. ...Und das ist lustig. 22

Diese Handlung hat einen spielerischen Charakter, es ist also etwas vergnügliches. Es erscheint ein wenig wie ein Wettbewerb mit ihr selbst, inwieweit die von ihr gespielte Rolle des Mannes als echt und authentisch von anderen wahrgenommen wird.

A: Äh, amüsant ist dann, wenn ich diese Rolle als Kerl dann noch ausfülle. Also fülle mit ganz vielen Sachen...25

F: Mit was denn?

A: Ähm, daß ich männliche Sportarten mach' z.B., wie Boxen oder so, und hmmm, radikalere Sachen. Oder z.B. ...ganz hart skate....Irgendwie so. Und dann erzähl' ich das denen halt einfach, und manche finden das (kichert) ganz bemerkenswert. ...Oder ich z.B. als Freeclimber auf ganz harten Touren.... Also das ganz harte Experimentieren und Abenteuerartige. 26

F: Ja?

A: Oder auch, wenn ich versuche, mal Frauen anzumachen und denen dann erzähl' , was für ein toller Kerl ich bin und was für tolle Muskeln ich hab' und so weiter...27

F : Und was haben Sie dann davon, z.B. Frauen anzumachen und das Gefühl zu haben, als Mann rezipiert zu werden?

A: Äh, ja...da hab' ich meinen Spaß dran...wenn die Mädchen drauf eingehen (kichert)...Und dann spiel' ich natürlich, äh, so ' n Mischmasch aus eigentlich Idealmann, so wie ich mir den vorstelle...nett...aber auch halt ein bißchen machoartig (kichert)...damit das bei den anderen auch durchgeht. 28

Ebenfalls „amüsant" für ist Linda die Ausgestaltung der Rolle mit Eigenschaften, Interessen etc., also die Kreation eines Charakters. In diesem Fall scheint Linda durch die Selbstdarstellung als ein Idealmann noch eigene Sehnsüchte in ihre Rolle zu legen. Sie nimmt eine Identität an, die von Dingen geprägt ist, die - wie wir meinen - für sie im Alltag so nicht realisierbar sind. Dazu zählen neben der Befriedigung von Abenteuerlust die ' coolen' und „männlichen" Sportarten, die also Linda in ihrem Selbstverständnis als Frau nicht passend erscheinen. Hier werden möglicherweise Wünsche und Träume, wenn schon nicht physisch, so doch virtuell, realisiert. Sie personifiziert sich selber als ihr Traummann, was gleichzeitig eine positive Reaktion durch ihre Chatpartnerinnen zu sichern scheint und ihr somit angenehme Resonanz garantiert. In dieser Rolle handelt Linda wie es ansonsten schwer möglich wäre - beispielsweise in einer Männerrolle Frauen anzumachen - womit sie die Grenzen der außermedialen Realität überschreitet. Eventuell übertritt sie als eine Art Experiment beim Anmachen von Frauen auch zusätzlich noch die Grenzen ihrer Selbstdefinition. Denn Linda macht nicht den Eindruck, außerhalb des Mediums ein Interesse daran zu haben, Frauen ' aufzureißen' . Interessant ist, wie Linda den Mann konstruiert. Ihr persönlicher Traummann ist eigentlich „nett", wird aber mit ' Machoartigem' angereichert, um ihn realistischer, also mehr dem gesellschaftlichen Bild eines Mannes entsprechend zu machen. Dazu zählen wohl auch die Muskeln, das Abenteuerliche, der Sport und das Anmachen von Frauen. Anhand dieser Rollendarstellung läßt sich ersehen, wie Linda glaubt, daß der typische Mann allgemein konstruiert werden könnte. Der Blick auf allgemeine Konstruktionen ist deshalb vorhanden, weil ihre Interaktionspartner entscheiden, ob die Rolle „durchgeht". Bei der Annahme von Rollen ist also immer der Interaktionspartner wichtig, der gewissermaßen über den Realitätsgehalt der Figur urteilt, indem er sie annimmt oder als unecht zurückweist. Ein Identitätswechsel kann also nur durch Verifikation mittels anderer vollzogen werden. Gerade darin besteht wohl auch der von Linda konstatierte Erfahrungszuwachs: Sie weiß nun, wie man als Mann behandelt wird:

A: Ja, ich will halt wissen, wie' s ist, ich als Kerl. 30

F: Und Sie selbst dabei?

A: Ja, ich schätze, es ist in irgendeiner Form eine Entfernung von mir, aber gleichzeitig fühl' ich mich auch voll in die Rolle eines Mannes ein. Ich versuche dann eben, männlich zu denken, wie ' n Kerl. 34

Hier findet wohl auch ein experimenteller Umgang mit der eigenen Denkweise statt, der wahrscheinlich durch die Interaktivität, also das von anderen Als- Mann- behandelt- werden erleichtert wird. Linda versucht in so einer Situation, männlich zu sein, männlich zu denken, wirklich in ihrer momentanen Online- Identität aufzugehen und sie gleichsam zu internalisieren. Die Entfernung von ihrer eigenen Person und das starke Hineinversetzen bewirken, daß sie wohl auch Wissen über das Mann- Sein aus einer Innenperspektive erlangt.

A: Ja, irgendwie, um mal was Neues zu machen, was halt nun mal, ja, im täglichen Leben nicht funktioniert...da kann ich nicht einfach mal irgend ' nen Kerl spielen. Das ist halt nicht. Und im IRC geht es, und ich hab' dann auch meinen Spaß dran. So meinen Traummann spielen zu können, also...zu kreieren...Ja äh, man übernimmt halt ' ne schöpferische Rolle. Man schöpft eigentlich...man kreiert irgendwelche Figuren und füllt die aus mit Eigenschaften und Eigenarten und...ja...eigenen Verhaltensweisen. 33

Die Möglichkeit, andere Identitäten anzunehmen und als solche auch von anderen Usern wahrgenommen zu werden, gibt es außerhalb des Mediums in der Form nicht. Das ist Grund genug, diese Neuartigkeit innerhalb des IRC zu vollziehen. Bei dieser Umgangsform spielt explizit die Nutzung von Möglichkeiten, die außermedial nicht machbar sind, eine Rolle. Womöglich ist das bei Linda ein generelles Faszinosum der IRC- Nutzung. Das schöpferische Handeln, die Schaffung einer für real existierend gehaltenen Person macht Linda Spaß. Ihre Wortwahl des Schöpfens läßt eine gottbezogene Assoziation aufkommen: Es ist im Bereich des Vorstellbaren, daß sie ab und zu Gott spielen möchte. Die hier beschriebene Identitätskonstruktion bezieht sich zwar konkret auf die Darstellung eines Mannes, jedoch sind auch andere Identitäten denkbar, die Linda neu erfindet.

Eine spezifische Bedeutung des Geschlechtsrollenwechsels findet sich im folgenden Abschnitt:

A: Ja, daß ich äh, z.B. bei irgend welchen technischen Sachen einfach mitrede und dann das Vorurteil Frau z.B. mal nicht...also ich schätz' mal, daß Frauen von Technik nichts verstehen ist schon mal weg. Und auch, was mein Studium angeht, ich mehr so tu' als wär' ich ein Mann, weil ähm, weil man irgendwie manchmal doch auch...Ja, wenn ich mich z.B. mit irgendwem über Politik unterhalte und ich mach' das als ich, also als Frau, denn lenkt der total oft davon ab und fängt an, mir andere Fragen zu stellen. Wie alt ich bin und wie ich ausseh' und ob ich ' nen Freund hab. Und das ist ja rein gar nicht mein Interesse... 23

Linda befreit sich hier von ihrer Geschlechtsrolle als Frau. Indem sie sich als männliches Wesen darstellt, umgeht sie folgende Behandlung, die ihr in ihrer Rolle als Frau negativ aufstößt: als Person, die ihre Meinung von sich geben will, nicht ernst genommen, sowie von Vorurteilen und Stereotypen geprägt und als Objekt behandelt zu werden. Letzteres geht aus der in eine eindeutige Richtung gehenden Frage nach einem Freund hervor. Kurz danach erwähnt Linda außerdem einen Interaktionspartner, der „dann immer gleich interessiert an deutschen Frauen" ist.

Eine weitere Variante der Identitätsveränderung besteht bei Linda darin, Rollen zu spielen, anhand derer sie Persönlichkeitszüge ihrer selbst, die „eigentlich" nicht zu ihr gehören, ausprobiert.

A: Ja, hm...andere Frauen manchmal. Also so ganz krasse Frauen, wie ich nie sein kann und Õ s da nur ausprobiere... 36

F: Zum Beispiel?

A: Ja, indem ich halt...eben von ganz vielen...also so Zurückhaltung, die ich normalerweise, also im normalen Leben... 37

F: Ja?

A: ...Also im normalen Leben bin ich eher zurückhaltend, und da kann ich eben mal so richtig...auf den Tisch hauen...ich spiel' dann in der Rolle...ja, eben viel temperamentvoller als ich jetzt so bin, und...eben auch krasser in ihren Ausdrucksweisen, also ich benutze normalerweise nie solche vulgären Wörter wie...äh...es halt Gang und Gebe ist, also so Fuck oder...Und das mach' ich dann da einfach mal...und, hm, das ist halt ' ne derbe oder burschikose Frau, die ich da spiele...Oder ich spiel' eine ganz Liebe. (...) Also ich schätz' , wenn ich mich in der Mitte befinde, spiel' ich eben...irgendwie so immer die Extreme von mir aus. Also das ganz Liebe und das ganz Heftige... 38

F: Ja?

A: Und versuche mich dann eben auch darin, mal ganz heftig zu sein, oder ganz lieb. Also weil ich...weil das ja eigentlich nicht ganz...zu mir gehört, sondern ich probier' s mal aus.(...) 39

Linda spielt anhand ihrer Frauenidentitäten Persönlichkeitszüge aus, zu denen sie wohl eine kontroverse Haltung einnimmt. Einerseits sagt sie, daß diese Identitätskomponenten mit ihrem eigentlichen Charakter nicht übereinstimmen, nicht dazugehören. Andererseits gibt sie aber an, ihre eigenen Extreme auszuspielen, die also dennoch zu ihrer Person gehören. Auch betont Linda, daß es sich hier um Verhaltensweisen oder Züge handelt, wie sie zwar „nie sein kann", aber anscheinend subtil dennoch ist. Es scheinen sich im Rahmen dieser Identitäten Persönlichkeitskomponenten an die Oberfläche zu drängen, die im Zusammenhang mit ihrem sonstigen, im Alltag repräsentierten Selbstkonzept nicht manifest werden. Ansonsten scheinen diese Züge nur latent, möglicherweise unbewußt vorhanden zu sein. Im IRC hat Linda die Möglichkeit, extreme oder ihr im Alltag fernliegende Selbstkonzepte auszuprobieren. Sie kann diesen Teil des ' working- self' zum Zuge kommen zu lassen, ohne daß Selbstkonzepte, die sonst vorherrschen, ' angekratzt' werden. IRC wird demnach als sicheres Experimentierfeld persönlichkeitsbezogenen Verhaltens genutzt. Sie kann sich experimentierend, ausprobierend mit eigenen Persönlichkeitskomponenten auseinandersetzen, und - wie z.B. im Fall der vulgären Wortwahl - diese auch zulassen. Denn Linda spielt ja nach ihrer eigenen Auffassung im IRC nur eine Rolle, so daß ihr Alltags- Selbstkonzept scheinbar nicht angetastet wird.

Wie es zur Auswahl von Lindas IRC- Rollen und -Identitäten kommt, kann sie nicht genau erklären. Die gewählten Identitäten stehen aber im Zusammenhang mit ihrer eigenen Laune und geschehen in Abstimmung zum aktuell stattfindenden IRC- Geschehen.

Beispielhaft führt Linda die Umsetzung von Stimmungen an, die zur Genese und Ausgestaltung einer Rolle bzw. eines Rollenspiels beitragen können.

A: Hm, ja, wenn ich mich geärgert hab' z.B., und ich das aber nicht adäquat so umsetzten kann, wenn ich alleine zuhause bin und mich geärgert hab' über irgendwas...Wenn mein Freund wieder mal doof zu mir war, und ich es aber nicht an dem herauslassen kann, und gleich gar nicht in der Art und Weise, wie die dann eben drauf ist, die ich denn im IRC raushängen lassen kann.(...) 41

Linda führt eine Situation an, in der sie in einer ärgerlichen Stimmung ist, die sich aber nicht ausleben läßt. Es ist niemand da, an dem sie ihren Ärger auslassen kann. Wäre jemand da, könnte sie ihre Wut nur in einer vermutlich abgemilderten Form herauslassen, die ihrer eigentlichen Stimmung nicht ganz entsprechen würde. Linda spricht hier wahrscheinlich gesellschaftliche Konventionen und Normen an, die sie daran hindern, außerhalb des IRC so zu sein, wie sie es innerhalb des Mediums in der Identität der derben, krassen Frau ist. In dieser Rolle kann sie den ersehnten kathartischen Effekt erreichen. Es findet also ein Ausleben oder Umsetzen von Gefühlen auf andere Art und Weise statt, als es im Alltag machbar ist. Die Stimmung wird gewissermaßen aus ihrem Ursprungskontext, dem Ärger über den Freund, herausgerissen und in die innermediale Welt transferiert. Dort kann sie dann, ungeachtet alltagsbeherrschender Normen, umgesetzt werden.

F: Und sehen Sie denn diese Bilder, die Sie da von sich entwerfen, als Teil Ihrer selbst, weil Sie das ja als Entfaltung bezeichnen?

A: Nun ja, die Entfaltung...das kann man ja auch improvisieren, ich kann ja ganz andere Charaktere improvisieren, das gehört für mich auch zur Entfaltung...Das sind nicht nur, äh, Teile von mir, die denn auch mal raus dürfen, sondern das sind ganz...ganz andere Wesen...Die ich dann zum Besten gebe. 146

Anhand dieses Ausschnittes wird nochmals deutlich, daß Lindas IRC- Identitäten nicht unbedingt im Zusammenhang mit ihrer eigenen Persönlichkeit stehen. Dennoch sind sie manchmal dergestalt, daß Persönlichkeitskomponenten ausgelebt werden, die sonst nicht zum Zuge kommen, also nur latent existieren. Bei den ganz neu konstruierten Identitäten oder Rollen sind das kreative Moment, die Erfindung, Improvisation und Andersartigkeit der Identitäten von Bedeutung. Beide Umgangsweisen mit Identität lassen sich im IRC entfalten.

Die hier ausführlicher dargestellten Beispiele der Identitätsveränderung bei Linda fassen jedoch noch lange nicht das gesamte Spektrum von Rollen, die sie im IRC zu spielen scheint. Es sind jedoch die einzigen, auf die im Interview genauer eingegangen wurde. Neben den bereits dargestellten Rollen erwähnt sie noch, mehrfach die Identität eines Nazis angenommen zu haben, wobei einmal diese Rolle eine „anstachelnde" Funktion innerhalb einer Diskussion innehatte. An anderer Stelle spricht Linda davon, wie sie zu gleicher Zeit mehrere Charaktere darstellt. Bei Linda scheint der im Vergleich zur außermedialen Welt erweiterte Umgang mit Identitäten und deren Darstellung einen bedeutenden Teil ihres IRC- Handelns einzunehmen. IRC bedeutet eine Weiterführung dessen oder ein Hinwegsetzen über das, was im Alltag möglich ist. In diesem Rahmen kann sie sich auf andere Weise als in Real Life mit ihrer Identität auseinandersetzen.

A: Naja, ' ne gute Freundin, die kenn' ich ja längst. Da kann ' s zwar lustig sein, aber letztlich nicht so neu...Und die weiß auch, wie ich bin, und denn sind die Entfaltungsmöglichkeiten auch wesentlich eingeschränkter, man reagiert mehr aus Gewohnheit heraus, schätz' ich mal...und da hab' ich halt die Möglichkeit, aus diesem Gewohnheitsding auszubrechen und mich zu entfalten. 144

F: Und was ist das mit der Entfaltung, was wird dabei entfaltet?

A: Naja, meine ganzen Freunde, die kennen mich ja...und, ähh, reagieren auf mich eben wie sie mich kennen...und sind auch so zu mir entsprechend dieses Bildes oder der Meinung, die sie von mir haben, was halt stimmt, so wie ich eben bin. Und da hab' ich die Möglichkeit, mich anders zu entwerfen und dann mal zu sehen, wie die Leute eben dann auf mich reagieren. 145

In Real Life haben ihre Freunde automatisch immer eine bestimmte Haltung zu Linda, die sich darüber definiert, wie Linda im Alltag ist und wie sie ihnen bekannt ist. Linda hält jene Einschätzungen auch für zutreffend. Aus diesen resultiert aber ein von Gewohnheit gesteuerter Umgang mit Linda, was von ihr offenbar als Einschränkung erlebt wird. Im IRC kann sie aus dieser Routine auszubrechen. Somit bedeuten diese Möglichkeiten des IRC, sich selbst zu designen und darauf Reaktion zu erhalten, einen Zuwachs an Freiheit und eine Loslösung von alltagsgebundenen Rezeptionsmustern.

Sarah

Sarahs Umgang mit Identität und Selbstdarstellung besteht in zwei unterschiedlichen Formen. Mit diesen beiden Handhabungen hängt auch die Auswahl ihres jeweiligen Nicknamens zusammen, der ja im IRC eine Identitätsrepräsentation darstellt.

A:(...) daß man da unter einem Spitzname, dem Nick, reingeht und so gesehen eigentlich die Leute nichts von einem wissen, und auch umgekehrt ich nichts von meinem Gegenüber weiß. (...) 1

Sarah macht hier deutlich, daß der Nickname alles ist, was sie vor einem Gespräch über den jeweiligen User weiß. Er liefert also die erste Information und steuert den ersten Eindruck. Daher steht er im Zusammenhang mit dem, was man im IRC darzustellen gedenkt.

A: (...) Und das sind eben gewissermaßen im IRC für mich zwei verschiedene Paar Schuhe. 31

F: Was? Mit ihren Nickarten?

A: Ja. Und was da dran hängt bei mir.(...) 32

Die Handhabung ihrer Spitznamen ist in zwei ganz verschiedenen Bedeutungszusammenhängen angesiedelt, wobei jeder Name der Repräsentation einer Identität dient. Im Zusammenhang mit den Freiheiten, die das Medium ihr bietet, nennt Sarah auch die Darstellung des Selbst, „man kann sich darstellen wie man will". Sarah kann demnach eine eigene Entscheidung treffen, wie und als wer oder was sie sich den anderen Usern präsentiert. Mit einer IRC- Identität, die ihren außermedialen Selbstkonzepten entspricht, knüpft Sarah Freundschaften und integriert sich in einer Gemeinschaft. Mit einem oder mehreren anderen Nicknamen verändert sie eine sehr wichtige und für das Selbst konsequenzenreiche Persönlichkeitsdeterminante, nämlich ihr Alter.

A: (...) Ja, ich hab' schon mehrere [Nicknamen]. Und zwar...hab' ich einen, der sozusagen ich, mich darstellt. Und dann noch ' nen anderen, sozusagen einer, ein anderer, wo ich mich dann, äh...gelegentlich...z.B. verjünge...(...). 24

A: (...) Und dann find' ich ' s eben einfach interessant, und amüsant...äh...mich wirklich noch mal zu verjüngen, und wirklich so zu sein, und das zweifelt auch kein Mensch an. In Real Life brauch' ich niemand erzählen, daß ich 23 bin (lacht). Und da, im Chat, da bin ich dann vielleicht kindischer; oder auch mal schweinischer...und erzähl' denen, daß ich Kinderkriegen Scheiße find' ...und all so ' ne Sachen.(...) 29

F: Hmm.

A:...Und da ist es dann so, daß es mir...eben auch ein bißchen...gut tut, da mit Youngstern rumzuchatten. Und naja, ich interessiere mich durchaus noch für die Welt der Jüngeren, sollte eigentlich jede Mutter. Also z.B. auf der Loveparade war ich auch mal. Wie gesagt, ich bin auf jeden Fall lebenslustig...aber...eben auch...alt!...Und da im Chat bin ich eben, na ja, viel umtriebiger. Und es ist durchaus gut, wenn man sich irgendwie so darstellen kann, das geht nur im IRC...Und so, wie ich schreibe, ist es auf alle Fälle so, daß das mit mir zu tun hat, und ich dann...ja...so jung sein kann, wieder. 30

Sarah konstruiert also keine völlig neuen Identitäten und Charaktere, sondern verändert ein wichtiges Detail ihrer Identität: das Alter. Offenbar gehen damit fast automatisch verschiedene Verhaltensänderungen einher, z.B. wird sie „schweinischer", „umtriebiger". Sarah äußert auch andere Einstellungen, z.B. bezüglich des Kinderkriegens, die sie wohl für Denkweisen der Jugend hält. Das geschieht vermutlich, um wirklich für eine 23- jährige gehalten zu werden. Denn diese Ansichten dürften mit ihrem heutigen Selbstkonzept wohl kaum übereinstimmen, schließlich ist Sarah Mutter. Trotzdem vertritt sie derartige Einstellungen. Insgesamt versetzt sich Sarah offenbar auf eine frühere Stufe ihrer Persönlichkeit, die ihr aber in der virtuellen Realität des IRC echt und wirklich vorkommt. Medienbedingt wird ihre verjüngte Identität aber auch nicht angezweifelt. So erfährt sie gleichsam eine Bestätigung in dieser Identität. Das scheint zusätzlich zu verstärken, daß Sarah in diesem Medium ihr Jungsein ausleben kann. Scheinbar kommen also bei Sarah durch IRC ihre ' Jung- Anteile' wieder hoch. Sie fühlt sich tatsächlich noch mal jung, und dieses Erleben ist ganz real.

Als möglicher Beweggrund für die Verjüngung wäre denkbar, daß Sarah auf nicht näher geklärte Weise Probleme mit ihrem Alter oder auch mit dem Älter- werden an sich hat. So fühlt sie sich z.B. lebenslustig, interessiert an der Welt der Jüngeren und Jugendkultur wie der Loveparade. Aber durch ihr Alter erlebt sie sich scheinbar davon dennoch ausgeschlossen. Normalerweise könnte sie nicht mit „Youngstern" Umgang haben und von jungen Leuten als eine der Ihrigen akzeptiert werden. Außermedial erscheint Sarah ihr Alter wohl als Handicap. Mittels ihrer Verjüngung kann sie dann aber zum Kreise der Jugend erneut dazugehören, sich jung fühlen. Das tut ihr gut, womit sie wahrscheinlich ihr psychisches Wohlbefinden meint. Es zeigt sich also bei dieser Art der Identitätsveränderung eine beachtliche Verquickung mit person- oder persönlichkeitsbezogenen Belangen, zu deren Bewältigung bzw. zum positiven Umgang damit die virtuelle Realität des IRC beiträgt. Interessant ist hier, wie real Sarah es erlebt, 23 Jahre alt zu sein. Auf diesen Umstand werden wir in der Kategorie ' Virtualität' näher eingehen.

Neben eigenen Einstellungen oder Lebensumständen gibt es bei der Selbstdarstellung im IRC auch noch die Dimension des äußeren Erscheinungsbildes, das ja im IRC nur beschrieben werden kann. Hierzu macht Sarah bei der Identität, die sie selbst darstellen soll, wahre Angaben.

A: (...)und ähm, daß ich denen natürlich schon sage, hey, ich bin 37, aber ich dann bei meiner Selbstbeschreibung eben schreibe, daß ich groß und blond bin. Und so stimmt auch alles, durchaus, aber nicht natürlich, daß ich ein paar Falten hab' ...Oder hier und da ein Fettpölsterchen. Solche Sachen werden natürlich weggelassen...(...) 25

Ihre Angaben sind korrekt, Sarah ist tatsächlich groß und blond. Allerdings beschreibt sich Sarah unter Vernachlässigung kleiner Details, die von ihr scheinbar als äußerlich negativ wirkend betrachtet werden. Diese nicht zu erwähnen scheint für sie selbstverständlich zu sein, denn es wird „natürlich weggelassen". Bei der von ihr gelieferten Beschreibung spekuliert Sarah möglicherweise auf stereotype Assoziationen, die durch die Kombination der Körpermerkmale groß und blond hervorgerufen werden und die ihre Online- Identität begehrenswerter machen könnten. Was also die Darstellung ihres äußeren Selbst betrifft, weist Sarah eine Tendenz zur idealisierten oder positiv- gefärbten Darstellung auf. Es liegt aber wohl in der Natur des Menschen, sich anderen möglichst positiv zu präsentieren. Jedoch auch von solchen Tendenzen abgesehen scheint es selbst bei wahren Angaben durch die Verschriftlichung der Kommunikation zu Verfälschungen kommen zu können. Denn es ist kaum möglich, sich - innerlich wie äußerlich - so umfassend zu beschreiben, daß der Kommunikationspartner ein Bild konstruieren kann, das der Person genau entspricht.

Robin

Auch Robin zeigt an einer Stelle, daß er das Medium, in diesem Falle dessen technische Möglichkeiten, nutzt, um bei IRC- Bekanntschaften ein positiveres Bild von sich zu zeichnen. Dazu verwendet er Log- files, speichert also sämtliche Chats, die er geführt hat. Das ermöglicht ihm, immer zu wissen, was in Chats gesagt wurde, dies zu rekapitulieren oder auch Anspielungen zu verstehen. Er erscheint auf diese Weise nicht als jemand, der sich an Details oder ganze Gespräche nicht mehr erinnern kann. Somit vermeidet er, daß sein Chatpartner den Eindruck gewinnt, er hätte beispielsweise nicht richtig zugehört, sich nicht voll auf den Chat konzentriert oder nicht dafür interessiert. Mithilfe der Log- files bewirkt Robin also eine ins positive gehende Eindrucksbildung beim anderen.

Die einzige Gelegenheit, bei der Robin von einer authentischen Identitäts- und Selbstdarstellung abweicht und das auch beim Chatpartner zuläßt, ist beim Cybersex. Dieses Phänomen behandeln wir noch eingehender in der Kategorie ' Cybersex' . Allerdings spielt Robin beim Cybersex keine andere Identität, sondern scheint sich in seinen virtuellen Handlungen von den Selbstkonzepten zu lösen, die sonst bei ihm im Vordergrund stehen.

A: (...)Weiß nicht, da wird dann so eine, ja, da wird dann eine komplette Illusion aufgebaut. (...) Ich sag mal, da ist es sicherlich von der Illusion so weit, daß...daß man da Sachen macht, jetzt nicht aus eigenem Antrieb, sondern, ja, vielleicht auch aus eigenem Antrieb, aber auch weil der andere so ein bißchen drauf anspielt, die man so in Real Life so nicht unbedingt machen würde. 132.

Robins Handlungen stehen an dieser Stelle in einem anderen Kontext als seine herkömmliche IRC- Tätigkeit, die sich durch persönliche Gespräche und einen Bezug zur außermedialen Welt auszeichnet. Beim Cybersex dagegen spielt das Illusorische eine zentrale Rolle. Mit Illusion meint Robin vermutlich, daß hier ein Handlungsrahmen geschaffen wird, der sich vom außermedialen Leben abgrenzt und in dem Robin daher auch Dinge tut, die er sonst nicht machen würde. Möglicherweise ist ihm der außermediale Bereich zu real, während IRC hier die Konstruktion einer anderen Realität zuläßt. In solch einem Kontext fällt es Robin nicht schwer, sich eigenen oder fremden Phantasien hinzugeben.

A: (...)Wo dann einfach, wo man einfach nicht mehr man selbst ist. Also es gibt so eine Stimmung, es gibt auch andere Chatnummern, wo man dann man selbst ist, aber wo man dann einfach in eine Rolle schlüpft, so ein Rollenspiel. 135

Rollenspiel und Distanzierung vom Selbst bedeuten bei Robin nicht die Annahme eines anderen Selbst oder Charakters, sondern vielmehr die Zurücknahme oder Distanzierung von seinen sonst präsenten Selbstkonzepten. Dies erlaubt ihm nun im IRC, eigene oder fremde Phantasien - z.B. Sado- Masochismus - auszuleben und virtuell zu praktizieren, und sich dabei, so spekulieren wir, mit latenten Anteilen seines Selbst zu beschäftigen. Das wird unterstrichen durch sein Eingeständnis, solche Dinge „vielleicht auch aus eigenem Antrieb" zu tun. Wie stark seine Person am Ausleben solcher Phantasien beteiligt ist, scheint ihm selber nicht ganz klar.

Tom

Tom ist ein IRC- User, der die allermeiste Zeit unter einer einzigen Identität im Netz präsentiert ist. Allerdings nutzt er andere Identitäten, um sich selbst einen freiheitlichen, von Vorurteilen anderer gegenüber seiner Netzidentiät losgelösten Umgang zu ermöglichen.

A: Ich mache es heute auch noch manchmal, also meistens aus einer...also wie gesagt, ich bin IRC- Oper [ Slang für IRC- Operator], ich bin als IRC- Oper bekannt und selbst wenn ich diesen Operstatus ausschalte, kennen mich noch zu viele als IRC- Oper und deswegen halte ich mir ein bis zwei Identitäten, unter denen ich rein gehen kann, wenn ich mal nicht will, daß die Leute irgendwo sehen, da kommt ein IRC- Oper. Das hängt aber mit dieser Funktion zusammen, also bevor ich diese Funktion hatte, hatte ich das nicht und erst nach diesen Erfahrungen, daß du über diese Funktion identifiziert wirst und mit bestimmten Vorurteilen belegt wirst, was jetzt kommt, die IRC- Oper in Deutschland, ist klar, daß du gleich mit Vorurteilen belegt wirst (...), du wirst da sofort abgestempelt und...deswegen gibt ' s da meine ein, zwei Identitäten, die ich mir immer offen halte und die auch so nach Gelegenheit mal wechseln oder so, ähm, die dann aber keiner kennt. Also das sind dann auch keine Leute, die ich dann einführe in eine Gemeinschaft oder so, die sind grundsätzlich nur dazu da um straight irgendwo hinzugehen und sich mal ein bißchen mit den Leuten zu unterhalten und mal zu gucken, aber...also ich mache da jetzt keinen besonderen Fez drum, einen Charakter aufzubauen. (...) 136

Tom nutzt also bis zu zwei Identitäten, die niemand kennt. Diese Identitäten entwickeln scheinbar kein individuelles Profil und werden von Tom nicht langfristig in Gemeinschaften eingeführt. Sie dienen ihm lediglich dazu, sich befreit von Vorurteilen oder Rezeptionsgewohnheiten mit anderen Teilnehmern bestimmter Channels unterhalten zu können oder um unbedarft im IRC herumzuschwirren.

4.5.2. Authentische Selbstdarstellung und Identität

Die authentische Selbstdarstellung orientiert sich ganz allgemein an der Wahrnehmung der eigenen Person im Alltag. Im virtuellen Raum zeigt sich diese Orientierung in der Vermittlung wahrer Angaben, so z.B. soziodemographische Daten und persönliche Interessen.

Linda

Wahre Angaben zu ihrer Person macht Linda dann, wenn es darum geht, andere Teilnehmer wirklich kennenlernen zu wollen und sie gegebenenfalls in Real Life zu treffen.

A: Tja, wenn ich versuche, jemanden kennenzulernen, um ihn dann auch zu besuchen, dann versuche ich natürlich, möglichst Ich zu sein und spiele dann keine Rolle. 134

Linda stellt sich authentisch dar, da sie jemanden kennenlernen und auch besuchen möchte. Authentische Darstellung scheint ihr hier angebracht, wohl da es sich um eine Art des Sozialkontaktes handelt, bei der Enttäuschungen oder Probleme auftreten können, wenn sich die Person als ganz anders herausstellt, als sie es im IRC war. An dieser Stelle zeigt sich, daß die authentische Darstellung nicht einfach so vonstatten geht. Die Aussage „dann versuche ich natürlich möglichst Ich zu sein" legt die Vermutung nahe, daß Linda zum einen ständig der Verführung unterliegt, sich doch anders darzustellen. Zum anderen spricht sie die Schwierigkeit an, sich wirklich so darstellen zu können, wie sie nun tatsächlich ist.

Robin

Robin ist grundsätzlich erst mal nicht an Identitätsveränderungen interessiert. Für ihn macht nur eine wahre Darstellung seiner Person Sinn. Das ist Voraussetzung, um die im Medium vorherrschende Anonymität - so weit es geht - aufzuheben, andere Teilnehmer kennenlernen zu können und sich in einer Gemeinschaft zu etablieren und um Freundschaften zu schließen, die sich auch ins Außermediale übertragen lassen. Dabei zeigt sich auch, daß das Medium für ihn im Zusammenhang mit der Erweiterung seines sozialen Kontextes steht. In der Auseinandersetzung mit anderen Teilnehmern geht es ihm auch darum, sich neues Wissen über seine außermediale Umwelt anzueigen - siehe auch Kategorie Horizonterweiterung - so daß die Erfüllung seines Wunsches nach Echtheit der Informationen bei der Selbstdarstellung beginnen muß.

F: Und variierst du dich ? Also bist du immer du selbst oder spielst du auch mal ein bißchen ?

A: Nö, also das ist meine Einstellung, die ich leider bei vielen Leuten im IRC vermisse, die sind nicht sie selbst. Und was bringt' s mir, mit wem zu chatten, der vorgibt, jemand zu sein, der er nicht ist. Da kann man das Gespräch gleich beenden. 40

Es zeigt sich, daß Robin daran interessiert ist, Menschen zu finden, die seine Einstellung zur wahren Darstellung teilen. Mit jemandem zu chatten, der vorgibt, jemand anderes zu sein, bringt Robin nicht das, was er sich von solch einem Gespräch verspricht. Robin möchte nämlich etwas persönliches in Erfahrung bringen, und den anderen somit besser kennenlernen:

A: (...) Ich führe aber sehr viel lieber persönliche Gespräche, sagen wir' s mal so. Weil man dadurch von seinem Gegenüber ' ne ganze Menge mehr erfährt als wenn du oberflächlich mit dem sprichst. 21

Robins Interesse an ernsthafter Kommunikation mit persönlichen Inhalten steht auch im Zusammenhang mit „Freundschaften entwickeln". Im Zuge dieser Entwicklung möchte Robin die jeweilige Person durch tiefgehende Gespräche kennenlernen. In ihnen werden das Innenleben und ' persönliche Erlebnisse' thematisiert. Es zeigt sich also, daß die Freundschaftsentwicklung in Abhängigkeit von der wahren Darstellungen zur eigenen Person und Begebenheiten zu betrachten ist.

Vor allem spielt die unverfälschte Selbstdarstellung eine Rolle, wenn der Kontakt ins Real Life übertragen werden soll. Nach langen intensiven Gesprächen mit einer IRC- Teilnehmerin konnte der Interviewpartner zu einer Einschätzung bezüglich ihres Wesens und ihrer Art kommen.

A: Also z.B. die ich vorhin erzählt hab' , die Programmiererin aus Bochum, die hab' ich auch im IRC kennengelernt, und nächtelang haben wir uns unterhalten. Ganz toll, und viel Spaß gehabt und nett geplaudert, und auch tiefe Gespräche geführt. Und irgendwann meinten wir, müßten wir uns ja eigentlich mal sehen. Auch wenn' s nicht um die Ecke ist. Und dann mach' ich auch so verrückte Sachen und fahr' da einfach mal rüber. (...) Und wo lernt man denn sonst einfach mal so wen aus Bochum kennen. Vielleicht höchstens wenn man im Urlaub ist und da jemand kennenlernt. Aber so, wenn man dann schon unheimlich viel vom anderen weiß. 73

F: Und wie war das dann, als du die getroffen hast? War das komisch oder war sie irgendwie anders?

A: Ne. Die war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte, also vom Wesen her. Also ich sag' mal, dem Besuch gingen so 30 Stunden Chat voraus. Über mehrere Wochen natürlich, und wir haben auch vorher telefoniert gehabt. (...) 74

An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, daß die Programmiererin sich im Zuge ihrer Chats mit Robin immer authentisch dargestellt hat. Das bezieht sich neben den wahrscheinlich intim- persönlichen Inhalten der tiefen Gespräche gewiß auch auf Eigenschaften wie Humor, die in den spaßigen Chats zur Geltung gekommen sind. Anhand der langen und umfassenden Auseinandersetzung konnte Robin dergestalt eine authentische Einschätzung auch der außermedialen Person erreichen.

Auch wenn es darum geht, sich in einer Channel- Gemeinschaft zu etablieren, ist eine relativ authentische Selbstdarstellung gefragt.

A: Und mit der Gruppe ist es einfach schön, wenn man sich untereinander kennt. Da wird so' n bißchen diese Anonymität vom IRC genommen. Es ist weniger unpersönlich...heimischer! 81

Der Anonymitätserfahrung wird also etwas entgegengestellt, nämlich der Prozeß des gegenseitigen Kennenlernens und das sich daraus ergebende ' untereinander Kennen' . All diese bekannten Menschen im Netz um sich zu haben, erzeugt bei Robin Heimeligkeit. Wir gehen davon aus, daß innerhalb der Gruppe keine fiktiven, sondern echte Selbstinhalte offen gelegt werden. Es werden bei den anderen Gruppenmitgliedern vermutlich ähnliche Interessen vorherrschen wie bei Robin, in die eine veränderte Identität nicht eingeschlossen ist. Es scheint, daß für Robin nur bei gegenseitiger authentischer Selbstdarstellung das Gefühl einer persönlichen und heimischen Atmosphäre entsteht.

F: Wie siehst du denn deine Op- Stellung, und wie kommst du überhaupt dazu?

A: Da kommt man zu, indem man so die ersten Leute im Channel kennt und die merken, daß man sehr oft da ist. Und die dann merken, daß man es ernst meint. Und in Gesprächen dann, daß man, äh, sagen wir ' nen halbwegs normalen Charakter hat, nicht irgendein Spinner ist. 65

Zu einem höheren Status gelangt man in Robins hierarchisch strukturierter Channelgemeinschaft unter anderem durch eine Art Nachweis eines „halbwegs normalen Charakter[s]". Der Nachweis von Normalität7 bezüglich seiner individuellen Eigenschaften soll im Gespräch vermittelt werden, das den anderen Teilnehmern Aufschluß darüber gibt, mit wem sie es zu tun haben. Der Charakter kann also erst durch kommunikatives Handeln von den anderen Teilnehmern erfaßt werden. Im Handlungsverlauf wird das Set individueller Eigenschaften für die anderen ersichtlich und beurteilt. In dem Attribut „halbwegs" zeigt sich, daß individuelle Abweichungen von Verhaltensnormen im Sinne von ' Macken' oder ähnlichem als natürlich eingestuft und von den anderen akzeptiert werden. „Daß man es ernst meint" impliziert den Anspruch, nicht spielerisch an den sozialen Kontext heranzugehen, sondern möglicherweise auch den Willen zu haben, seine Person weitestgehend authentisch zu kommunizieren.

Tom

Für Tom ist IRC in erster Linie ein „Sozialkontakt". In seiner langjährigen Nutzung konnte er zum einen viele Kontakte knüpfen, die auch in seinem außermedialen sozialen Umfeld eine zentrale Rolle spielen. Zum anderen hat er im hierarchisch strukturierten IRC Karriere machen können und ist nun IRC- Operator, den viele Nutzer allein aufgrund seiner Funktion kennen. Sowohl seine Einstellung zum IRC als Sozialkontakt als auch sein Bekanntheitsgrad wirken sich vermutlich auf seine Haltung zur Selbstdarstellung aus. Für Tom ist es normal, seine Identität nicht zu ändern. Sie sollte möglichst authentisch gestaltet werden; alles andere steht für ihn im Zusammenhang mit ' Täuschung' und ' Betrug' , was wiederum seinem Konzept von IRC als Sozialkontakt zuwiderläuft. Die wahre Darstellung seiner Person ist genau wie bei Robin Voraussetzung, um Freundschaften schließen und sich in eine Gemeinschaft integrieren zu können.

F: Wie hoch ist denn die Bereitschaft von den Leuten, die sich aus dem Medium kennen, sich auch in Real Life zu treffen ?

A: Eigentlich relativ hoch. Zumindest auf den größeren Channels. Es gibt da natürlich auch Leute, die sagen, sie sollen da völlig anonym bleiben und wollen das nicht, aber die Leute, die länger dabei bleiben, die da Jahre dabei sind und dieses Medium wirklich nutzen, für die ist es eigentlich Normalität, daß man sich mit den Leuten trifft (...) 23

A: Ja, also Anonymität, .. also ich bin immer als XY im IRC, bin immer unter dem Nick und ich verschleier' meine wirkliche Person da nicht, also wenn sich jemand dafür interessiert, dann findet der auch sicherlich auch eine Telefonnummer oder eine Adresse und ein Bild von mir oder so. (...) 32

Tom nutzt in erster Linie einen Nick, um sich darzustellen. Seine IRC- Identität ist somit als konsistent und kontinuierlich zu betrachten. Er hat kein Interesse daran, seine Person zu verschleiern oder zu anonymisieren. Das wird auch aus der Bereitstellung einer Homepage ersichtlich, anhand derer andere Informationen über ihn einholen und sogar einen visuellen Eindruck gewinnen können. Tom rechnet damit, User, die gleich ihm das Medium „wirklich nutzen", in Real Life sowieso zu treffen. An dieser Stelle spricht er auch an, daß langfristige IRC- Nutzung den Wegfall der Anonymität mit sich bringt. Implizit schwingt unserem Verständnis nach bei beiden Aussagen mit, daß Tom für eine authentische Selbstdarstellung im IRC plädiert, die im Rahmen seiner Nutzungsform angebracht ist.

F: Wie kommt das, daß du immer nur eine Identität hast ?

A: Daß ich immer nur XY bin ? 132

F: Ja.

A: ...Ich halte nichts davon zu faken. 133

A: (...) ich glaube, daß meine Netzpersönlichkeit doch relativ gut mit dem Real Life korreliert...Und ich habe einfach keinen Spaß, den Leuten was zu erzählen, was ich nicht bin. 135

In allen Aussagen zeigt sich, daß Tom das Bedürfnis hat, seine wahre Natur und alles, was damit zusammenhängt zu kommunizieren. Von ihm abweichende Darstellungen machen ihm keinen Spaß. Es scheint daher auch nicht seine Interessenlage zu sein, sich zu verstellen oder anders zu repräsentieren. Es scheint gar, daß veränderte Selbstdarstellung seiner Auffassung nach mit Täuschung und Simulation gleichgesetzt wird, wie sich anhand des Ausdrucks „faken" zeigt. Solches IRC- Handeln ist bei Tom scheinbar eher negativ besetzt. Tom konstatiert in seinem Falle eine hohe Korrelation, also einen hohen Zusammenhang zwischen seiner RL- Identität und seiner IRC- Identität. Das hängt gewiß mit den vielen IRC Bekannten zusammen, die auch in seiner materiellen Umgebung Bedeutung für ihn haben. Weitere Korrespondenz zwischen Toms Netz- und seiner Real Life Identität zeichnet sich bereits in seiner Nicknamensgebung ab: Der Nick setzt sich aus den Initialen seines echten Namens zusammen.

A: Ja, das ist auch das Interessante, wo gerade jemand angerufen hat, meine Kontakte haben, also es gibt jetzt sehr sehr viele Kontakte, die sich echt so um' s IRC herum bewegen, so um diese ganze Clique herum, das muß ich schon ( lacht) irgendwie feststellen. (...) 16

Da Tom daran interessiert ist, andere Teilnehmer auch in Real Life kennenzulernen und sich in eine „Clique" eingegliedert hat, die nicht nur auf medialer Ebene existiert, sondern auch außerhalb davon Bestand hat, macht nur eine unverfälschte Darstellung Sinn.

Sarah

Auch bei Sarah geht die authentische Selbstdarstellung mit dem Versuch einher, die Anonymität aufzuheben. Wahre Angaben scheinen zur Person Voraussetzung zu sein, um Freundschaften aufzubauen und sich in eine Gruppe einzubinden.

F : Ja. Ist denn da die Anonymität aufgehoben ?

A : Ein wenig dahingehend, daß man sich einfach doch bereits auch ein bißchen näher kennt. Also die ersten Fragen...also ich würde sagen, worüber redet man mit irgend ' nem Fremden? Da fragt man dann halt mal, woher bist du und was machste so, und von daher hat man dann auch ein paar Angaben. Und es entwickelt sich mit der Zeit so, daß man dann nun mal mehr drüber weiß. Also es gibt schon einige, die mindestens wissen, daß ich' n Kind hab' und geschieden bin. Oder hier kann man bereits wieder so Gemeinsamkeiten feststellen, daß ' ne andere Frau auch allein ein Kind hat. Also da weiß man dann einiges übereinander...Die Anonymität ist natürlich dahingehend nicht aufgehoben, daß man sich noch nie begegnet ist. (...) 17

Die Aussagen beziehen sich auf einen ihrer Stammchannels. Wie bei Robin zeigt sich, daß der Prozeß des Kennenlernens mit wahren Angaben der Teilnehmer verbunden ist. Über diese lassen sich dann Gemeinsamkeiten entdecken und Wissen übereinander ansammeln. Beides ist vermutlich ein Schritt in einer Freundschaftsentwicklung, und darüber hinaus auch eine Voraussetzung für dauerhafte Beziehungen in und zu der Gruppe ihrer Stammchannels. Wahre Angaben tragen zur Aufhebung der Anonymität bei. Vollständig aufgehoben ist diese allerdings erst, wenn man den Leuten in der physischen Welt begegnet.

A: (...) Und zwar ... hab' ich einen, der sozusagen ich, mich darstellt. (...) Aber bei meinem eigentlichen Nick, da mache ich auf jeden Fall schon immer richtige Angaben, die anderen sollen sich ja auch zu mir äußern! (...) 24

Sarah hat mehrere Nicknamen, wobei es einen ' Eigentlichen' gibt, mit dem sie das verkörpern will, was sie in Real Life ausmacht. Dieser ' eigentliche Nick' steht im Vordergrund, wenn sie ihre Stammchannels aufsucht. Dort wünscht Sarah sich Reaktionen und Stellungnahmen der anderen Teilnehmer zu ihrem lebensweltlichen Selbst, um es beispielsweise reflektieren zu können. In diesem Kontext sind also nur authentische Angaben sinnvoll.

A : (...) Ähh, ich kann [in oft besuchten Channels] nicht eine falsche Identität aufbauen und die durchhalten. Das wäre mir auch quasi ethisch etwas zuwider. 29

Auf ihren Stammchannels, in denen Sarah sich immer wieder einfindet, kann sie die Konstruktion einer von ihr abweichenden Identität gegenüber den anderen Teilnehmern nicht verantworten. Sarah spricht von Ethik. Wir vermuten, daß sie damit eine Art moralische Empfindung meint, die sie hindert, bei längerfristigen Begegnungen ihre Identität zu wechseln und auszugestalten. Sarah will ihre Bekannten nicht dauerhaft ' anlügen' , während sie bei kurzfristigen Begegnungen beizeiten an veränderter Selbstdarstellung großen Gefallen findet. Die authentische Selbstdarstellung leitet sich also auch aus der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber den Teilnehmern ab, die sie immer wieder trifft und zu denen sie eine Beziehung aufbaut.

Theoretisierende Zusammenfassung

Wie wir gesehen haben, ist das Feld der Identitätsveränderung im IRC recht breit gestreut und läßt potentiell eine große Anzahl an Variationen zu. So gibt es Identitäten, die völlig neu konstruiert, erfunden und ausgestaltet sind, wobei eigene Erfindungsgabe, Kreativität und Improvisationsfähigkeit zur Darstellung beitragen. Solches Handeln hat spielerischen und experimentellen Charakter und dient der Unterhaltung sowie der Entfaltung. In diese Phantasieidentitäten können jedoch auch eigene Wunschträume eingehen und auf diese Weise zumindest in der Virtualität ihre Erfüllung finden. Innerhalb einer Rolle kann der Benutzer ganz neue Erfahrungen machen, sofern er weit genug in dieser Identität aufgeht und sie internalisiert.

Interessant ist ebenfalls die Variante des Rollenspiels, bei der anhand der IRC- Identität mit Aspekten der eigenen Persönlichkeit experimentiert wird. Diese Variante hat viele Gesichter. Es kann sein, daß jemand weiterhin sich selbst spielt, jedoch unter Veränderung wichtiger Persönlichkeitsdetails wie z.B. dem Alter. Das kann weitreichende Konsequenzen für das momentane Selbsterleben und die aktuelle Interaktion haben, wie es uns Sarah beschrieben hat. Weiterhin können Persönlichkeitszüge in Form einer eigenen Identität repräsentiert und im virtuellen Raum ausgespielt werden, was sowohl bewußt als auch unbewußt geschehen kann. Jedoch kann allein die virtuelle Umgebung, in der ein Nutzer sich befindet, zu einer Loslösung von seiner im Alltag hauptsächlich präsenten Identität führen, wodurch dann andere Komponenten dominieren, ohne explizit in einer Rolle manifestiert zu sein. Insgesamt bietet IRC einen neuen Umgang mit Teilen des Selbst. Diese lassen sich im außermedialen Bereich aus den verschiedensten Gründen - seien es gesellschaftliche Normen oder das eigene Idealbild - nicht ausleben. Außermedial sind sie nur latent wirksam. Im sicheren, anonymen virtuellen Raum kann der IRC- Nutzer sie in Erscheinung treten lassen, sich in dieser Form ausprobieren und lernen, damit umzugehen, oder gar diese Züge erst entdecken.

Sämtliche Rollen und Identitäten können jedoch im IRC nur durch Kommunikation und Interaktion realisiert werden, es handelt sich gewissermaßen um soziale Konstruktionen. Denn der Chatpartner, der durch seine Rezeption über Wahrheit oder Unwahrheit der Gestalten entscheidet, ist maßgeblich an der Verifikation beteiligt. Des weiteren bewirkt er durch seine Reaktionen auf die jeweilige Identität - falls selbige nicht angezweifelt wird - daß sie für denjenigen, der sie innehat, realer wird. Durch die Reaktionen vergrößert sich der Erfahrungswert, da man z.B. in der Rolle eines Mannes auch als ein solcher behandelt wird. Bemerkenswert ist, daß, bis auf Tom, unsere Interviewpartner im Kontext veränderter Selbstdarstellung kaum näheres Interesse an der Person ihrer Chatpartner bekunden, sondern diese offenbar wirklich eine eher funktionale Rolle einnehmen.

Wichtig bei Identitätsveränderung und Rollenspiel ist auch die Befreiung von Rezeptionsgewohnheiten anderer zur eigenen Person, und von Rollenzuteilungen, die sich aus vorangegangenen Interaktionen ergeben. Diese können sowohl inner- als auch außermedial bestehen, fallen aber dann durch die personale Neudefinition weg. Dadurch steht der jeweiligen Person ein breiteres und weniger determiniertes Handlungsfeld zur Verfügung.

Wo sich bei der veränderten Selbstdarstellung das Selbst vor allem als multidimensionaler Bedeutungsraum zeigt und sein facettenreiches dynamisches Moment auslebt, bei dem es weniger um den sozialen Kontext geht, ist die authentische Selbstdarstellung auf das Engste mit der Erweiterung des sozialen Radius verknüpft. Die unverfälschte Präsentation ist Voraussetzung, um andere IRC- Benutzer wirklich kennenzulernen und Freundschaften aufzubauen, die sich gegebenenfalls auch in die außermediale Realität übertragen lassen. Wahre Angaben hinsichtlich der Identität sind scheinbar auch vonnöten, um sich in einer Gemeinschaft zu etablieren. In diesem Rahmen kann auch die Alltagsidentität mit Hilfe der anderen reflektiert werden. Darüber hinaus scheint das Wissen um die Identität und den Lebenskontext der anderen die Erfahrung von Anonymität zu vermindern. Bezüglich längerfristiger Sozialkontakte im IRC bewertete die Mehrheit unserer Interviewpartner eine veränderte Selbstdarstellung als negativ. Es könnte sich hier um eine Polarität zwischen ernsthaftem, sozialen Umgang und authentischer Selbstdarstellung auf der einen Seite versus spielerischem, eher egozentrischen Umgang und veränderter Selbstdarstellung auf der anderen Seite handeln.

4.6. Bewältigung unterschiedlicher Problematik und Persönlichkeitsfindung

Sarah

Sarah nutzt IRC unter anderem zur Bewältigung der Trennung von ihrem Mann. Sarahs Stammchannel ist ihr Hauptforum im Medium, um mit ihren IRC- Freunden unterschiedliches zu besprechen. Hier findet sie ihr „Publikum". Einige Themen sind sicherlich auch zur Problembearbeitung zu rechnen. Dominant in diesem Kontext ist Sarahs Scheidung, die ca. ein Jahr zurückliegt.

A: (...) Da sind Leute, die sich alles anhören und dazu Stellung beziehen, was man sagt. Und daran teilnehmen. Oder was weiß ich, man kann auch über ' nen neuen Film sprechen, wer den gesehen hat oder so. Tja, das ist ' ne Spiegelung dessen, was man so macht und sich einfallen läßt im Gespräch und was bei mir geschieht. Ich hab' da meine ganze Scheidung...ja...aufgearbeitet....geredet...Da kann man alles mal richtig rauslassen auch. 18

F: Könnte man das als Verarbeitungsprozeß bezeichnen?

A: Ja, durchaus....war sicherlich gut, daß es da IRC gab' , weil ich auch nicht der Typ bin, der alles in sich hineinfrißt, sondern eher was rausläßt...von daher war das durchaus...perfekt. 79

Sarah kann im IRC viele Themen bereden, die im Zusammenhang mit ihrem Selbst stehen. Es wird z.B. thematisiert, was sie „macht", also Aktionen ihrerseits, was bei ihr „geschieht", was ihr also im Leben passiv widerfährt und was ihr einfällt. All das sind Gesprächsgegenstände, in denen sich Sarahs Person widerspiegelt. Ein wichtiger Punkt ihres außermedialen Lebens, der sich in den Diskursen wiederfindet, ist ihre Scheidung. Dabei verwendet Sarah an verschiedenen Interviewstellen das Wort „rauslassen" als relevant im Zusammenhang mit der Bewältigung ihrer Trennungsproblematik. Um mit dem Ereignis fertig zu werden, scheint es Sarah wichtig zu sein, alles damit zusammenhängende - vermutlich Gedanken, Wut und Ärger, eigene Konflikte, die damit einhergehenden Veränderungen etc. - artikulieren zu können. Um etwas zu artikulieren sollte man es bereits reflektiert haben, was sicherlich einen Beitrag zur Bewältigung eines derartigen Ereignisses beisteuert. Sarah scheint sich durch die pure Artikulation einen Teil der Last ' von der Seele zu reden' , was offenbar hilfreich und erleichternd ist. Sie ist nicht gezwungen, alles in sich hineinzufressen, eine Wortwahl, die bereits nach psychischer Ungesundheit klingt. IRC eignet sich laut Sarah zum ' Rauslassen' „perfekt".

Der Grund für die optimale Eignung ist vermutlich multipel. Sehr wichtig ist gewiß die medial begünstigte Unbefangenheit (siehe 4.2.), die es Sarah „wesentlich einfacher" macht, anderen gegenüber zu äußern, wie es „bei [ihr] oder in [ihr] aussieht". Hemmungen, die Sarah aus herkömmlichen Gesprächssituationen kennt, fallen im IRC - unter anderem wegen der Anonymität - weg.

Es bleibt aber nicht bei der Artikulation dessen, was bei und in Sarah im Verlaufe der Scheidung geschehen ist. Auch die Bekannten ihres Stammchannles sind aktiv am Bewältigungsprozeß beteiligt.

A: (...) auf jeden Fall sind einige Leute da, die sich mit mir, meinen Äußerungen, beschäftigen. Sich damit auseinandersetzen und mir dazu sagen, was sie darüber denken. (...) 76

A: Ich erwarte Feedback und eine Reaktion auf meine Inhalte. Also ich mache das nicht umsonst, ich verlange schon, daß die da was dazu sagen. Umgekehrt ja auch. Wenn mir jemand was persönliches erzählt, dann mache ich mir ja auch meine Gedanken, kurz, und äußere mich dann dazu, oder gehe darauf ein. (...) 68

Sarah geht es offenbar nicht nur um die Artikulation, sondern auch um die Reaktionen, die sie darauf erhält. Es findet eine interaktive Auseinandersetzung mit Sarahs Problematik statt. Sie erhält von den anderen Usern ihres Channels eine durchdachte Rückmeldung, was bei der Bewältigung hilfreich zu sein scheint. Sarah muß sich mit diesem komplexen Thema nicht allein auseinandersetzen, sondern betreibt gemeinsam mit den anderen - die sich offenbar eingehend mit Sarahs Äußerungen beschäftigen - eine intensive Auseinandersetzung.

A: Hmm, es ist nunmal so, daß im IRC sehr viel ganz verschiedene Leute zu finden sind, ganz unterschiedliche, und aus jeder Richtung und alles...Man kriegt ein breiter gefächertes Feedback als normalerweise. Und eben auch so rum, daß die Leute weniger Hemmungen haben, einem was unangenehmes zu sagen. Auch wenn' s von der Atmosphäre eigentlich immer wohlmeinend ist. Da sehe ich das dann eher als was konstruktives an. Als konstruktive Kritik, was irgendwelche Einstellungen oder Sichtweisen von mir angeht...Und das machen die dicken Freundinnen und Freunde, die man hat, die sagen einem das nicht so, sondern viel mehr durch die Blume...Und ich will das vielleicht aber auch nicht immer wahrhaben, dann nehme das so auf, wie ich es aufnehmen möchte...Und da [im IRC]...kommt man dann nicht drumherum, das so aufnehmen zu müssen, wie die das äußern....Wobei das auch nicht unendlich oft vorkommt, aber gerade...bei meiner...Scheidungsgeschichte, da...da war schon ein Thema...was ich z.B. auch falsch gemacht habe...Aber da in dem Fall war ich dann auch einsichtiger. 78

Sarahs Reflexion zu ihrer Trennung scheint über alltägliche Auseinandersetzung hinauszugehen. Im IRC kommuniziert sie mit einer Vielfalt unterschiedlicher Menschen, die sich auch von ihren außermedialen Sozialkontakten unterscheiden. Demnach wird sie vermutlich mit vielfältigen und ganz unterschiedlichen Denkweisen, Anschauungen, Einstellungen, Formen der Problembewältigung konfrontiert, die die Bandbreite an Rückmeldungen ausweitet. Sarah erhält also ein wesentlich vielfältigeres Spektrum an Feedback, was vermutlich neue und andere Impulse und Perspektiven im Rahmen des „Verarbeitungsprozesses" eröffnet. Wir nehmen an, daß ihr das Mehr an Perspektiven neue Erkenntnisse oder Einordnungen verschafft, die sie ihre Problematik besser bewältigen lassen. Die IRC- Bekannten sind des weiteren in der Formulierung ihrer Rückmeldung, die in diesem Fall auch als Kritik ausfallen kann, direkter. Sie haben keine Hemmungen, unangenehme Kritik zu äußern, während in Sarahs außermedialem Freundeskreis Kritik vermutlich aus Gründen der Rücksicht und Schonung „durch die Blume" vermittelt wird, also verschlüsselter und nicht so geradeheraus. Was ihre Real Life Freunde zwar gut meinen, mündet in einem von Selbstschutz gekennzeichneten Umgang mit den Äußerungen. Sarah interpretiert sie so, daß sie mit dem, was sie hören möchte, übereinstimmen. Auf diese Weise muß sie nicht an eigenen „Einstellungen und Sichtweisen" zweifeln und sie gegebenenfalls überdenken und modifizieren. Im IRC hingegen ist Sarah durch die wenig zurückhaltende Kritik gezwungen, sich anders als in der außermedialen Welt mit ihren Problemen auseinanderzusetzen, was zu Einsichtigkeit führen kann. Aufgrund der im Channel bestehenden positiven und als „wohlmeinend" erlebten Atmosphäre wird die Kritik der anderen als konstruktiv und daher wohl auch als hilfreich angesehen und nicht etwa als ein persönlicher Angriff bewertet.

Alles in allem hat sich Sarah anscheinend im IRC sehr umfassend mit ihrer Trennungsproblematik auseinandergesetzt und sie in interaktiven Diskursen - zumindest teilweise - bewältigt. Darüber hinaus nehmen wir eine Form der Ablenkung und angenehmen Art des Zeitverbringens an.

A: (...) sagen wir mal...diese Sache auch von der Zeit her, äh, wie soll ich sagen, nicht von der Zeit her zu verarbeiten, aber es ist durchaus so gewesen, daß ich dann angefangen hab' , mehr zu chatten, einerseits, weil man da auch Leute kennenlernt, oder sagen wir mal, äh, was heißt kennenlernt...ja, man macht schon neue Bekanntschaften, aber ist auch mit Leuten eben einfach so beisammen, oder äh...unterhält sich (...).7

Sarah hat leichte Schwierigkeiten, genau auszudrücken, was sie sagen will. Klar spricht sie davon, in der Phase ihrer Trennung vermehrt gechattet zu haben. Die Gründe dafür liegen zum einen im Kennenlernen von neuen Bekannten, zum anderen in dem, was Sarah vermutlich mit „von der Zeit her zu verarbeiten" meint. Darunter ist wohl zu verstehen, daß, wie man so schön sagt, die Zeit ihre Wunden heilt und die Ereignisse immer schwächer wirken. Das würde jedoch auch unabhängig von IRC geschehen. Daher vermuten wir hinter dem zeitlichen Verarbeiten noch einen anderen Aspekt: Sarah meint wohl auch das abendliche Zeitverbringen, bei dem sie sich interaktiv mit anderen unterhält und virtuell beisammen ist. Früher verbrachte sie die Abende vermutlich mit ihrem Mann. Nach der Trennung wäre demnach eine Beschäftigungslücke vorhanden, die es zu füllen gilt. Hier bietet sich IRC als „eine sehr abwechslungsreiche Weise [an], sich abends, wenn Sohnemann im Bett ist, zu beschäftigen". IRC hilft Sarah also nicht nur bei einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Trennung, in deren Verlauf das ganze Ereignis diskutiert wird. Die Scheidung hat ja auch Konsequenzen für ihr Leben insgesamt, wie hier beispielsweise am abendlichen Zeitvertreib zu sehen ist. Auch beim Umgang mit solchen Umstellungen in ihrem Leben scheint IRC einen Beitrag zu leisten.

Tom

IRC hatte nach Aussagen unseres Gesprächspartners „einen wahnsinnigen Einfluß auf [seine] Identität und Persönlichkeitsbildung". Er hat durch das Medium seine „Persönlichkeit gefunden". Das Medium wurde für Tom nach eigenen Angaben bereits mit ca. 16 Jahren interessant. Hier zeigt sich allerdings eine Ungereimtheit bezüglich anderer Aussagen, die Tom gemacht hat: Als Alter nannte Tom 26 Jahre und den Beginn seiner IRC- Nutzung datierte er 6,5 Jahre zurück, so daß er zu diesem Zeitpunkt eigentlich 19 Jahre hätte alt sein müssen. In der Datenauswertung stützen wir uns auf die Angabe, wonach er als 16- jähriger IRC- Anwender wurde. In dieser Zeit - es ist anzunehmen, daß es sich um die Pubertät handelt, was mit seiner ' Persönlichkeitsfindung' korrespondieren würde - setzte Tom sich nach eigenen Angaben gedanklich verstärkt mit sich, seiner Umwelt und einem Weltbild auseinander. Er hatte aber augenscheinlich Probleme mit seiner direkten Umwelt, was sein ' Abtauchen' in die IRC- Welt forcierte:

A: (...) und dann stehen die Leute in der Schule da, gucken einen an und denken, was ist das für einer, so völlig bescheuert, und drehen sich um und gehen weg. Weil die einfach nicht nachvollziehen können, was da abgeht und ich auch einfach nicht dazu in der Lage war, denen zu erklären, was da abgeht. (lacht) Ich bin halt auch völlig in diese Welt eingetaucht, ich war in der Schule immer relativ Einzelgänger, habe mich nie in irgendwelche Cliquen einpassen können...und so Leute, die in Cliquen so Mittelpunkte waren, das waren Leute, die habe ich immer völlig angegangen, also das war (lacht) also das konnte ich nicht haben, so was. Und deswegen war ich in der Schule doch immer relativ starker Einzelgänger, habe die 9. Klasse zwei mal gemacht, Abi zwei mal gemacht, weil ich mich doch relativ weit aus dieser Welt entfernt hatte, und klar, das hängt auch damit zusammen, daß ich hier für mich meine eigene Welt aufgebaut hatte, andere Leute kannte, in ganz anderen Kreisen war und damit natürlich irgendwo für andere Leute aus einer völlig andern Welt kam. 75

Toms Eintauchen in die IRC- Realität steht in Zusammenhang mit geringer Akzeptanz, die er von seiner direkten Umwelt erfuhr. In seiner Schule war er „immer relativ Einzelgänger" und lehnte Cliquen und ihre Anführer ab. Allerdings könnte es sich hierbei auch um ein Zurechtlegen aus Selbstschutz handeln und sich zusätzlich so verhalten, daß Tom nicht in die Cliquen integriert, sondern abgelehnt wurde. Seine engagierte Beteiligung an Cliquen und Gemeinschaftlichkeit im IRC spricht für diese Vermutung. Jedenfalls war Tom Einzelgänger. IRC eröffnete sich ihm gewissermaßen als Ersatzwelt, die für Tom offenbar adäquater war, so daß er sich vermehrt in der virtuellen Welt aufhielt. Was genau ihn an der medialen Umgebung so faszinierte, kann man nur spekulieren: Wir vermuten einen multiplen Begründungszusammenhang, zu dem zählen könnte, daß Tom über Tastatur besser mit anderen Menschen kommunizieren und sich innermedial mit technischer Kompetenz profilieren konnte. Tom spricht von „eintauchen" und aktivem ' Aufbau' , also Konstruktion einer eigenen Welt. Später redet er davon, aus einer „anderen Welt" zu kommen. All das suggeriert eine recht weitgehende mentale Entfernung vom physischen Leben und ein Aufgehen im virtuellen Bereich, in dem Tom scheinbar auch besser zurechtkam. Seine Erzählungen über die Welt des IRC waren aber für seine Mitschüler nicht nachvollziehbar, was wiederum zu stärkerer Ablehnung, Bestätigung seines Einzelgängertums und intensiviertem IRC- Handeln, und dadurch zu weiterer Entfernung von seiner außermedialen Realität führte. Im IRC fand und bekam Tom alles, was in der physischen Welt nicht vorhanden war, wobei Tom sich allerdings den Anschein geben will, dies außermedial nicht unbedingt angestrebt zu haben. Er hatte Kontakte, kannte Leute, war in IRC- Kreisen integriert und wahrscheinlich akzeptiert. Tom konnte demnach direkt vom Mediumgebrauch profitieren und durch die innermediale Welt Werte wie Akzeptanz, Anerkennung, Cliquenmitgliedschaft, Freunde - alles im außermedialen Bereich scheinbar defizitär besetzt - erlangen. Wir nehmen an, daß Tom dadurch sein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl verbessern konnte. IRC scheint zu diesem Zeitpunkt seines Lebens zum einen Defizite auszugleichen, zum anderen aber auch ein adäquateres Umfeld zu liefern, in dem Tom sich besser zurechtfand. Das alles hat offenbar einen sich dahingehend aufschaukelnden Charakter, daß Tom wegen seiner außermedialen Probleme in die IRC- Welt abtauchte und sich darin sehr engagierte, was seine Probleme außermedial vergrößerte und wiederum intensivere Konzentration auf die IRC- Welt mit sich brachte.

Es wird unserer Meinung nach ersichtlich, daß Tom durch das soziale Umfeld des IRC an Selbstvertrauen gewonnen hat und einige soziale Bedürfnisse stillen konnte. Der Zuwachs an Selbstbewußtsein hat jedoch neben der sozialen auch mit der technischen Seite des Mediums zu tun. Tom ist uns ja bereits als ein technisch kompetenter und interessierter Mensch bekannt.

A: (...)das hängt damit zusammen, daß ich (...) natürlich meine Erfahrungen gesammelt habe und mein Wissen angesammelt habe und auch irgendwann angefangen habe, mich darüber zu definieren. Ich kann was, was andere Leute nicht können, das ist ja was, was man für das Selbstbewußtsein irgendwann mal braucht. Da man sagen kann, man hat irgendwas, wo man sich von anderen Leuten abhebt. (...) 34

Im Zuge seiner IRC- Tätigkeit konnte Tom einen großen Wissens- und Erfahrungszuwachs auf technischem Gebiet verbuchen. Damit beherrschte er etwas und war auf einem Gebiet besser als andere. Tom scheint Selbstvertrauen aus sozialem Vergleich zu erlangen, bei dem es ihm darum geht, etwas besser zu beherrschen als andere und sich dadurch gewissermaßen überdurchschnittlich einstufen zu können. Das gelang ihm durch technische Kompetenz, anhand derer Tom Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen schöpfen konnte.

A: Also, was es mir gebracht hat im Endeffekt durch die Sache auch für mein Real Life ein wesentlich größeres Selbstbewußtsein daraus gezogen, weil ich eben die Kontakte hatte, weil ich eine gewisse Kompetenz hatte und weil ich wußte, ich kann irgendwas, das hat sich sehr stark auf mein Real Life ausgewirkt. Und das hat sich wieder sehr stark darauf ausgewirkt, daß ich in Real Life wieder damit anfangen konnte, echte Kontakte unabhängig vom Internet zu knüpfen. Weil ich mir einfach selber sicherer war. 76

Tom hat „durch die Sache", womit er wohl seine IRC- Tätigkeit insgesamt umschreibt, vermutlich erst im innermedialen Bereich an Selbstvertrauen gewonnen, da er dort ja akzeptiert, integriert und mit ausreichenden Sozialkontakten ausgestattet war. Toms Technikverständnis trug in der IRC- Welt ebenso dazu bei, akzeptierter zu sein und sich durch Kompetenz profilieren zu können, so daß er, darauf basierend, weiterhin sein Selbstbewußtsein ausbauen konnte. Durch Beides kam er also im Rahmen der IRC- Welt zur Stärkung seines Selbstwertgefühls. Die Erfahrung von Selbstvertrauen wirkt offenbar - egal in welchem Bereich sie gewonnen wurde - auch in der außermedialen Welt. Tom spricht von einer sehr starken Auswirkung. Durch seine zu diesem Zeitpunkt vom außermedialen Bereich anscheinend eher abgetrennte IRC- Welt gewann Tom auch in der physischen Welt an Selbstvertrauen. Mit diesem Selbstvertrauen konnte er nun sein soziales Umfeld auch auf Menschen ausweiten, die in keinem IRC- Kontext standen. Anhand dieser Episode wird ersichtlich, daß im innermedialen Kontext stehende Erfahrungen durchaus realen Charakter haben, bei dem zwischen inner- und außermedial nicht getrennt wird. Auch spricht dieser Teil von Toms Biographie für die persönlichkeitsbildenden Potentiale des Mediums. In Fällen, die beim ersten Eindruck auf eine Verarbeitung von Defiziten hindeuten und die wohl dem technikkritischen Stereotyp des sozial wenig integrierten Chatters entsprechen, kann IRC positive Resultate bringen und helfen, Probleme mit der außermedialen Umwelt zu überwinden.

Wir vermuten bei Tom zudem auch Formen unbewußter Verarbeitung. Wie gesehen, hatte Tom früher eine starke Abneigung gegen Cliquen und vor allem ihre Anführer: Er konnte sich „nie in irgendwelche Cliquen einpassen" und die „Mittelpunkte" der Cliquen wurden von ihm angefeindet. Man könnte jedoch auch gegenseitige Antipathie in Betracht ziehen, wie bereits vorhin erwähnt. Sicherlich waren Cliquen ein konfliktreicher Punkt für Tom, was sich beizeiten auch im IRC fortzusetzen scheint. Wir betrachten nun Toms Aussage zu früheren Cliquenproblemen im Zusammenhang mit der von ihm geschilderten Episode zur Auseinandersetzung mit einer IRC- Clique und deren „Channelkönig" (inhaltlich Näheres zu der Episode siehe in der Kategorie 4.4. zu Cliquen). Hier ging Tom gegen eine bestimmte Clique und vor allem gegen deren Anführer vor, allerdings auch im Rahmen technischer Notwendigkeit. Der Konflikt wurde recht rabiat ausgetragen, was durch Wortwahl und Handlungen ersichtlich wird.

A: (...) Also das war ein, ja, Krieg (...) Und als IRC- Op ist man in der Lage, bestimmte Leute entweder temporär oder auch dauerhaft rauszuschmeißen. 40

Dauerhafter Ausschluß - im IRC Jargon als „K- Line" bezeichnet - ist eine nur bei eklatantem Verstoß gegen die Netiquette oder technischen Regelungen seitens der IRC- Server angewandte Maßnahme. Der Betroffene ist bis zur Aufhebung der K- Line aus dem IRC verbannt. Tom erwähnt hier diese recht radikale Sanktion im Kontext der Auseinandersetzung, die - wohl wegen ihrer Ernsthaftigkeit - sogar als Krieg bezeichnet wird.

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A: (...) ich wäre der Letzte gewesen, der gesagt hätte, nun laßt mich noch eine Weile mit dem reden, sondern ich habe gesagt ' raus, ist gut so !' 49

Für Tom kommen tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem „Channelkönig" scheinbar nicht in Frage; er soll nur weg und für einen längeren Zeitraum aus dem IRC verschwinden sowie seine „Aktionen eingedämmt" werden. Wir vermuten, daß man Toms wenig an Klärung der Situation interessierte Haltung dem Cliquenführer gegenüber auch im Lichte vergangener Zeiten betrachten kann. Damals hatte er Schwierigkeiten mit Cliquen. Vielleicht überträgt Tom negative Gefühle auf den „Channelkönig", die aus früheren Situationen sozialen Erlebens mit Cliquen und deren Anführern entstanden sind. Dann ginge er deshalb so kompromißlos gegen den Cliquenführer vor, weil dadurch im Rahmen des Krieges ' Niederlagen' der Vergangenheit in einen Sieg gewandelt werden könnten und sich so die Erfahrungen der Vergangenheit verarbeiten ließen.

Tom ist ein IRC- Nutzer, der sehr viele andere Anwender auch persönlich kennengelernt hat. Dabei hat er Unterschiede in der Art der innermedialen Selbstrepräsentation festgestellt, im Vergleich zu dem, wie er die Person außermedial erlebt.

A: (...) es gibt eben die Leute, die in Real Life sehr sehr schüchtern sind und die dann im Channel ganz schön weit das Maul aufreißen. Das ist so eine typische Figur, die man da findet im IRC. (...) 29

Interessant ist, daß Tom als ' IRC- typisch' Menschen darstellt, deren Handeln sich gleichsam ins Gegenteil verwandelt. Er spricht - unserer Meinung nach - eine Wandlung an von - wie das „sehr sehr" suggeriert - äußerst schüchternen Menschen in Personen, die diese Schüchternheit im IRC ablegen und ihr Handeln um 180 ° wandeln.

Denn nun handelt es sich um Chattende, der überhaupt kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen scheinen. Selbstkonzepte der Extraversion können sich unter IRC- Rahmenbedingungen offenbar besser als sonst äußern. Das erweckt den Anschein, daß einige Menschen dazu neigen, in der innermedialen Realität kompensatorische Handlungen oder Selbstanteile an den Tag zu legen. Was dem Schüchternen in der physischen Welt nicht gelingt oder woran es ihm mangelt, kann er durch verstärktes derartiges Handeln im IRC ausgleichen und so wohl auch kompensieren.

Robin

Für Robin erwies sich IRC als hilfreich, um mit der Trennung von seiner Freundin zurechtzukommen.

A: Hmm, also ich sag' mal so; ich habÕ vor ' m halben Jahr ' ne Trennung gehabt...und da, da war ich dann schon allabendlich im IRC. Gut, also ich saß da nicht ganz vereinsamt am Rechner, ich hab' schon Freunde, aber...wie das halt so ist, die hatten auch...da ist das dann halt nicht mehr immer so mit abends was trinken gehen, wenn die selbst in ' ner Beziehung sind oder am nächsten Morgen raus müssen. Und da ist halt doch das IRC ' ne sehr gute Möglichkeit(...).57

F: Hat das denn vielleicht was mit Ablenkung zu tun?

A: Ja, ja, ganz klar, um sich nicht soo allein gelassen zu fühlen. 58

F: Also schon auch mit Gesellschaft.

A: Richtig, nicht Fernseher anstellen, sondern sich da einloggen. Der Reiz des Interaktiven, daß man zu jemand spricht und dann auch ' ne Antwort kriegt. 59

Robin war nach der Trennung offenbar etwas einsamer, vorher war es wohl die Freundin, mit der er seine Abende verbrachte. Aber auch seine Freunde waren auf verschiedene Art in ihren eigenen Lebensalltag eingebunden und standen als Kommunikationspartner bzw. auch zum Zeitvertreib nicht immer zur Verfügung. Hier bietet sich IRC an, da so „allabendlich" - womit Robin vermutlich seine Bedarfssituation anspricht - andere Anwender online sind, mit denen sich die Zeit vertreiben läßt. Wichtig ist scheinbar, daß es Menschen sind, mit denen Robin kommuniziert. Das bewirkt wahrscheinlich, daß er sich durch das Chatten weniger allein fühlt bei gleichzeitiger Ablenkung von den Belangen seines physischen Lebens. Der Fernseher hingegen - von Robin als die mögliche Alternative zu IRC angeführt, die ja auch hilfreich ist, um Zeit zu verbringen - kann ihm nicht das Gefühl vermitteln, in Gesellschaft zu sein, obwohl er bei beiden Alternativen faktisch allein zu hause sitzt. Die Erfahrung von Geselligkeit ist dennoch real gegeben. Sie ist gewissermaßen mental und reicht bei Robin aus, um sich in der Phase der Trennung zum einen nicht so allein zu fühlen, zum anderen aber auch nicht zu langweilen oder womöglich ins Grübeln zu geraten.

Bei anderen kritischen Ereignissen rechnet Robin ebenfalls damit, daß die virtuelle Welt des IRC ihm Hilfe bieten könnte.

A:(...)Z.B. weiß ich auch, daß wenn jetzt was ganz krasses passieren würde - weiß nicht, was man sich da so ausmalen kann, äh...also Tod eines Angehörigen, in dem Spektrum, also schon krasse Sachen - daß man da im IRC echt Leute hat, die da sind, und Trost spenden können. 81

F: Wie unterscheidet sich denn diese Art Trost von dem, die du von deinen sonstigen Freunden kriegen würdest?

A: Mh, tja, also Freunde nehmen einen eher so in den Arm, das ist auf ' nem anderen Level, ja, persönlicher...Während im Channel, da wird dann doch eher probiert, die Leute gleich wieder aufzubauen, sie aufzumuntern; und abzulenken, ganz einfach. (...) 82

Robin spricht die Präsenz seiner IRC- Bekannten im Stammchannel bei möglichen tragischen Ereignissen an. Sie sind da und stehen zur Verfügung, um ihn bei schrecklichen Schicksalsschlägen tröstend zu unterstützen. Auch wenn Robin die Situation nur im Konjunktiv entwirft und somit nicht aus eigener Erfahrung spricht, rechnet er trotzdem fest mit dem Trost und der Verfügbarkeit der Channelbekannten, wobei eventuell auch die leichte Erreichbarkeit der IRC- Bekannten eine Rolle spielt. Es ist denkbar, daß allein das Bewußtsein und die Sicherheit, daß überhaupt Menschen da sind, unterstützend auftreten und man also nicht allein in der Welt steht, von Relevanz ist. Das könnte ihm Gefühle von Sicherheit vermitteln. Die Form des Trostes gestaltet sich jedoch anders als mit physischen Freunden. Diese unterstützen ihn durch körperliche Anwesenheit, leibliche Zuwendung und Wärme, all das hat in unseren Augen einen emotionaleren und persönlicheren Charakter. Womöglich kann eine derartige Form der Schicksalsbewältigung auch nur mit Menschen geschehen, denen man persönlich sehr nahe steht. Die Leute im Channel hingegen versuchen, demjenigen aufmunternd und aufbauend gegenüberzutreten, ihn von seinem Leid abzulenken. Robin soll im IRC auf andere Gedanken gebracht werden und durch Aufmunterung sein potentielles Schicksal leichter tragen. Das Medium ist in so einem Falle also sicherlich hilfreich, wobei die eigentliche Bewältigung der Problematik wohl eher außermedial stattfinden dürfte, IRC aber dennoch wichtige Impulse zur Verarbeitung liefert. Diese könnten - neben Ablenkung - darin liegen, daß dem Betroffenen nahegelegt wird, noch die positiveren Seiten des Lebens in Betracht zu ziehen. Das wollen wir unter ' Aufbauen' und ' Aufmuntern' verstehen. Aus Robins Bewältigungsstrategie wird ersichtlich, daß bei FTF- Kommunikation, also der persönlicheren Form des Austausches, auch die Auseinandersetzung mit dem Ereignis auf intimere Weise vonstatten geht. Im sogenannten unpersönlichen Medium IRC hingegen wird Robin aufgemuntert und abgelenkt, was eine nicht ganz so persönliche Bearbeitung des Problems darstellt. Der Grad der Nähe oder Persönlichkeit beim Umgang mit dem Problem ähnelt dem Grad der Nähe bei der Kommunikationsform.

Es gibt jedoch auch Problembearbeitung inhaltlicher Natur, die meistens im Privatchat geschieht. Denn Robin hält die Reduzierung auf einen Chat für selbstverständlich, sobald es „sehr tiefgehend" wird oder „jemand ein großes Problem hat". Dabei möchte Robin nicht vom interaktiven Geschehen in anderen geöffneten Fenstern abgelenkt werden. Als Beispiel für so einen Fall berichtet Robin von jemandem, der „solo" war und damit „ganz schöne Probleme" hatte, so daß Robin ihn „immer (...) aufgebaut" hat. Warum dieser Mensch offenbar hauptsächlich im IRC Unterstützung und Zuwendung suchte, kann nicht nachvollzogen werden. Dennoch nehmen wir als eine bedingende Komponente wieder die durch CMC begünstigte Unbefangenheit in der Äußerung problematischer Thematik an. Möglicherweise fiel es dem Anwender schwerer, seine Probleme mit Einsamkeit und Solo- Dasein seinem direkten Umfeld gegenüber zu äußern.

A: Es ist einfach ' n schönes Gefühl, wenn man merkt, man kann jemand auch noch so Tips geben und den da aus seinem Tief, was er da ganz schön hatte, rausholen....Wenn man dem sagt: hast du schonmal da und darüber nachgedacht, und der sagt: ' hups, so hab' ich das noch gar nicht gesehen' ...Ich weiß nicht, wie ich dieses Gefühl beschreiben soll....irgendwie in gewisser Weise fühlt man sich als Therapeut, und...weiß ich nicht...nicht daß ich mir da jetzt ' nen Orden umhäng' , aber wenn ich in der seelischen Verfassung bin und kann dem da helfen....und irgendwann, wenn ich mal down bin, wird auch jemand da sein, um mir zu helfen. 77

Robin möchte helfen und denjenigen durch Tips und Aufzeigen neuer Perspektiven aus seinem Tief herausholen und wieder aufbauen. Voraussetzung dafür ist die richtige „seelische Verfassung". Was genau das sein soll, können wir nur spekulieren: Wir vermuten, daß Robin überhaupt gedanklich in der Lage sein muß, um sich mit fremden Problemen zu beschäftigen. Darüber hinaus muß er aber noch das emotionale Engagement aufbringen, um sich in die Lage des anderen zu versetzen und dann aus seiner Sicht „Tips" geben zu können. Möglicherweise steht gerade im IRC eine große Bandbreite verschiedener Menschen zur Verfügung, die helfen können, Probleme unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten, es gewissermaßen anders zu konstruieren, was bei der Bewältigung hilfreich sein kann. Dabei fühlt sich Robin in einer therapeutenähnlichen Rolle. Das erklären wir uns zum einen mit der einer psychoanalytischen Therapiesitzung nicht unähnlichen Kommunikationssituation unter Auslassung von Blickkontakt, der ebenso vergleichbaren Unbefangenheit in der Artikulation persönlicher Probleme, möglicherweise aber auch mit der empathischen Zuwendung, die Robin seinem Gesprächspartner zukommen läßt. Robin ist zwar allgemein an persönlichen Gesprächen interessiert. Dennoch vermuten wir, daß gegenüber seinen außermedialen Bekannten - nicht Freunden! - soviel Altruismus, wie ihn Robin innermedialen Bekannten zukommen läßt, nicht unbedingt an der Tagesordnung sein dürfte. Seine Gratifikationen liegen dann auch im Gefühl von Freude bezüglich der geleisteten Hilfe. Umgekehrt rechnet Robin gleichermaßen mit Unterstützung, falls er auf der Seite der Niedergeschlagenen steht. Das auf ausgleichende Gerechtigkeit aufbauende Prinzip des Gebens und Nehmens ist im Internet ansonsten vor allem im Rahmen von FTP- Servern verbreitet. Auf die hier gespeicherten vielfältigen Daten und Programme erhält oft nur Zugriff, wer selber etwas bereitgestellt hat.

Robin selbst profitiert ebenfalls von der Perspektivenvielfalt, die ihm seine Bekanntschaft mit anderen Chattern bringt.

A: (...) Und ich muß sagen, mir würde was fehlen, wenn ich einige Leute im IRC nicht kennengelernt hätte. Weil man da auch viele Probleme mal von ' ner anderen Seite sieht. Weil es ist ja so, daß wenn man sich jetzt seinen RL- Freundeskreis aufbaut, sucht man sich ganz natürlich Leute raus oder es entwickelt sich so, daß die schon so halbwegs die gleichen Einstellungen haben. Und hier können dann schon so ganz kontroverse Meinungen auch auftreten, aber das ist produktiv, wenn man aber sonst in RL gesagt hätte: ' danke, reicht' . 34

Die IRC- Anwender weisen - im Gegensatz zu seinem außermedialen Freundeskreis - eine höhere Bandbreite an unterschiedlichen Einstellungen und Sichtweisen eines Problems auf. Von daher ist auch die Diskussion der Problematik von stärkerer Kontroversität geprägt, die offenbar Früchte trägt. Bezüglich seiner Problembewältigung scheinen sich durch die erweiterte Perspektive wahrscheinlich hilfreiche Handlungs- oder Bewältigungsalternativen zu finden. Das will Robin nicht missen, obwohl er im außermedialen Bereich gerade solche Kontroversen abzulehnen scheint.

Linda

Durch die Annahme von Rollen nutzt Linda das Medium, um Stimmungen auf eine Weise umzusetzen und auszuleben, die in der außermedialen Welt so nicht möglich gewesen wäre.

A: Hm, ja, wenn ich mich geärgert hab' z.B., und ich das aber nicht adäquat so umsetzten kann, wenn ich alleine zuhause bin und mich geärgert hab' über irgendwas...Wenn mein Freund wieder mal doof zu mir war, und ich es aber nicht an dem herauslassen kann, und zwar gleich gar nicht in der Art und Weise, wie die dann eben drauf ist, die ich denn im IRC raushängen lassen kann. (...) 41

Linda bezieht sich auf die Rolle einer „derben Frau", in der sie „richtig auf den Tisch hauen" kann, etwas, das ebensowenig in ihr außermediales Handlungsrepertoire gehört wie der Gebrauch vulgärer Ausdrucksweise. Das scheint ihr zu helfen, ihren Ärger auszuleben, Dampf abzulassen und Aggressionen durch ein Selbst zu äußern, das im Alltag nicht mit ihrem Selbstbild konvergiert. Im physischen Bereich ist niemand erreichbar, anhand dessen sie ihre Stimmung umsetzen und einen kathartischen Effekt erreichen könnte. Ist der Freund doch anwesend, kann sie aber ihre Wut - wohl unter Rücksichtnahme auf die Beziehung und vermutlich auf ihr Alltagsselbst - nicht in der Form umsetzen, wie es im Rahmen der Rolleder Fall ist. Linda verhält sich verhält sich wahrscheinlich gemäßigter und kontrollierter.

Linda berichtet auch von trauriger Stimmung und der Aufmunterung, die sie daraufhin im IRC erfährt.

A: (...) Wenn ich z.B. reingehe und mich ' TraurigÕ nenne, als Nick,...ja, dann sagt das ja schon sehr viel aus...Und wenn jemand darauf dann eingeht, und z.B. extra seinen Namen für mich wechselt, in ' Lustig' , und mich damit aufmuntert, das find' ich superlieb und nett. 58

Linda gebraucht eine andere Kommunikationsebene, die weg geht von informativen Inhalten. Anstelle dessen wird über das Image des Nicknamens kommuniziert, der hier dazu dient, einen Eindruck ihrer Gefühle zu entwerfen. Eine Stimmungsmodifikation kann Linda in erster Linie dadurch erfahren, daß sie sich durch die Reaktion des anderen verstanden fühlt, der ihr Aufmunterndes unter Angleichung an Lindas Kommunikationsform vermittelt. Obgleich zu einer wirklichen Bewältigung ihrer traurigen Stimmung „noch ' n bißchen mehr dazu" gehört, scheint Linda durch die Zuwendung des anderen immerhin in einer positiveren Verfassung zu sein

A: (...)also ich will nicht gefragt werden: ' Mensch, wieso bist du traurig' . Ich will gar nicht über meinen Frust reden, sondern ich will, daß eben jemand versucht, auf andere Art und Weise auf mich einzugehen...Eben dadurch, daß er sich z.B. ' Lustig' nennt...indirekt...und versucht, mich eben aufzuheitern ohne daß er wissen will, was ich hab' . 60

Im Zusammenhang mit ihrer Stimmung verlangt Linda ein ' Eingehen' auf sie, bei dem es ihr jedoch nicht um inhaltliches Verstehen ihres Problems geht. Linda will keine inhaltliche Auseinandersetzung wie Robin oder Sarah, sondern strebt offenbar eine alternative und außermedial auf diese Weise nicht realisierbare Stimmungsbearbeitung an. Diese kann Lindas Stimmung heben und sie aufheitern. Anhand dieser Episode wird offensichtlich, daß die Kommunikation im IRC auch noch andere Formen des Umgangs mit Stimmungen oder Problemen eröffnet, die an einem anderen Punkt greifen als inhaltsbezogene Diskurse. Es scheint dabei vorwiegend um Aufmunterung oder Aufheitern zu gehen.

Theoretisierende Zusammenfassung

In dieser Kategorie haben wir uns mit den positiven Auswirkungen beschäftigt, die sich durch IRC im Zusammenhang mit Problemen, Ereignissen oder Stimmungen des Alltags, aber auch im Kontext intrapersonaler Problematik ergeben.

IRC kann beim Auftreten kritischer Ereignisse oder anderer Probleme im Leben eines Individuums bei der Bewältigung selbiger sehr hilfreich sein. Es hat sich bei unseren Gesprächspartnern gezeigt, daß IRC eine geeignete Umgebung ist, um Probleme, vor allem privater oder intimer Natur, zu äußern. Eine ursächliche Bedingung hierfür ist die durch die Form der textbasierten Kommunikation verstärkte Unbefangenheit. Sie erleichtert es, eine entsprechende Thematik einer oder mehreren anderen Personen zu eröffnen und dadurch womöglich auch tiefen Einblick in Innen- und Privatleben zu gestatten. Bei der Artikulation solcher Themen können sich mehrere Vorteile ergeben. Zum einen kann das Artikulieren an sich bereits hilfreich sein. Oft liefert schon die Äußerung ein Gefühl der Befreiung. Ein der psychischen Gesundheit abträgliches ' In- sich- hineinfressen' wird unterbunden. Wir gehen weiterhin davon aus, daß im Zuge der Artikulation bereits eine Reflexion der Problematik vollzogen wird. Genaues Nachdenken und eingehende Beschäftigung mit einem Problem sind bei dessen Klärung oft hilfreich. IRC ist ein interaktives Medium, was impliziert, daß es normalerweise nicht bei der bloßen Artikulation der Schwierigkeiten oder Ereignisse bleibt, sondern daß die Kommunikationsteilnehmer darauf reagieren. Dahingehend haben wir, sowohl bei Robin als auch bei Sarah, ein beträchtliches Maß an altruistischer Empathie festgestellt. Sarah bezeichnet ihren Stammchannel als von ' wohlmeinender Atmosphäre' geprägt, und Robin setzt sich selbstlos mit den Problemen anderer Menschen auseinander. Wir spekulieren, daß trotz der angeblichen Unpersönlichkeit des Mediums seine Anwender sich untereinander sehr sozial zeigen und gerne Hilfe leisten. Es lassen sich scheinbar im IRC leicht Menschen finden, die sich bereitwillig mit den Problemen anderer auseinandersetzen, darüber nachdenken und der jeweiligen Person entsprechende Rückmeldung geben. Probleme werden demnach gemeinsam in intensivem Diskurs bearbeitet. Hier kommt die Vielfältigkeit der IRC- Anwender zum Tragen, aufgrund derer die Reaktionen und Rückmeldungen ebenso vielfältig sind. Damit eröffnet sich der belasteten Person ein breites Spektrum neuer Perspektiven und Meinungen bezüglich der entsprechenden Problematik. Die Rückmeldungen der anderen Anwender zum Thema können viel direkter sein als es im außermedialen Umfeld der Fall ist - eben von Unbefangenheit geprägt. Dadurch sind Selbsttäuschungen und ' Hindrehen' des Ereignisses, wie es im Sinne des eigenen Selbstkonzeptes passend wäre, unterbunden und die Möglichkeit zur Einsicht gegeben.

Neben einer Auseinandersetzung inhaltlicher Natur besteht bei IRC bzw. seinen Anwendern auch ein ablenkendes Potential. Die Ablenkung liegt zum einen im Chatten an sich. Anstatt eher passivem Medienhandeln wie z.B. Fernsehen bietet IRC eine interaktive Beschäftigungsmöglichkeit mit der Beteiligung anderer Menschen. Trotz physischem Alleinsein erleben sich die Anwender aufgrund der Kommunikationssituation nicht als allein, sondern in Gesellschaft. Das kann gerade bei Problemen mit sozialem oder zwischenmenschlichem Gehalt von Relevanz sein. Aber auch die anderen Nutzer können durchaus ablenken oder aufmuntern und somit die Stimmung ins Positivere wandeln.

Im IRC besteht die Möglichkeit, in eine Rolle zu schlüpfen und in ihr Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die mit dem Handeln im außermedialen Bereich nicht unbedingt konvergent sein müssen. Im Rahmen einer solchen Rolle können Stimmungen, die im Alltag entstanden sind, umgesetzt und auf eine andere Art und Weise ausgelebt werden. Die Rolle kann aufgrund der vielen Gestaltungsmöglichkeiten, die ein IRC- User hat, adäquater sein und eine passendere Möglichkeit der Stimmungsumsetzung liefern als außerhalb des Mediums.

IRC stellt eine virtuelle Realität zur Verfügung, die gewissermaßen als eine Alternativwelt konstruiert werden kann. In ihr können Selbstkonzepte, die im außermedialen Bereich aktuell sind, innermedial kompensiert werden. So wurde am Beispiel der Schüchternheit ersichtlich, daß eine Person, die in der physischen Welt sehr schüchtern ist, mit IRC eine Realität gefunden hat, in der dies nicht der Fall ist. Die Schüchternheit wird durch verstärkte Extraversion im innermedialen Raum kompensiert, diese Selbstkonzepte können sich hier zeigen. Daß das ausgerechnet in der virtuellen Umgebung des IRC geschieht, erklären wir uns durch die Virtualität, die ganz andere Kommunikations-, Selbstdarstellungs- und Wahrnehmungsbedingungen liefert.

Es ist vermutlich gerade wegen dieser Bedingungen im IRC möglich, soziale Fertigkeiten auszubilden bzw. soziale Kompetenz zu erlangen. Es scheint innermedial für manche Menschen einfacher zu sein, die Erfahrung sozialer Akzeptanz und Integration zu machen, was beides für das Selbstwertgefühl sehr wichtig ist. Ein existierendes Selbstwertgefühl ist oft eine tragende Voraussetzung für eine positive Selbstentwicklung. Mit IRC hat sich ein Bereich eröffnet, in dem manche Personen besser zurecht kommen als in der Außenwelt. Von daher können sie die wichtigen Werte wie Selbstvertrauen und -wert innerhalb des Mediums erreichen, wobei diese Erfahrung nicht auf den virtuellen Bereich fixiert, sondern bei der Person insgesamt wirksam ist. Dadurch kann die soziale Kompetenz desjenigen sowohl inner- als auch außermedial wachsen.

Allerdings muß man bedenken, daß gerade die Tatsache, daß innermedial manches einfacher zu bewerkstelligen ist als im außermedialen Bereich, die von medienkritischer Seite häufig thematisierte Gefahr eskapistischen Medienhandelns in sich birgt.

4.7. Veränderte Zeitwahrnehmung und Erleben einer

außeralltäglichen mentalen Verfassung

Linda

Linda berichtet davon, die im IRC verbrachte Zeit nicht mehr richtig einordnen zu können. Die Stunden ' fallen ihr gar nicht auf' :

A: (...) ich wundere mich danach immer, wie lange ich tatsächlich drin gewesen bin, fällt mir während dessen gar nicht auf (...). 149

Linda erlebt IRC als „Zeitzieher". IRC ist für Linda also etwas, das ihr die Zeit - unserem Verständnis des Wortes nach - wegzuziehen scheint. Trotz des leicht negativen Beiklanges, Zeit entzogen zu bekommen, mißfällt ihr diese Tatsache nicht, sondern wird, wie alle Ereignisse in diesem Kontext eher positiv bewertet, wie sich noch zeigen wird. Mit der Bezeichnung „Zeitzieher" scheint sie nur ihr Gefühl ausdrücken zu wollen, daß ihr die Zeit viel kürzer vorkommt, als sie objektiv vergangen ist. Aus dem angeführten Ausschnitt wird deutlich, daß Linda erst im Nachhinein, jedoch nicht während des Geschehens im IRC, die lange Dauer der innermedial verbrachten Zeit bemerkt. Sie scheint währenddessen gleichsam von ihrem medialen Handeln gefangen zu sein, wie sich anhand anderer Aussagen noch bestätigen wird.

Um das Phänomen der veränderten Zeitwahrnehmung zu erklären, vergleicht Linda ihre Aktivitäten im IRC mit dem Lesen eines Buches. Den wesentlichen Unterschied der beiden Medien macht Linda am Grad der Eingebundenheit fest. Beim Lesen des Buches taucht sie zwar auch in selbiges ab, das Zeitempfinden scheint jedoch nicht verändert zu sein. Sie nimmt an, daß sich die beiden Erlebnisdimensionen darin unterscheiden, daß sie beim Lesen mehr Konzentration aufbringen muß, um zu verstehen „was da jetzt geschrieben steht", wohingegen sie im IRC ' selbst handelt' und sich „in dem was [sie] da mach[t] verlier[t]". Geschriebenes passiv mitzuverfolgen ist somit anstrengender für sie als selbst zu handeln und an der Textproduktion beteiligt zu sein.

Linda beschreibt, was während der veränderten Zeitwahrnehmung mit ihr geschieht:

A: (...) Ja, ich werd' irgendwie verschlungen, weil man andauernd was macht, man ist fortwährend aktiv. 149

Interessant ist hier, daß trotz der Eigenaktivität das passive Moment betont wird, also das Hineingezogen werden. Dabei scheint ihr eigenes Handeln Auslöser des ' Verschlungenwerdens' zu sein. Die veränderte Zeitwahrnehmung ist demnach unter anderem als Nebenprodukt der intensiven Aktivität zu verstehen.

In den nun folgenden Aussagen erläutert Linda, wie sich ihr Handeln während solcher Momente des Zeitverlustes und völligen Abtauchens gestaltet. Es mündet in eindringlicher Beschäftigung:

A: Ich bin da unglaublich beschäftigt, ich mache andauernd irgendwas, gehe mal hier hin, mal dahin und erscheine dort und verschwinde da wieder (...). 150

A: (...) Ich schätze, daß das, was ich da dauernd mache, ja, habe ich ja schon gesagt, mich...ja, ich tauche eben irgendwie ab, in dem was ich da drinne mache. Wenn ich mich mit vier Leuten gleichzeitig unterhalte oder in vier verschiedenen Channels befinde oder beides, das geht ja so in Real Life nicht. Sonst ist man an einem Platz oder kann sich nur mit einer Person unterhalten oder sich immer nur auf eine Person konzentrieren...und nicht gleichzeitig drei oder wie viele...ganz unterschiedliche Charaktere sein. (...) 151

Der virtuelle Raum ermöglicht Linda, sich ständig in neuen oder anderen virtuellen Räumen zu materialisieren und wieder zu entmaterialisieren, sich simultan mit verschiedenen Kommunikationspartnern zu unterhalten, sich zum selben Zeitpunkt in verschiedenen Channels zu befinden, sogar gleichzeitig verschiedene Charaktere anzunehmen. Selbst und Umgebung sind offenbar nicht mehr Zentrum, sondern werden im Sinne einer Auflösung der Körper- Ort Verbundenheit multipel. Linda kann im IRC vom Körper als Sitz eines einzigen Ichs Abstand nehmen und gleichzeitig viele IRC- Identitäten annehmen. Auch natürlich- physikalische Gesetze spielen hier keine Rolle mehr, und so wird sie von einer virtuellen Realität absorbiert, die sie selbst definiert hat. Möglicherweise spielt hier die Sehnsucht, der alltäglichen Enge entfliehen zu wollen, eine Rolle. Auffällig erscheint uns Lindas Eingebundensein in verschiedene Interaktionen. Aufgrund der Simultaneität der verschiedenen Interaktionsstränge nehmen wir eine hohe Dynamik ihres Handelns an. An einer anderen Stelle des Interviews spricht Linda ebenfalls den Wunsch nach hoher Dynamik und Energie für eine anregende und ihr zusagende Chatsituation aus. Möglicherweise ist es auch gerade der schnelle Wechsel zwischen Partnern, Channels oder Charakteren, der für sie wichtig ist. All das erinnert uns an eine Art ' Input- Output- Flut' oder ' mentale Überflutung' , die von ihr offensichtlich herbeigeführt wird.

Linda kann nicht genau beschreiben, wie es zu diesem Phänomen kommt. Allerdings sind auch ihre Gesprächspartner ursächlich beteiligt:

A: (...) ich kann ganz andere Erfahrungen machen, weil die Situation halt anders ist als in Real Life und das nutz' ich halt...Genau kann ich das jetzt nicht sagen, wie das genau zustande kommt. Aber es gelingt nur mit den anderen. 158

Die „anderen Erfahrungen" ergeben sich im IRC vermutlich auch aus dem dynamischen Moment, das aus der eigenen virtuellen Beweglichkeit und der Interaktion entsteht. Wir vermuten, daß die simultan ausgespielten unterschiedlichen Charaktere mitunter davon abhängen, was in der jeweiligen Interaktion geschieht. Lindas Vorstellung vom Interaktionspartner, die aus dessen Reaktionen und Rückmeldungen konstruiert wird, beeinflußt vermutlich, welchen Charakter sie dem jeweiligen Partner gegenüber annimmt, worin sich dann unterschiedliche Selbstaspekte offenbaren können. Linda spricht nämlich im Kontext ihrer Erlebensweise an, sich ' zu entdecken' (siehe auch weiter unten). Ihr Selbst erscheint nicht fest geformt, sondern von der jeweiligen Situation abhängig und von Interaktionspartner zu Interaktionspartner verschieden. Womöglich ist es das, was Linda mit „anderen Erfahrunge[n]" meint. In FTF- Situationen wird Linda wahrscheinlich ihr Handeln mehreren Menschen gegenüber auf die Gesamtsituation abstimmen und mehr oder weniger konsistent auftreten, da im physikalischen Raum keine simultane Anwesenheit an unterschiedlichen Orten möglich ist. Im IRC hingegen kann Linda separat mit verschiedenen Menschen interagieren und sich demnach dem Einzelnen gegenüber in jeweils besonderer Weise zeigen. Linda muß also in diesem Fall nicht einer einzigen Situation gerecht werden, sondern kann sich zum gleichen Zeitpunkt in unterschiedlichen Kontexten aufhalten und dementsprechend unterschiedlich handeln. Die verschiedenen Charaktere lassen sich wohl unter anderem aus der interpersonalen Relation ableiten. Im Rahmen der ' Input- Output- Flut' könnte Linda die Kommunikationsinhalte ihrer Chatpartner als Grundlage für assoziative Einfälle ihrerseits nutzen.

Im Rahmen der verschiedenen einzelnen Interaktionen mit den anderen, in denen sie selbst multipel agiert, kann Linda Grenzen überschreiten, die ihr im außermedialen Leben Form geben:

A: (...) das ist wie eine Überschreitung von dem, was ich sonst bin, also in Real Life. 150

A: (...) das trägt dazu bei, daß ich, äh...mh...das Gefühl habe, daß...ich Grenzen überschreiten kann, die mich sonst...ja... irgendwie formen. 151

Wir nehmen an, daß Linda mit „Grenzen" wohl ihre eigene Körperlichkeit und alles damit verbundene meint. Die Überschreitung der Grenzen wird also durch die entkörperlichte Präsenz im IRC begünstigt, bei der, wie schon erwähnt, physikalische Begrenzungen wegfallen und virtuelles Handeln möglich wird. Im IRC scheint Linda nicht mehr die zu sein, die sie „in Real Life" ist. Unter solchen Umständen wird offenbar bei Linda eine ' Input- Output- Flut' begünstigt. Ihre außermediale Körperlichkeit begrenzt Linda jedoch nicht nur durch ihre physische Körperbindung. Durch all die Rollen, die sie in Verbindung mit ihrem Körper im Alltag innehat, sowie den damit zusammenhängenden Interaktionsgewohnheiten und Normen ist ihr ebenfalls eine Form vorgegeben. Auch die folgenden Aussagen verweisen darauf, daß Linda in dem entgrenzten Zustand kontrollierende Selbstaspekte, wie sie im außermedialen Bereich zum Tragen kommen, zugunsten anderer Selbstinhalte außen vor lassen kann.

Im Unterschied zu „normalen Situationen", womit sie vermutlich außermediale Interaktion anspricht, macht sich Linda im IRC keine Gedanken über die Selbstdarstellung:

F: Ja. Äh ... Worüber erstaunt ? Oder was strömt da raus ?

A: (kichert) Ja, gute Frage, hm,...ja, was... hm, ich schätze...Ja, dadurch, daß ich nicht, wie ich es halt normalerweise mache oder oft überlege, was ich sage oder wie ich jetzt bin, es da einfach aus mir herausströmen lasse. Und da kommen halt Dinge, die ich so noch nicht kenne bei mir. 153

Linda scheint ihr IRC- Handeln in solchen Momenten weniger zu reflektieren als Handlungen und Äußerungen im Real Life. Fragen, wie z.B. ' was soll ich sagen, wie soll ich sein?' , kommen ihr hier nicht in den Sinn. Sie nimmt also keine Außenperspektive zu ihrem Selbst ein. Sieht man das Selbst im Goffmanschen Sinne in Abhängigkeit von dem, wie man erscheinen will und wie man vom Interaktionspartner beurteilt wird, zeigt sich, daß Lindas Aktivitäten solche Verhandlungen in diesem Fall nicht voraussetzen. Meads ' Me' als kontrollierendes Selbst kann hier als begleitende Instanz vernachlässigt werden, da es vermutlich weniger zu korrigieren oder in Einklang zu bringen hat. Es muß weder sich selbst noch einem anderen - wie in der physischen Welt - gerecht werden. Nur die als unterhaltsam empfundenen Interaktion muß wohl aufrechterhalten werden. Auf diese Weise können sich andere Dimensionen ihres Selbst äußern, die offenbar weniger zu kontrollierenden Selbstaspekten zu zählen.

Im Zusammenhang mit der Grenzüberschreitung spricht Linda davon, sich „keine konkreten Gedanken mehr" darüber zu machen, was sie ihren Interaktionspartnern vermitteln möchte:

F: Können Sie mir, äh, dieses Gefühl vielleicht noch etwas näher beschreiben?

A: Nicht ganz einfach...Ja, hm...das ist...hm, ähnlich wie...das ist...Also, ich bin da unglaublich beschäftigt, muß aber nicht groß nachdenken, ja, mach' einfach, also...laß' es aus mir, äh, so rausströmen...Hm... ich wundere mich auch, was alles passieren kann...Ähh, also...da sage ich, nein, also schreibe ich auf einmal Sachen, die überhaupt nicht geplant waren, die Sachen passieren einfach und dann: ' Hab' ich das tatsächlich geschrieben ?' (kichert). Darüber bin ich halt erstaunt...und das ist für mich ein Teil der Kreativität. 152

Linda geht es hier scheinbar nicht mehr um eine bestimmte Art der Selbstrepräsentation. Statt dessen kann sie sich freien Lauf lassen, „Grenzen" scheinen wegzufallen. Das Strömen ergibt sich hier anscheinend aus der Beschäftigungsform, die kein Nachdenken in dem Sinne erfordert. „Die Sachen passieren einfach", verselbständigen sich also. Was sich dann aus diesem Herausströmen als Kommunikationsinhalt in Textform auf dem Bildschirm manifestiert, erlebt sie wohl als etwas hinsichtlich ihrer Person völlig neuartiges. Denn Linda kann gar nicht glauben, daß sie „das tatsächlich geschrieben" hat. Dieses Neuartige ist gleichsam ein „Teil der Kreativität", was für ein äußerst positives Erlebnis spricht. Ein Teil der Kreativität scheint sich hier aus dem Unbewußten herauszukristallisieren. Dabei ist anscheinend gerade das ' Herausströmen' von Wichtigkeit und läßt auf Wort-, Ausdrucks-, Gedanken- und Vorstellungsflüssigkeit schließen, also ' fluency' - Kriterien, die ' Strukturtheoretiker' der Intelligenz und Kreativität (Guilford, 1967) formuliert haben. Möglicherweise ist es gerade die textbasierte Kommunikationsform, die ihr solch ein Erleben ermöglicht. Auch in Bereichen des außermedialen Lebens sind kreative Gedankenströme denkbar. Im IRC allerdings entfalten sie sich - neben den angesprochenen andersartigen Rahmenbedingungen wie z.B. der Virtualität - innerhalb der Interaktion und materialisieren sich am Monitor. Sie sind also sichtbar und weniger vergänglich.

Was sich dabei herauskristallisiert, erlebt Linda nicht nur als Teil ihrer Kreativität, sondern auch als Selbstentdeckung, wie sich gleich zeigen wird. Das würde dafür sprechen, daß Linda sich ihrer eigenen inneren Vorgängen intensiver bewußt wird:

A:...Es kommt dann irgendwie irgendwas, und zwar was mir nicht klar war, daß das halt von mir kommt....Ja... ich entdecke mich halt auch...Ich entdecke Dinge von mir, die ich, äh, eben nicht wußte...Das ist sehr interessant. 156

Das sich Zeigende „passiert einfach", vermutlich weil Linda es herausströmen lassen kann. Dabei kommen „Dinge von [ih]r" zum Vorschein, die sie nicht erwartet hätte, von denen sie noch nicht mal gedacht hätte, daß sie von ihr stammen könnten. Hier scheint Unbewußtes an die Oberfläche zu schwemmen, um sichtbar zu werden. Das erlebt sie als Selbstentdeckung. Um was für „Dinge" es sich genau handelt, wurde von Linda jedoch nicht weiter thematisiert.

Aufgrund all der Äußerungen zu ihrer Verfassung gehen wir davon aus, daß Linda hier eine außeralltägliche mentale Verfassung erlebt. In diesem Zusammenhang ist auch das veränderte Zeitempfinden für uns nachvollziehbar. Rückblickend erlebt Linda die Zeit als lang, wie wir es aus ihrer Aussage in Abschnitt (149) entnehmen, was sich vermutlich daraus erklärt, daß sie beim Handeln und Erleben die Aufmerksamkeit auf das Geschehen und nicht auf dessen Dauer richtet. Wäre das Geschehen langweilig und nicht von der erwähnten ' Input- Output- Flut' gekennzeichnet, würde wahrscheinlich der Ablauf von größerer Bedeutung sein. Im weiteren möchten wir Lindas Verfassung und mögliche Einflußgrößen betrachten.

Die mentale Verfassung, die Linda im IRC erreicht, scheint ihr gut zu gefallen. Denn abgesehen von ihrer Äußerung in Abschnitt (156): „Ich entdecke Dinge von mir, die ich, äh, eben nicht wußte...Das ist sehr interessant", beschreibt sie ihre Erfahrung in einem recht aufgekratzten Ton. Außerdem sind kreative Ideen und Selbstentdeckung ganz allgemein aufregende Erlebnisse, weil sie bei der Mehrheit der Menschen wohl nicht alle Tage eintreten und deswegen Besonderheitswert haben. IRC ist für Linda scheinbar eine Art Ticket ins eigene Universum. Deswegen gehen wir davon aus, daß es sich bei diesem Erleben um einen Bedeutungsschwerpunkt handelt, der sich vermutlich auf die Nutzungshäufigkeit auswirkt. Auf jeden Fall scheint sich das Erleben von selbst einzustellen, sofern die Bedingungen stimmen. Inwieweit sich solche Erfahrungen auf ihr Selbstbild auswirken, kann sie ebenfalls nicht sagen:

A: Na ja, Selbstbild...weiß ich nicht...ob die Erfahrungen, die ich da drinne mach' und überhaupt, ob die sich konkret niederschlagen. Also bislang hat mir noch keiner gesagt, daß ich mich verändert hätte, seit ich das mache. (...) 159

Interessant ist, daß sie eine mögliche Veränderung ihres Selbst nur über das Auge ihres Betrachters einschätzen kann. Sie selbst scheint demnach - trotz Selbstentdeckung - im außermedialen Bereich durch ihre Erfahrung keine Veränderungen an sich wahrzunehmen. Die Selbstentdeckung könnte ohne weitere Konsequenzen ganz allgemein zu einem besseren Verständnis ihrer selbst beitragen, oder sie bezieht sich gerade auf Selbstanteile, die - nach dem Õ working self- concept' - nur im innermedialen Bereich aktualisiert werden.

Robin

Auch in diesem Interview zeigt sich, daß die Zeit in Vergessenheit gerät.

F: Nächtelang chatten ?

A: Ah, ja das ist auch so' n Thema, daß man im IRC ganz schnell die Zeit vergessen kann. (...) Da ist es mir halt so gegangen, daß ich ' ne unheimlich nette Person kennengelernt hab' da im IRC, und dann haben wir halt gechattet und hier und da und nächtelang, obwohl wir eben beide am nächsten Tag arbeiten mußten, ja, haben wir bis um vier gechattet, und da war halt die Nacht dann bloß 2 1/2 Stunden lang, ja, aber es macht dann halt so ' nen Spaß, und man ist da so völlig drin, da denkt man gar nicht mehr ans Aufhören. 4

Interessant ist, daß Robin das Vergessen der Zeit während eines Gesprächs im IRC relativ zu Beginn des Interviews selbst thematisiert. Wir vermuten deswegen, daß dieses Thema für ihn eine gewisse Relevanz hat. Daß die Zeit in Vergessenheit gerät, scheint im Zusammenhang mit dem Spaßerleben und dem „[S]o völlig drin"- Sein zu stehen. Darunter verstehen wir, daß er sich ganz in die Interaktion vertieft und von ihr umgeben ist. „So völlig drin" impliziert in gewisser Weise auch die Abgrenzung von der physischen Welt, ähnlich wie bei Linda. Robin scheint bei dieser Gelegenheit ganz in die virtuelle Welt des IRC einzusteigen. Vermutlich wird das ' völlige Drin- Sein' dadurch begünstigt, daß er durch keine außermedialen Einflüsse abgelenkt wird und sich ganz auf die textbasierte Interaktion konzentrieren kann.

Robin berichtet weiterhin davon, daß bei einer „besonders persönliche[n] und intime[n] Atmosphäre" die „Zeit verschwindet". Hier spielt wohl auch der persönliche Gehalt der Gesprächsinhalte eine Rolle. Auch FTF- Gespräche können natürlich intensiv und persönlich sein. Wir nehmen jedoch an, daß beide Eigenschaften im IRC eher begünstigt werden: Der persönliche Gehalt könnte aufgrund der Unbefangenheit im IRC schneller auftreten als außermedial, und die Intensität dadurch verstärkt werden, daß die Interagierenden ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und den dort stattfindenden Chat richten und sich nicht durch andere Wahrnehmungskomponenten ' ablenken' lassen.

Robin sieht den Grund für den Verlust seines Zeitempfindens darin begründet, daß er gar nicht auf die Zeit achtet, weil er eben in ein ' persönliches Gespräch' vertieft ist, das auch nicht „langweilig wird":

F: Was meinst du denn, wieso bei solch einer Atmosphäre die Zeit irgendwie...?

A: Hm, na ja, ich sag mal in so einer Atmosphäre vergißt man die Zeit, also, wenn ich da mit der Martina chatte, ist es...so, wir haben uns auch immer so viel zu sagen, daß es nie langweilig wird, also ist klar bei so einem persönlichen Gespräch. 88

F : Weil du so intensiv in der Atmosphäre drin bist oder wieso ?

A: Ja, man ist in dieses Gespräch vertieft und hört nicht abrupt auf, weil jetzt eine Stunde rum ist. 89

Auch Atmosphärisches scheint dabei eine Rolle zu spielen. Aus dem persönlich- intimen Gespräch scheint sich eine Stimmung auszugestalten, die Zeitbezüge verschwinden läßt, denn Robin ist „vertieft", also gänzlich in das Geschehen eingebunden. Robin kann die Zeit wahrscheinlich ganz bewußt zugunsten von Spaß und Interesse vernachlässigen. Genau so wie bei Linda bleibt keine Zeit für Langeweile.

Theoretisierende Zusammenfassung

Das hier thematisierte Erleben einer außeralltäglichen mentalen Verfassung weist zwei dominierende Aspekte auf: Eine veränderte Zeitwahrnehmung, die bei zwei Interviewpartnern gegeben war, und ein - nur bei Linda zu findendes - mit Kreativität und Selbstentdeckung gepaartes Gefühl der Grenzüberschreitung.

Die veränderte Zeitwahrnehmung steht im Zusammenhang mit der intensiven Interaktion, die sich anscheinend besonders gut auf medialer Ebene verwirklichen läßt, da andere Perzeptionsfaktoren - z.B. Visualität - die in Real Life unweigerlich zur Geltung kommen würden, hier keinen Eingang finden. Das Wahrnehmungsfeld ist auf den Monitor und somit auf die Programmoberfläche des IRC begrenzt. Der zeitliche Bezug scheint vor allem dann keine besondere Relevanz zu haben, wenn unsere Interviewpartner in einer Form der IRC- Interaktion eingebunden sind, die sie präferieren. Ist Robin in einem persönlich- intimen Gespräch vertieft, das nicht langweilig wird und Spaß bereitet, achtet er zugunsten des Erlebens nicht auf eine zeitliche Eingrenzung. Auch Lindas Immersion in die virtuelle Welt wird im IRC durch eigenes Handeln und Kommunizieren bei scheinbar gleichzeitiger weitgehender Ausblendung der außermedialen Welt und ihrer Einflußgrößen mitbedingt. Naheliegend ist daher, daß die Aufmerksamkeit auf die Ereignisse innerhalb des Mediums und das eigene mediale Handeln gerichtet wird und nicht auf die Dauer des Geschehens, so wie es vermutlich bei langweiligeren Chatsituationen der Fall sein dürfte. Zu einer zeitlichen Bewertung hinsichtlich der Dauer der innermedialen Aktivitäten kommt es erst im Nachhinein, wenn die Beschäftigung im Medium beendet ist. Zu berücksichtigen ist hierbei, daß Lindas mit der Virtualität zusammenhängende Erfahrungen nur im Medium gemacht werden können, was für ihren Besonderheitswert und somit auch für Kurzweiligkeit sprechen würde.

Das Erleben einer außeralltäglichen mentalen Verfassung kann sich in einem Gefühl der Grenzüberschreitung zeigen, zu dem es unserer Ansicht nach im Zusammenhang mit einer selbst evozierten ' Input- Output- Flut' 8 kommt. Diese ' Flut' entsteht anhand der virtuellen Beweglichkeit, die es ermöglicht, sich parallel als unterschiedliche Charaktere in verschiedenen Kontexten aufzuhalten. Naturgesetzliche Grenzen werden also überwunden. Ebenso können außermedial wirksame Rollenvorgaben, Selbstdarstellungsabsichten, Interaktionsgewohnheiten und Normen vernachlässigt werden, was das Selbst als kontrollierende Instanz in den Hintergrund treten läßt und im Erleben anderer Selbstinhalte resultiert. Unter diesen Bedingungen können kreative Ideen und bisweilen unentdeckte Selbstinhalte zutage treten, da ein ' unzensiertes' und nicht langwierig durchdachtes Herausströmen der Gedanken und Ideen möglich wird. Die gleichzeitige Interaktion mit vielen Kommunikanten in unterschiedlichen Rollen ist von Dynamik und Schnelligkeit gekennzeichnet, da jedem Gesprächspartner Genüge getan werden muß. Es bleibt daher vermutlich weniger Zeit, sich Antworten genau zu überlegen. Die Konsequenz ist wiederum der Gedanken- bzw. Handlungsstrom, der sich womöglich assoziativ gestaltet, da er von keiner bestimmten Absicht gelenkt wird. Bei solch einer Betrachtung könnten die Kommunikationsinhalte der Chatpartner als Grundlage für assoziative Einfälle dienen. Auf diese Weise könnten auch die kreativen Ideen entstehen.

Am Ende kann man wohl festhalten, daß das Medienhandeln - unserem Ermessen nach -zum Erleben einer außeralltäglichen mentalen Verfassung führen kann.

4.8. Überführung innermedialer Beziehungen in die

außermediale Welt

Sarah

Wie bereits erwähnt, haben sich Sarahs Lebensumstände durch die Trennung von ihrem Mann eklatant geändert.

A: (...)also ich habe nicht so unendlich Freunde, die Single sind, (...) also in meinem Alter ist das mittlerweile so, daß um einen rum sehr viele Kleinfamilien sind, und da macht' s einfach weniger Spaß, da als getrennte Frau, Ex- Ehefrau, da dann immer hinzugehen. Die haben dann auch ganz einfach andere Sachen zu tun, also die gehen am Wochenende, was weiß ich, auf den Rummel oder in den Zoo oder Grillen (...) und äh, IRC ist nun mal eine sehr abwechslungsreiche Weise, sich abends, wenn Sohnemann im Bett ist, zu beschäftigen...Und da eben auch sich einen Bekanntenkreis aufzubauen, der neu ist, und anders (...). 9

Die neue Familiensituation hat auch Konsequenzen für ihre Freizeit, die sie nun nicht mehr mit familiären Aktivitäten gestaltet, wohingegen das bei vielen ihrer verheirateten Bekannten der Fall ist. In dem Zusammenhang erwähnt sie den IRC, der ihr ermöglicht, sich einen neuen und anderen Bekanntenkreis aufzubauen. Sarah differenziert nicht, ob es sich bei den Bekannten um IRC Bekannte oder darüber hinaus auch um physische Bekanntschaften handelt. Auch bei der von ihr eingangs erwähnten Möglichkeit, durch IRC „Leute kennen [zu] lernen" fehlt eine Spezifikation.

Im folgenden wird jedoch - trotz etwas vager und schleierhafter Ausdrucksweise - deutlich, daß sie es in Betracht zieht, IRC- User auch in Real Life zu treffen. Bei ihrem Anliegen vermuten wir einen engen Zusammenhang mit ihrer veränderten Lebenssituation. Sie soll durch das Hinzukommen neuer und anderer Kontakte - vielleicht „anders" im Sinne von besser passend als ihre in Kleinfamilien eingebundenen Bekannten - verbessert werden.

A: (...)Und dann, äh, habe ich dort auch die Möglichkeit, Leute kennenzulernen. Das bezieht sich einerseits auf internationale Basis, also daß ich...ich bin keineswegs nur in deutschen Channels unterwegs, sondern auch global. (...) ja, und dann ist es natürlich durchaus so, daß ich. ...hm (wird sehr zögerlich) daß ich auch, hmm, ja, auch auf Deutschlandebene,...bzw. Umlandebene auch gucke, was für Leute da sind... nee, nicht nur gucke, sondern ich bin da auch, in deutschen Channels. 12

Sarah spricht im Rahmen des Kennlernens anfangs vom Reiz, den die Internationalität der IRC- Anwender auf sie ausübt. Doch dann kommt Sarah selbst darauf zu sprechen, daß sie sich ebenfalls auf Deutschland-, und - noch näher an ihrem Lebensraum - auch auf Umlandebene bewegt, wo sie „guckt, was da für Leute sind". Das Ausschau- halten nach Leuten impliziert unserem Verständnis nach, daß hinter dem ' Gucken auf Umlandebene' wohl auch ein Interesse steht, diese User gegebenenfalls zu treffen. Es scheint Sarah aber etwas unangenehm zu sein zuzugeben, daß sie sich im IRC nach neuen Real Life- Bekanntschaften umsieht, wie aus ihrer zögerlichen Art deutlich wird. Sie nimmt schließlich auch eine Einschränkung ihrer Aussage vor und spricht nur noch von ihrer Anwesenheit auf deutschen Channels. Die Zurücknahme soll wohl vermeiden, daß man von ihr den Eindruck bekommt, sie würde sich im IRC ständig nach potentiellen Bekanntschaften umgucken.

Auch in einem weiteren Abschnitt zeigt sich Sarah sehr zurückhaltend, als es um FTF- Begegnungen mit anderen Anwendern geht:

A: (...) Die Anonymität, ist natürlich dahingehend nicht aufgehoben, daß man sich noch nie begegnet ist. ...(leise) Also...das bezieht sich aber auch nur...also, äh...das stimmt nicht immer. 17

Sarah ist also bereits schon einmal einem IRC- Nutzer persönlich begegnet, auch wenn sie dies nur sehr verhalten kundtut. Der zurückhaltende, eventuell von Peinlichkeit geprägte Umgang mit dem Treffen oder Treffen- Wollen von IRC- Bekanntschaften legt die Vermutung nahe, daß IRC in dem Fall als eine Art ' bessere Kontaktanzeige' dient - was ja auch den meisten peinlich ist. Insgesamt zieht Sarah jedoch definitiv die Option in Betracht, über IRC auch ihren physischen Bekanntenkreis zu erweitern.

Etwas ausführlicher berichtet Sarah nur über einen in die physische Welt übertragenen IRC- Kontakt, der jedoch eine Ausnahmestellung einnimmt, da es sich um ihre Cybersexäffare handelt. Zu diesem Thema äußert sie sich aber erst bei ' Nachhaken' seitens der Interviewerin.

F: Und hab' ich das vorhin richtig rausgehört, daß Sie auch schon mal wen getroffen haben?

A: Äh, ja. 33

F: War das ein Mann oder eine Frau?

A: Hm, ja, das war ein Mann. 34

F: Und kannten Sie den aus einem Alterschannel?

A: Äh, ne (kichert, leicht verschämt), das habe ich nicht. 35

F: Aha?

A: Da hab' ich eine böse Überraschung erlebt, und der wahrscheinlich auch.( lacht) 36

F: Aha, könnten Sie das mal ein bißchen beschreiben?

A: Ungern (lacht). Doch, klar...Naja, also, das geht (zögerlich) jetzt natürlich in Richtung...Sex. 37

Sarah ist das Thema offensichtlich nicht sehr angenehm zu besprechen. Wir gehen von mehreren Gründen aus, angefangen mit der bereits erwähnten Peinlichkeit, die Sarah zu empfinden scheint, da sie es ' nötig' hat, sich Bekannte aus dem IRC zu akquirieren. Darüber hinaus begründet sich ihre Zurückhaltung wohl darin, daß es hier um Sexualität geht, als auch in dem geringen Erfolg des Treffens.

Sarah schildert eine anregende Cybersexaffäre - siehe Kategorie Cybersex - die zum beidseitigen Entschluß führte, sich auch FTF zu treffen. Die Motivation zu diesem Schritt vermuten wir im sexuelle Tätigkeiten betreffenden Mangel in ihrem außermedialen Leben aufgrund der Scheidung. Sarah hat sicherlich ein Interesse an Männern. Mehrere Aussagen sprechen für unsere Annahme.

A: (...) Ich habe mir dann wirklich eingebildet...jemand getroffen zu haben, mit dem das vielleicht auch so laufen kann. 43

F: Was laufen?

A: Also nichts für' s Leben. 44

F: Sondern?

A: Direkt gesagt: für' s Bett eigentlich...Also ich möchte momentan keine Beziehung! Aber bin eben Single, und ich glaube, daß jedes menschliche Wesen, Frauen wahrscheinlich noch mal etwas weniger als Männer,...haben irgendein sexuelles Grundbedürfnis...Von daher...also ich bin in dem Bereich auch offen. 45

Sarah war von ihrer Affäre recht angetan, im virtuellen Raum war ihr Partner ein guter Liebhaber, was sie hoffen ließ, jemanden gefunden zu haben, bei dem dies auch außermedial zutrifft. Wie ihre Wortwahl „eingebildet" schon andeutet, konnte ihre Hoffnung nicht erfüllt werden, doch dazu kommen wir später. Sarah möchte keine Beziehung, auch wenn sie die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse bewirken könnte. Genau die möchte sie aber trotz ihres Singledaseins gestillt wissen, obgleich sie es nicht direkt sagt.

A: Z.B. äh, wenn, das machen Frauen natürlich weniger, sich zu fragen, wie man aussieht, aber da gibt' s ja auch durchaus Männer, und das ist...für mich jetzt auch nicht völlig uninteressant (...). 25

Sarah deutet hier an, daß sie die Augen nach Männern offen hält, somit also eindeutig Interesse an ihnen hat. Allerdings ist nicht klar, ob sie sich auf innermedialen Cybersex, innermediale Kontakte oder, darauf aufbauend, auch auf persönliche Begegnungen bezieht. Die doppelte Verneinung soll möglicherweise die Aussage, an Männern im IRC interessiert zu sein, etwas abmildern, was somit wieder auf die von uns angenommene Peinlichkeit hindeutet.

Sarah hatte eine Cybererotikaffäre, die über eine gewisse Zeit hinweg im IRC gut lief. So kam es, nach einigen Telefonaten, die sie als „auch ganz gut" einstuft, schließlich zum persönlichen Treffen.

A: In Leipzig, auf halben Weg, mehr oder weniger. Wir wollten eben auch einen neutralen Ort...Wir haben uns erst mal zum Essen getroffen, und weiter ist es auch gar nicht gegangen, weil...(stöhnt, seufzt) da lief nichts! Sobald der vor mir saß...hach...das war so' n schleimiger Typ, und alles, hat mir nicht gefallen. War nix! Auch kein Draht mehr. 40

F: Hmm?

A: Ja, als dann diese Schrift oder später auch Stimme plötzlich Fleisch und Blut war, war diese Erotik oder was da war, war sofort wie vom Winde verweht! Weg! 41

Sarah hat eingangs schon mit ihrer Ausdrucksweise „eine böse Überraschung" angedeutet, daß sie etwas anderes erwartet und sich etwas besseres ausgemalt hatte. Das physische Treffen mit ihrer Cyberaffäre ist mißglückt. Sarah mußte sowohl äußerlich als auch von der kommunikativen Seite her eine Enttäuschung erfahren, die sich sogar jetzt noch in ihrer Ausdrucksweise - Stöhnen und Seufzen - niederschlägt. Durch die Materialisierung der Schrift, später auch Stimme, zu einem Menschen aus Fleisch und Blut mußte Sarah feststellen, daß der IRC- Partner nicht ihr Typ war. Es handelte sich nicht um jemand, der zu ihr passen würde oder der ihr gefiel, schlimmer noch, er war sogar ' schleimig' . Auch die kommunikative Verständigung klappte nicht mehr, da sie keinen „Draht mehr" hatte. Damit meint Sarah vermutlich, daß das, was im Netz möglich war - nämlich gegenseitiges Aufeinander- Eingehen, Bedürfnisse des anderen erkennen, gut aufeinander reagieren - nun nicht mehr gegeben war. Alles in allem war sämtliche Erotik verschwunden. Der Eindruck, den der Mann in der außermedialen Realität bei Sarah hervorrief, hat sich in diesem Fall also als eindeutig dominierend über die auf innermedialer Wahrnehmung basierende Eindrucksbildung erwiesen. Das Verhältnis zu dem Mann wurde durch die physische Begegnung gewissermaßen um 180° vom Positiven ins Negative gewendet. Was vorher klappte, ist nun dahin. Das, was in der physischen Realität transportiert wird, wirkt bei Sarah also stärker als ihre innermedialen Konstruktionen von der Wirklichkeit des Mannes. Das könnte daran liegen, daß bei Konstruktionen, die auf innermedialer Wahrnehmung basieren, weniger physikalische Tatsachen gegeben und mehr Leerstellen vorhanden sind, die durch die Anwender gefüllt werden können. Kommt dann die physische Realität hinzu, muß sich scheinbar die innermedial konstruierte Realität an dieser messen und unter Umständen modifizieren lassen.

Sarah hat auch Begründungen für den ' Flop' parat.

A: (...) Und insgesamt haben wir ein bißchen verschwitzt, bzw. war das auch gar nicht so wichtig, das lief ja auch so, naja, jedenfalls uns genauer darzustellen. Und wir waren glaub' ich beide davon, wie diese Cyberaffäre lief, scheinbar beide so fasziniert oder angetan...Oder hier war' s wahrscheinlich auch wieder so, daß alles in der Vorstellung extrem idealisiert wurde...und ähm, naja, dann haben wir uns also getroffen. 37

A: Ja, das hab' ich glaub' ich bereits gesagt, das haben wir irgendwie verschwitzt. D.h. wir waren dieser Sache so erlegen, bzw. haben auch in unserem ersten Chat, der in diesem Sinne schon sehr erfolgreich war, weil ich dann gleich auch sehr angetan von dieser Person war, da war das gar nicht mehr für mich so von Interesse....Tja es ging da vielmehr direkt um...naja, ...und nicht darum, daß ich wissen wollte, was für' n Beruf macht er oder ob sein Haar schüttern ist...Das war...nicht tragend....Hätte ich ' s vielleicht mal gemacht, hätte aber wahrscheinlich auch nicht viel genutzt, weil wie gesagt, das sieht alles idealisiert aus. Man sieht alle Beschreibungen positiver. 74

Das Schlüsselwort von Sarahs Erklärung dieses Vorfalls ist „verschwitzt". Es umschreibt das Versäumnis, sich eingehender und intensiver mit der Person ihres Interaktanden auseinandergesetzt zu haben. Darüber hinaus hätte sich Sarah auch von dessen Äußerlichkeiten ein Bild, das den physischen Gegebenheiten entspricht, machen können. All das wurde deshalb versäumt, weil sich beide sogleich in die Cyberaffäre hineinstürzten und in der gemeinsamen Dirkursform völlig aufgingen. Beide waren davon fasziniert und vollauf befriedigt, daher wohl an anderem nicht interessiert. So war z.B. das nähere Kennenlernen oder die Beschreibung des Äußeren nicht von Interesse und wurde gleichsam ' im Eifer des Gefechts' vergessen. Sarah deutet an, primär erotische Gesprächsinhalte ausgetauscht zu haben. Dennoch spricht sie davon, sich ein Bild dieses Mannes gemacht zu haben. Allerdings wird die Vorstellung von Sarah im Nachhinein als „extrem idealisiert" bezeichnet. Das heißt für uns, daß Sarah hier ihre eigenen Wünsche oder Wunschvorstellungen eines Mannes in das Bild der Person hat einfließen lassen, wodurch der Mann in der Vorstellung deutlich positiver wahrgenommen oder konstruiert wurde. Daher spricht sie nun, da sie ihm persönlich begegnet ist, von Idealisierung. Die Vorstellung empfand sie vor dem Treffen als real, daher die schlimme Überraschung. Aber selbst wenn sie verbale Beschreibungen des Mannes gehabt hätte, wäre die Idealisierung dennoch vorhanden geblieben, so Sarahs Spekulation. Sie rechnet offenbar damit, daß man automatisch die Verbalbeschreibungen entsprechend der eigenen Wünsche versteht. Bei Sarah trifft das eindeutig zu, sie füllt medial bedingte Leerräume mit ihren eigenen projektiven Wünschen.

Aufgrund ihrer Erfahrungen unterscheidet Sarah mittlerweile zwischen erotischen und ganz allgemeinen Treffen mit IRC- Usern in der außermedialen Realität.

A: (...) Also IRC und Treffen, also Treffen als Mann Frau, und sich da irgendwie näher kommen, bringt nichts, meiner Meinung nach. Da verfälscht der IRC doch ganz schön. Jedenfalls bei solchen Sachen, wo es dann sicherlich auch auf Ausstrahlung ankommt. Ich denke, in anderen Fällen, also, äh, es gibt noch mehr, mit denen ich mich getroffen habe, aber das waren Fälle, da war das durchaus nett. Aber ohne diesen aufeinander bezogenen Touch, daß man meint, da wäre was. Also wenn man sich vor so einem Cybererotikhintergrund trifft, dann hat die ganze Angelegenheit gleich einen ganz anderen Beigeschmack. (...) 42

Basierend auf ihren eigenen Erfahrungen lehnt Sarah persönliche Kontakte zwischen Mann und Frau im Zusammenhang mit Sexualität ab. Der eine Grund liegt in der Textbasiertheit als Eigenschaft des Mediums, die das Wahrnehmungsfeld restringiert, so daß weniger Informationen, die eine Person definieren, transportiert werden können. Die daraus entstehenden Leerstellen bieten sich an, eigene Wünsche in die Konstruktion des Gegenübers hineinzuprojizieren, was bei Sarah zur Idealisierung ihres Chatpartners führt. Das ist es wohl, was sie unter dem Ausdruck Verfälschung versteht. Der zweite Grund ist, daß es gerade im Bereich der erotischen Begegnung von besonderer Relevanz ist, ein durch möglichst viele Kanäle vermitteltes Bild des anderen zur Verfügung zu haben, da es hier auch auf Personenmerkmale - wie beispielsweise die Ausstrahlung - ankommt, die nicht medial transportiert werden können. Darüber hinaus bekommt die Situation durch die sexuelle Intention „einen anderen Beigeschmack", also eine ganz andere Note und wohl auch eine andere Bedeutung aufgrund der möglicherweise bevorstehenden Intimität. Dieser situationale Hintergrund ist recht schwerwiegend, was Unverkrampftheit erschweren könnte. Sarahs andere, viel unverfänglichere Treffen waren demnach offenbar angenehm und von nichts belastet, da keine sexuellen Intentionen bestanden.

A: (...) Wohingegen mit den anderen, das war o.k., da wußte ich auch bereits mehr über deren Charakter oder wer und wie sie sind. Mit denen hatte ich mich auf andere Weise ausgetauscht. ...Mit denen treffe ich mich auch heute noch, oder geh' ins Kino. Das sind Freunde. 42

Hier spricht Sarah wieder den bei ihrer Cyberaffäre bestehenden Informationsdefizit an, den sie für das Scheitern mitverantwortlich macht. Ein umfassender Austausch bezüglich der Person, Persönlichkeit und deren Lebenshintergrund scheint bei Sarah Enttäuschungen vorzubeugen, da so vermutlich ihre Einschätzungsfähigkeit im Bezug auf die jeweilige Person erhöht wird. Der Diskurs mit dem Mann hingegen bestand hauptsächlich in Cybersex. Die Begegnungen mit den anderen Menschen scheinen recht positiv zu sein, da Sarah tatsächlich Freunde gewonnen hat und diese Freundschaften, wie aus dem „heute noch" hervorgeht, schon längere Zeit bestehen.

Robin

Auch Robin ist jemand, der IRC nutzt, um seinen außermedialen Bekanntenkreis zu erweitern.

A: (...) Ich bin weder groß der Disco- noch der Kneipengänger, das ist beides nicht so mein Stil, und...ja...um neue Leute kennenzulernen würde mir jetzt nichts vergleichbares [zu IRC] einfallen. 60

Vermutlich empfindet Robin IRC als ideal, da hier andere einfach und ungefährlich kennengelernt werden können. Darüber hinaus ist er in eine Clique eingebunden, die es ihm erleichtert, Kontakte zu knüpfen (siehe Kategorien Kontakt/Kennenlernen und Gruppen). Durch seinen Vergleich mit Discos und Kneipen deutet Robin an, daß es ihm nicht nur um innermediale Kontakte geht. Er möchte Leute auch auf die gleiche Weise kennenlernen, wie es sonst in diesen Szenarien geschieht, nämlich in direkter Begegnung und FTF- Interaktion. Die Transformation von Freundschaften vom Innermedialen ins Außermediale hat er „in drei Fällen erlebt".

F: Und unterscheiden sich die Freundschaften von da von denen, die auf andere Weise zustande gekommen sind?

A: Würde ich schon sagen. Weil man erst ' ne ganze Weile im IRC chattet, und da dann nächtelang chattet und da von dem anderen unheimlich viel schonmal mitkriegt, was man so eigentlich.. also wenn man ' ne normale Freundschaft aufbaut, dann geht man mit dem vielleicht mal Wein trinken und quatscht ein bißchen oder so oder ins Kino, aber man setzt sich nicht hin und führt eine intensive Kommunikation über mehrere Stunden....Das ist das eigentlich, was diese Freundschaften auszeichnet, das ist so das Besondere, und das ist ja auch der Reiz von dem IRC. 26

Der Unterschied liegt für Robin offenbar in der Vorgeschichte. Die IRC- Freundschaften sind auf andere Weise zustande gekommen. Im IRC konzentriert Robin sein Erleben ganz auf seine Interaktionspartner und das Gespräch mit ihnen. Außermedial spricht er von Begleitaktivitäten wie Kino oder Wein trinken, die Aufmerksamkeit scheint etwas weniger auf die Interaktion zentriert zu sein. Vor einer ersten FTF- Begegnung steht eine geraume Zeit intensiver Auseinandersetzung mit dem anderen. Robin ist uns ja schon bekannt als jemand, der an ernsthafter und persönlicher Gesprächsführung interessiert ist. Das erklärt wohl die Intensität der vorausgehenden Chats und läßt ihn, wie Robin durch den Ausdruck „unheimlich viel mitkriegt" andeutet, schon eine recht umfassende Einschätzung der bzw. Wissen über die Person erlangen. Wir sehen in dem umfassenden Kennenlernen eine Absicherung gegen Enttäuschungen der Art, wie Sarah sie erlebt hat, die genau das versäumte.

A: Ne. Die war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte, also vom Wesen her. Also ich sag' mal, dem Besuch gingen so 30 Stunden Chat voraus. Über mehrere Wochen natürlich, und wir haben auch vorher telefoniert gehabt. (...) 74

Hier kann man sehen, daß Robin bei dem Treffen nicht überrascht wurde, da die lange Vorgeschichte - 30 Stunden Chat- Gespräche,, die „viel Spaß" aber auch „tiefe Gespräche" miteinschlossen - offenbar Fehleinschätzungen vorbeugte. Robin hatte eine scheinbar gut zutreffende Vorstellung vom Wesen der Person, womit er wohl ihre Persönlichkeit oder Charakter meint. Äußerlichkeiten scheinen nicht relevant, wahrscheinlich wurden aber - wie Robin es nach Möglichkeit praktiziert - bereits Bilder ausgetauscht.

Auch wenn sich, wie im vorigen Abschnitt ersichtlich wurde, die Aktivitäten von IRC- generierten und anderen Freundschaften nicht sehr unterscheiden, sind die Freundschaften vor IRC-Hintergrund dennoch von der Besonderheit vorausgegangener intensiver Kommunikation gekennzeichnet. Das daraus resultierende persönliche Verhältnis macht für Robin einen Reiz aus. Durch die FTF- Begegnung erfährt dies noch mal eine Steigerung.

A: Treffen ist halt irgendwie noch ein Schritt weiter. Im IRC Privatchat ist so eine gewisse, ich kann es bloß mit intim, mir fällt im Moment kein anderes Wort ein; so eine relativ intime Atmosphäre, aber wenn man dann denjenigen gegenüber sitzen hat, ist ein anderes Feeling, das ist noch persönlicher, sag' ich mal. Weil man doch noch von demjenigen die Gestik und die Mimik mitkriegt, und alles mitkriegt und den Tonfall. 90

Im vorigen Abschnitt bezog sich Robin auf die Intensität der Kommunikation, die im IRC höher ist als außermedial. Durch die FTF- Begegnung wird das Verhältnis nun auf einer anderen Ebene persönlicher. Das kommunikative Geschehen wird intimer oder persönlicher durch die Beteiligung sämtlicher Sinneskanäle an der Kommunikation, Robin bekommt nun alles vom anderen mit. Mit „intim" meint Robin also zweierlei, nämlich Intimität bezüglich des Inhalts, aber auch Intimität der Situation, die unter Einbezug sämtlicher Sinnesmodalitäten höher ist. Diese Unterscheidung zu verdeutlichen scheint uns wichtig, da ja - wie in der Kategorie Unbefangenheit herausgearbeitet - die Intimität der Kommunikationsinhalte gerade durch die Beschneidung der Kommunikationskanäle aufgrund von CMC ermöglicht wird. Das wird bei Robin zu einer Art Nullsummenspiel: Das persönlichere Verhältnis auf Vermittlungsebene in direkter Begegnung kommt zustande für den ' Preis' der Verminderung von Unbefangenheit, die Robin in direkter Begegnung nicht aufrecht erhalten kann (siehe nächster Abschnitt). Diese wiederum lieferte aber die Rahmenbedingungen für starke inhaltliche Intimität.

A: (...) wenn man solche Gespräche hat, ja, und dann denjenigen das erste mal sieht, das ist eine ganz heikle Kiste, sag ich mal. Weil man hat diesen Background aus dem IRC und weiß, über was man da alles mal geschrieben hat und dann sieht man denjenigen zum ersten Mal und dann kann' s schon sein...und dann kommt so: bei mir gab' s heute abend auch Tomatensuppe zum Abendbrot, du hast so einen knallroten Kopf...ja, weil viele Sachen einem ganz einfach auch unangenehm sind, wo man wahrscheinlich einfach zu verklemmt ist, wenn einem jemand persönlich gegenüber sitzt...Aber da habe ich die Erfahrung gemacht, das geht beiden so. Und entweder man lacht darüber oder es kommt überhaupt nicht zum Gespräch oder man sagt: Ha, über was wir schon alles gesprochen haben; dann ist das Ding abgehakt und dann ist gut. 92

Aus dieser - schon aus der Kategorie Unbefangenheit bekannten Textstelle - wird ersichtlich, daß die Transformation der Bekanntschaften in die physische Welt gerade aufgrund der vorausgehenden Intimität oder Privatheit der Gespräche nicht ganz unproblematisch ist. Es kommt durch den Hintergrund der bereits geführten Dialoge zu einem Gefühl der Peinlichkeit, vermutlich, da man sich bei einer direkten Begegnung hinter nichts mehr verstecken kann, sondern nun direkt zu allem bislang Geäußerten stehen muß. Auch der Gesprächspartner verspürt Peinlichkeit, jedoch „solange das auf Gegenseitigkeit beruht, ist das schon o.k.". Robin ist mit seinem Gefühl der Peinlichkeit nicht allein, beide sind auf dem gleichen Niveau, daß ihnen etwas peinlich ist. Keiner ist also dem Gegenüber dadurch unterlegen, daß nur er sich ' schämen' müßte. Das gibt wohl die Möglichkeit, die Peinlichkeit gemeinsam aus der Welt zu schaffen, was entweder durch Lachen geschieht, also Humorisierung und dadurch vermutlich Entschärfung der Situation, oder durch Ansprechen all der vergangenen Gespräche, wodurch die Brisanz genommen werden könnte.

Tom

Bei Tom zeigt sich insgesamt eine sehr starke Vernetzung von innermedialen und außermedialen IRC- Kontakten. IRC wurde für Tom schon relativ zu Anfang seiner IRC- Laufbahn ein Feld sozialer Betätigung, die sich nicht nur auf das Medium selbst beschränkte.

A: (...)bin dann so in diese Clique reingerutscht und nach einiger Zeit hatte ich so mein erstes Treffen mit den anderen Ircern, das war die Relay Party in Berlin 92 im Sommer(...). 3

A: Und da habe ich dann das erste mal die Leute gesehen, da vom IRC und stand da natürlich noch relativ abseits, es war damals schon eine riesengroße Party mit über hundert angemeldeten Leuten(...). 5

A: Mh. Ja, so habe ich dann das erste mal die Leute gesehen und so kam auch das Interesse, dann die Leute auch mehr in Real Life kennenzulernen. Es hält sich heute auch ungefähr die Waage, so Leute, die ich entweder im IRC kennenlerne oder eher auf Feten, die damit zusammenhängen, mit denen ich dann hinterher im IRC in Kontakt bleibe. (...) 7

Bereits in der Anfangsphase seiner IRC-Nutzung besuchte Tom eine erste Relay- Party. Mit seinem Partybesuch hat Tom wohl ein stärkere Verflechtung mit der Gruppe bewirkt, da man sich so auch gleich persönlich traf, kennenlernte, und die IRC- eigene Anonymität abbaute. Tom trifft sich anfangs nicht mit Einzelpersonen, sondern gleich mit einer IRC- Gemeinschaft, was auch auf sein Interesse an dieser Art der IRC- Integration verweist. Anfangs stand Tom zwar noch im ' Abseits' , war also noch nicht im vollen Maße in die Gruppe integriert, die in Zukunft sein Leben mitprägen sollte. Aber sein Interesse, die User, die er hier sah, auch näher „in Real Life", also persönlich kennenzulernen wurde geweckt. Wodurch bleibt allerdings unklar. Tom lernt also die User nicht nur über das Medium selbst kennen, sondern in ungefähr gleichem Maße auch über außermediale Events, die aber - wie beispielsweise Channelparties - mit IRC zusammenhängen. Dieses Verhältnis scheint bei Tom ausgewogen zu sein, die innermediale und außermediale Realität weisen also eine starke Verflechtung auf. Da IRC bei außermedialem Kennenlernen der Hauptbezugspunkt ist, dient das Medium als Möglichkeit der Kontakterhaltung. Das verdeutlicht Tom auch an anderer Stelle, wenn er IRC als eine - dem Telefon in dieser Hinsicht vergleichbare - vereinfachte Möglichkeit der Erhaltung von Sozialkontakten darstellt - siehe Kategorie ' Kontakte und Beziehungsbildung' .

Die User, mit denen Tom innermedial befreundet ist, kennt er auch aus persönlicher Begegnung:

A: (...) so die richtigen Unterhaltungen, die auch weggehen von der technischen Ebene, sind schon auch größtenteils Freunde, eigentlich so gut wie alles Leute, die ich auch in Real Life kenne und wir besuchen uns relativ häufig und so. Also nicht nur Berliner, sondern aus ganz Deutschland, einige natürlich auch ein bißchen im Ausland, aber da ist dann (lacht) die Besuchsquote nicht so hoch. Ja... 9

Tom kennt die meisten seiner IRC- Freunde mittlerweile auch von Angesicht zu Angesicht. Es ist für ihn scheinbar ganz natürlich, den inner- und außermedialen Bereich zu vermischen, was in Anbetracht des hohen Stellenwertes, den IRC bei ihm hat, auch nicht verwunderlich ist. Tom betreibt großen Aufwand, um seine IRC- Freunde außermedial zu treffen. Das hat aber unserem Empfinden nach hier weniger den Stellenwert purer Kontakthaltung, sondern eher den einer sozialen Freizeitbeschäftigung, die in Toms Fall aus Besuchen von lokal bis global besteht. Hier wird ersichtlich, daß IRC bei Toms sozialem Umfeld eine große Rolle spielt. Das wird wiederum durch eine andere Aussage unterstrichen, die besagt, daß er eine Zeit lang „kaum noch Kontakt mit anderen Leuten hatte", also fast nur IRC- bezogene Kontakte pflegte - wobei er aber nicht deutlich sagt, ob sich dies auf inner- oder außermediales bezieht. Auch stellt Tom fest, daß es bei ihm „sehr sehr viele Kontakte [gibt], die sich echt so um' s IRC herum bewegen." Offenbar besteht ein großer Teil seines sozialen Netzwerkes aus IRC- bezogenen Sozialkontakten, wobei er aber - anders als in der Phase, in der er hauptsächlich mit IRC- Anwendern zu tun hatte - mittlerweile auch andere Freunde hat.

Auch Toms Liebesbeziehungen der letzten Jahre knüpfte er zu Frauen, die er im Zusammenhang mit IRC kennengelernt hat.

A: (...) Ich habe in letzter Zeit eigentlich nur noch Beziehungen mit Ircerinnen...also die letzten Jahre, also so viele sind es ja nicht. 23

A: Die Mädchen, die ich da kennengelernt habe, das waren, wo sich dann etwas entwickelt hat, die habe ich eigentlich alle zwar durch die IRC- Gemeinschaft kennengelernt, aber alle in Real Life, nicht im IRC. Also auf den Feten meistens. 25

IRC fungiert hier als der Bezugspunkt, über den Tom Partnerinnen kennengelernt hat. Wir werten dies als einen weiteren Indikator, der die hohe Relevanz zeigt, die dem Medium und den damit verbundenen außermedialen Aktivitäten in Toms Leben zukommt, da ja Liebesbeziehungen ein sehr dominanter und wichtiger Teil des sozialen Netzwerkes eines Menschen sind. Interessant bei Tom ist, daß der virtuelle Raum des IRC sehr stark in die außermediale Realität hineindiffundiert und sich die Wirklichkeitsbereiche vermischen. IRC ist der Drehpunkt seines sozialen Bezugs. Auf IRC- Parties lernt er Frauen kennen und hält dann im Medium den Kontakt mit den Mädchen. Das außermediale Kennenlernen gestaltet sich recht einfach:

A: Wie gesagt, das waren alles Leute, die erst in Real Life kennengelernt habe und dann war das so, daß wir im IRC Kontakt gehalten haben und die Clique der Ircer, das war der gemeinsame Punkt. Man hat sich dann eben auf so einer Fete getroffen und kannte die Leute. Es ist halt insofern einfach, Frauen da kennenzulernen, weil, das Eis ist gebrochen, es ist eine relativ ungezwungene Party und jeder labert mit jedem. Dieses Problem, was man ja sonst hat, mit dem ersten Ansprechen, (lacht) das gibt' s da einfach nicht. Man unterhält sich einfach wild drauf los und entweder es funkt oder es funkt nicht. 28

Der gemeinsame IRC- Hintergrund spielt also eine wichtige Rolle. Die Frauen sind Mitglieder von Toms IRC- Gemeinschaft oder -Clique, die als der gemeinsame Bezugspunkt dient. Vermutlich kennt Tom die Frauen schon als Userinnen aus dem Netz und ist mit ihnen im Rahmen der IRC- Clique bereits bekannt. Weiterhin sind gemeinsame außermediale IRC- Bekannte anzunehmen, die ebenfalls als gemeinsamer Bezug dienen. Ohne diesen Hintergrund hätte Tom ein Problem beim Ansprechen, das wahrscheinlich gerade durch einen nicht vorhandenen gemeinsamen Bezug erklärt werden kann, wodurch der Akt der Kontaktaufnahme weniger unverfänglich ist. Sein Ansprechen könnte z.B. als nervige Anmache gewertet werden. Kennt man sich auf so einer Party noch nicht persönlich, dann doch wahrscheinlich als Netzpersönlichkeit, wodurch Unterhaltungen erleichtert werden und das Eis bereits gebrochen ist. Ohne IRC müßte man mit jemand Fremdem erst einmal ' warm' werden, was aber aufgrund von IRC bereits geschehen ist, so daß unverkrampfte Konversationen geführt werden können. Auch meinen wir, in Toms Beschreibung IRC- typische Verhaltensweisen oder Eigenschaften auch im außermedialen Raum wiederzufinden: Die Atmosphäre ist „ungezwungen", man „unterhält sich einfach wild drauf los" und „jeder labert mit jedem", was alles besonders im IRC anzutreffen ist. Also auch der Umgang miteinander scheint Teil des gemeinsamen IRC- Hintergrundes zu sein. Sich innerhalb des Mediums selbst zu verlieben schließt Tom jedoch aus.

F: Also, du hast dich nicht im Medium verliebt ?

A: Ne, das halte ich auch für eine ziemlich unmögliche Sache. (lacht herzlich) Ich glaube, daß bei Liebe noch zuviel körperliche Faktoren reinspielen, den ich lieben und kennen möchte auch zu sehr danach einschätze, wie er sich nach außen gibt und das ist im IRC natürlich sehr sehr schwierig. 26

Zum Verlieben ist also der Kontext der physischen Welt notwendig. Das liegt an der Relevanz dessen, was durch CMC nicht vermittelt werden kann, wozu bei Tom das Aussehen, also die Körperlichkeit sowie Auftreten, Art und Selbstpräsentation in der außermedialen Welt zählen. Tom berichtet auch von Fällen aus seiner IRC- Anfangszeit, wo er es versucht hatte, sich nach einer vielversprechenden IRC- Bekanntschaft mit den Frauen auch FTF zu treffen. Das waren aber „herbe Enttäuschungen", da „irgendwelche [vermutlich die eben genannten] Faktoren doch fehl[t]en". Alles in allem hat IRC bei der Formation seiner Beziehungen eine wichtige Rolle. Darüber hinaus findet Tom auch Sexualpartnerinnen aus dem Umfeld seiner IRC- Clique.

A: (...)So was kann leicht mal zu irgendeinem One- Night- Stand führen aber...oder zu zwei Wochen lustig sein miteinander. (...) 27

Die Aussage ist ganz allgemein gehalten. Tom spricht nicht explizit die Aquirierung von Sexualpartnerinnen aus dem Netz an, jedoch findet sich eine Reihe von weiteren Andeutungen, die unsere Vermutung unterstützen. So hat er z.B. viele Frauen zu Besuch, die dann auch vom Bett aus chatten, was ihm in der Clique den Ruf eingebracht hat, „teilweise mit jeder Frau von gewissen Channels im Bett gewesen zu sein". Wir nehmen an, daß so ein Ruf ein bißchen Wahrheit enthalten muß. Aber auch bei einer anderen Aussage ist zwischen den Zeilen herauszulesen, daß Sexualkontakte zwischen Cliquenmitgliedern bestehen.

A: Wie gesagt, gerade diese Cliquen untereinander...das ist halt so eng, da kennt jeder jeden und so, ne, also salopp gesagt, behaupte ich mal, daß irgendwie so aus dem engeren Kern, gibt es mal ein so' n schwarzes Jahr und dann sterben die dann alle an einer Krankheit, weiß ich nicht Aids oder Syphilis oder so (lacht). 140

Sexualkontakte zwischen den Mitgliedern scheinen also vorzukommen, sonst würde Tom hier nicht scherzhaft diejenigen Krankheiten nennen, mit denen man sich primär beim Geschlechtsverkehr ansteckt. IRC liefert also nicht nur unserem Gesprächspartner, sondern auch anderen Sozialkontakte zur sexuellen Befriedigung.

Bei all dem spielt Toms IRC- Clique also auch im außermedialen Bereich eine wichtige Rolle. Korrekter wäre es wohl zu sagen, daß IRC in seinem Leben eine zentrale Rolle spielt, da die Bereiche des inner- und außermedialen bei Tom stark verflechtet sind. Beide sind Teil seiner Wirklichkeit.

Eine Durchmischung mit den Bereichen seiner außermedialen Welt, die nichts mit IRC zu tun haben, zeigt sich nicht.

(...) wenn ich Nicht- Ircer und Ircer auf einem Haufen habe (...)wenn man jetzt eine Party macht mit fünfzehn Leuten, da sind die Ircer untereinander, das sind halt immer eine relativ enge Clique, die kennen sich eben, haben auch immer ein Thema über das sie reden können und irgendwie immer irgendwas gibt' s ja (...)diese Ircer finden halt immer wieder zueinander (...). 19

Die Cliquenmitglieder legen in der physischen Welt anderen Personen gegenüber - ob gewollt oder ungewollt - ein sich abgrenzendes Verhalten an den Tag: Sie kennen sich untereinander und grenzen sich anderen gegenüber durch das Interesse am IRC selbst, durch das Wissen um dort herrschenden Umgang und ihr Technikinteresse ab. Andere können durch ihre Ahnungslosigkeit auf diesem Gebiet schwer Zugang finden - siehe auch die Kategorie zu IRC-Gemeinschaften und -Cliquen. Daraus resultierend entstehen keine Verknüpfungen zwischen Toms in Ircer und Nicht- Ircer unterteilte Freundeskreise. Die IRC- Freunde bleiben aufgrund ihres Cliquentums, ihrer Möglichkeiten zum Tratsch und der Tatsache, daß immer sofort ein gemeinsames Thema vorhanden ist, untereinander, während diejenigen, welche diese Interessen nicht teilen, „außen vor" bleiben. Interessant ist, daß Tom die IRC- Freunde mit der Bezeichnung „Ircer" tituliert, während er für seine anderen Freunde keine eigene, sondern nur eine Negativ- Form der Benennung wählt, nämlich „Nicht- Ircer". Das liegt möglicherweise an der Heterogenität des restlichen Freundeskreises, zeigt aber auch wieder die geringe Durchlässigkeit der IRC- Clique. Im Begriff „Ircer" ist keine Handlungsbeschreibung vorhanden wie beispielsweise bei ' Seglern' , er erscheint uns eher vergleichbar mit einer Nationalitätszuschreibung wie z.B. ' Engländer' . IRC würde also, rein spekulativ, das virtuelle Territorium darstellen, das von den Ircern belebt wird, die ja untereinander immerhin fast schon eine eigene Binnenkultur mit eigenen Umgangsformen, Themen und Ausdrucksweisen pflegen.

A: (...) das ist ein ganz tolles Phänomen, wenn man sich irgendwo trifft, man sagt: ' Hej, da ist ein Ircertreffen' , es ist egal wie, da triff man sich in einer Kneipe und man kommt in diese Kneipe rein, guckt sich ein mal um und den Tisch sieht man sofort, die müssen keine Rechner auf den Tisch stellen und müssen sich keine Erkennungszeichen...Bisher ging es immer so, daß man diese Leute irgendwie erkennt. 19

F : Wie erkennst du die ?

A : Das ist ein Gefühl, man guckt so in die Clique und denkt ' ach ja, dieser komische Haufen' . 20

F : Was ist an dem komisch ?

A : ... Schwer zu sagen, also ich habe mir darüber auch schon mal so ein bißchen Gedanken gemacht, es vor allen Dingen deswegen weil, weil, normale Cliquen, die so in einer Kneipe rumsitzen, erkennt man oft daran, daß sie in irgendeiner Art Ähnlichkeiten aufweisen, also äußere Ähnlichkeiten, während das bei Ircern nicht der Fall ist (...). 21

Selbst wenn Tom die Ircer noch nicht kennt, würden sie sich als solche im Real Life sofort herauskristallisieren. Das Erkennen als Ircer erfolgt durch „ein Gefühl", also eine Anmutungsqualität. Präzisiert wird dies durch Toms Feststellung, daß die IRC- Cliquen in der außermedialen Welt keine äußerlichen Ähnlichkeiten aufweisen. Daher gibt es keine auf Äußerlichkeiten bezogenen Gruppenzugehörigkeitsindikatoren, so daß gerade die äußerliche Heterogenität zu einem Kennzeichen einer Ircergruppe in Real Life wird.

Nicht nur beim Verlieben, auch allgemein gibt erst ein FTF- Treff umfassenden Aufschluß über eine Person.

A: Ja, ich bin halt gespannt, wie die Person in RL ist, wie sie sich gibt und was das so für ein Typ ist (lacht) also wie gesagt, das sieht man ja im IRC nicht. Man sieht es nicht, wirklich ein Mal visuell und außerdem kommen im IRC viele Leute ganz anders aus sich heraus als sie es in Real Life schaffen.(...) 33

Die direkte Begegnung liefert Tom all die Informationen, die durch die textbasierte Kommunikation nicht transportiert werden. Das schließt einerseits sämtliche visuelle Modalitäten ein wie das Aussehen, den Typ, aber auch die Art der Selbstdarstellung und das Auftreten in der außermedialen Welt. Denn Tom ist sich bewußt, daß man im IRC seine Selbstdarstellung, ob willentlich oder unwissentlich, verändern kann. Beispielsweise ist jemand im Channel der „Channelkaspar", außermedial aber ein ernster Mensch. Durch eine physische Begegnung kommen nun all die Informationen hinzu, die zuvor nicht transportiert werden konnten. Die Person agiert nun unter anderen Rahmenbedingungen, so daß unter Umständen andere Selbstanteile gewichtiger zum Vorschein treten als unter IRC- Bedingungen. Daher erhält Tom einen umfassenderen Eindruck der Person. Der wiederum kann sich - wie beim Channelkaspar - von der im innermedialen gemachten Konstruktion unterscheiden. Aus der möglichen Divergenz resultiert auch Toms Spannung vor einem FTF- Treffen. In diesem Moment zeigt sich die Person mit allen bislang fehlenden Komponenten und in einem anderen Kontext.

A: (...) Und wenn man dann jemanden gesehen hat, gibt es einerseits den Fall, daß hinterher der Kontakt sich völlig verändert...und entweder völlig abflaut oder wahnsinnig intensiv wird, zumindest für eine gewisse Zeit. Oder der andere Fall ist eben genau das Gegenteil, dann bricht der Kontakt fast ab. Nicht, daß man sich dann nicht mehr mag; es ist eben diese Spannung einfach weg oder diese Anonymität weg. Aber mir ist das bisher noch nicht gelungen, das vorauszusagen, was passiert. 32

Wie der andere in der außermedialen Welt ist, bedeutet für Tom ein Spannungsmoment, das bis zum Zeitpunkt eines Treffens besteht, wo die Anonymität aufgelöst bzw. die fehlenden Komponenten zur Vervollständigung des Bildes einer Person hinzugefügt werden. Spannung und Anonymität fallen dann weg. Es klingt ein wenig, als hätte der Kontakt etwas an Reiz und auch Aufregung verloren. Dieser Schritt kann auch zu einer Veränderung der Beziehung führen, die zwischen den Polen Intensivierung und Abbruch liegt. Zu einer Intensivierung des Kontaktes kommt es vermutlich, wenn Tom zu der Person auch FTF einen guten Draht hat und mit der außermedialen Wirklichkeit zurechtkommt, sowie sich angesprochen fühlt. Die andere Seite der Polarität besteht im Abflauen, sogar fast im Abbruch der Beziehung, was wahrscheinlich dann der Fall ist, wenn die Person nicht Toms Sympathie findet. Interessanterweise gilt diese Veränderung wohl auch für den Kontakt innerhalb des Mediums. Die außermediale Realität ist also an der Konstruktion der virtuellen beteiligt, und ihr Einfluß auf den Eindruck von der Person ist in diesem Fall nicht mehr reversibel. Der Übergang in die außermediale Welt scheint insgesamt ein recht sensibler und bedeutsamer Punkt einer IRC- Beziehung zu sein und kann sie stark beeinflussen.

Eine im IRC entstandene Einschätzung kann aufgrund der ' Überprüfung' in persönlicher Begegnung eine Modifikation erfahren. Das hat Tom schon am eigenen Leibe - im Rahmen der bereits erwähnten Auseinandersetzung zwischen ihm in der Rolle des IRC- Operators, und der Channelclique mit ihrem Anführer - erfahren. Hier wurde Tom mit sehr negativen Attributen wie „machtgeil, pervers" belegt, es war also im Verlauf der Auseinandersetzung eine sehr negative Einschätzung von ihm entstanden.

A: (...) habe dann mitgekriegt, daß es durchaus Leute gab, die mich RL kannten oder die mich mal absichtlich in Real Life mal kennengelernt haben, weil sie nur ein von anderen vermitteltes Bild kannten, (...) die dann wahnsinnig für mich Partei ergriffen haben und gesagt haben, na, der ist doch nicht so, habt euch doch nicht so. 45

Das von Tom, zum Teil sogar nur durch üble Nachrede entstandene Bild seiner Netzpersönlichkeit wurde anhand von persönlicher Begegnung falsifiziert. Aufgrund der vollständigen Beteiligung aller Sinnesmodalitäten kamen die User zu einer günstigeren Einschätzung von Tom, als es durch ihre Wahrnehmung im IRC der Fall war. Auch bei anderen scheint also ein FTF- Treffen, bei dem eine vollständige Rezeption der Person stattfindet, großes Gewicht bei deren Einschätzung zu haben.

Linda

Linda hat noch nie eine Person aus dem IRC persönlich getroffen. Dennoch hat sie sich, zumindest theoretisch, ein paar Gedanken dazu gemacht, die wir hier der Vollständigkeit halber wiedergeben wollen, der wir aber in unserer zusammenfassende Analyse nur wenig Beachtung schenken. Denn es ist nicht gesagt, ob sich Lindas theoretische Einschätzungen auch in der Praxis bewahrheiten würden.

A: (...) Da kommen äußerliche Faktoren auch hinzu. Aber ich verstehe mich eigentlich ganz gut mit allen möglichen Leuten und habe keine Probleme. Also ich schätze, daß derjenige dann auch sieht, daß ich offen bin, und gar nicht so fixiert auf das, was sich gezeigt hat...Nicht, daß ich nur das erwarte, sondern ich gehe davon aus, derjenige hat noch viel mehr Facetten, als er da eben präsentieren konnte. 133

Linda hält die Transformation einer IRC Bekanntschaft in den außermedialen Bereich offenbar für relativ unproblematisch. Dabei scheint es auf ihre eigene Fähigkeit anzukommen, dem anderen gegenüber offen zu sein und sich nicht auf das zu verlassen, was durch das Medium - in dem sich eine Person nicht vollständig präsentieren kann - transportiert wird. Sie ist sich bewußt, daß neben den Äußerlichkeiten auch noch andere „Facetten", also Aspekte der Persönlichkeit hinzukommen. Ihr ' Rezept' damit umzugehen liegt in der Offenheit, darüber hinaus wohl auch in dem Bewußtsein, daß noch anderes hinzukommt, wodurch Enttäuschungen vermieden werden können. Ob sie das in der Praxis umsetzen kann, ist nicht nachzuprüfen.

A: (...)Und wenn ich denke, daß ich mit dem kann, was weiß ich, der z.B. auch politisch interessiert ist, in ähnlicher Weise...und auch ideologisch, wie ich...Dann ist da, schätz' ich mal, auch ein Nutzenaspekt, also ich nutze das einfach. 129

F: Haben Sie denn so eine Erfahrung schon gemacht?

A: Nö, bisher noch nicht, aber habe ich auch nicht das große Interesse dran. Aber ich hab' mir schon überlegt, wenn ich z.B. mal ' ne Neuseelandreise machen will, und das werd' ich bestimmt irgendwann, ein ganz interessantes Land...wenn ich da mal hinfahre, würde ich glaub' ich vorher versuchen, in den Channel rein zu gehen und mich mit ein paar Leuten auch anzufreunden...um da halt einfach mal bleiben zu können. 130

Was das gegenseitige Verstehen und Miteinander- Auskommen betrifft, scheinen einige Punkte vor einer FTF- Begegnung abgesichert sein zu müssen. Linda muß den Eindruck haben, mit der Person ' zu können' , was sich hier unter anderem auf politisch- ideologische Ansichten bezieht, die wohl für Linda relevante Faktoren sind, durch die sich eine positive Beziehungen zu einer Person definiert. Ihr Motiv für einen persönlichen Besuch liegt im „Nutzenaspekt". IRC- Bekannte können ihr an fernen Orten von Nutzen sein, da sie ihr wohl einerseits als Sozialkontakte in der Fremde dienen, aber auch als Aufenthalts- und/oder Übernachtungsmöglichkeit.

Theoretisierende Zusammenfassung

Die Beweggründe für die Transformation medialer Bekanntschaften in den außermedialen Bereich können sehr unterschiedlich sein. Das simpelste Motiv ist wohl, IRC- Bekannte in anderen Städten oder Ländern als eine Anlaufstelle in der jeweiligen Örtlichkeit zu nutzen. Weiterhin kann es Menschen geben, die mit der Kontaktaufnahme zu anderen im außermedialen Bereich Probleme unterschiedlicher Natur haben: Sei es, daß sie zu schüchtern sind jemanden anzusprechen oder sich fürchten, einen Korb zu bekommen, oder auch, daß sie generell kein sehr weit gefächertes soziales Umfeld aufweisen, über das sich einfach neue Bekanntschaften schließen lassen. Auch die Ablehnung von außermedialen Orten der Geselligkeit kann ein Grund sein. Hier bietet sich eine Kontaktknüpfung vorerst innerhalb des Mediums an, wo sich Menschen finden lassen, mit denen man sich gut versteht, um dann die Beziehungen in den physischen Bereich auszudehnen. IRC dient in solchen Fällen somit der Erweiterung des sozialen Netzwerkes, unter Umständen bei gleichzeitigem Defizitausgleich.

Im Leben eines Menschen können starke Veränderungen eintreten, die einen Wandel des sozialen Umfelds mit sich bringen, oder aber Geschehnisse sich ereignen, durch die das Umfeld nicht mehr als adäquat empfunden wird. Solche Ereignisse können wie bei Sarah ' kritische Lebensereignisse' wie z.B. der Verlust oder die Trennung vom Partner sein. Auch Umzug in eine andere Stadt wäre als ein Geschehnis denkbar, das die sozialen Umstände stark verändert. Über IRC besteht die Möglichkeit, den Zugriff auf andere Leute erheblich auszuweiten. Jeder im IRC ist ein potentieller Bekannter, der - unabhängig von außermedialem sozialen Umfeld und peer- groups - innermedial kontaktiert werden und hinsichtlich dessen, was die Person sucht, auf Bedürfniserfüllung geprüft werden kann. So findet z.B. Sarah etwa gleichaltrige SingleInnnen - erwiesenermaßen mindestens eine - und andere IRC- Nutzer stoßen z.B. auf Menschen mit ähnlicher politischer Gesinnung. Bei gegenseitigem Interesse steht es den Usern offen, IRC- Bekannte dann auch persönlich zu treffen und mit ihnen auch außermedial eine Freundschaft aufzubauen. Neben Verbindungen rein freundschaftlicher Art bestehen im IRC auch cybersexuelle Verhältnisse. Deren Übertragung in den real- körperlichen Bereich wird ebenso manchmal angestrebt.

Die bislang genannten Phänomene beziehen sich alle auf dyadische Beziehungen, die in die außermediale Welt transformiert werden. Ist man im IRC innerhalb einer Gemeinschaft sehr aktiv, können inner- und außermediale Bereiche wesentlich verzahnter sein und insgesamt ohne explizite Grenzziehung als ein Teil des sozialen Umfeldes fungieren. Im IRC- Umfeld finden relativ häufig sogenannte Channel- Parties statt, auf denen alle User eines Channels, die Lust dazu haben, zusammenkommen. Die Grenzen zwischen den beiden Bereichen können dadurch fließender werden, da FTF- Begegnungen so offenbar früher, schneller und wohl auch mit weniger vorangehender intensiver Auseinandersetzung stattfinden als bei dyadischen Beziehungen. Bei einer Party erscheint uns der Schritt ins Außermediale stärker an Gruppenaktivität orientiert als an spezifischen Einzelpersonen. Die Gemeinschaftsmitglieder kennen sich zum einen aus einer persönlichen Begegnung auf Parties oder ähnlichen Aktionen, und zum anderen als Netzpersönlichkeiten aus dem IRC, wobei mal das Eine, mal das Andere zuerst der Fall ist. Im IRC selbst kann der Kontakt sehr einfach gepflegt werden, was mehr oder weniger durch die pure Anwesenheit im Channel funktioniert, in dem die anderen Gruppenmitglieder ebenfalls früher oder später eintreffen. Im FTF- Bereich lernt man dafür viele neue Menschen in persönlicher Begegnung kennen. Beide Bereiche beeinflussen sich gegenseitig: So werden z.B. Verhaltensmuster, die innermedial IRC- typisch sind - wie das lockere Durcheinanderplaudern oder der unbefangene Umgang miteinander - auch in FTF- Situationen fortgesetzt. IRC- Kontakte können also zu einem sowohl inner- als auch außermedial bestehenden und sich gegenseitig beeinflussenden Teil des sozialen Netzes werden, durch den soziale Beziehungen von Freundschaften über Sexualpartner bis zu Liebesbeziehungen abgedeckt werden können.

Der Moment, in dem eine IRC- Beziehung in die außermediale Welt überführt wird, hat sich in unseren Interviews als ein sehr entscheidender erwiesen, da verschiedene Veränderungen in der Beziehung zueinander auftreten können. Das scheint durch die jeweiligen Konstruktionskontexte erklärbar, die sich ja stark unterscheiden. So zeigte sich, daß die im IRC bestehende Unbefangenheit bei Einzelbegegnungen nicht mehr wirkt, da vermutlich nun die Anonymität der Interaktionssituation nicht mehr gegeben ist, sondern man sich ganz persönlich sieht. Der Verlust der Unbefangenheit scheint bei außermedialen Gruppenszenarien, den Channelparties, nicht der Fall zu sein. Eine Erklärung hierfür bietet möglicherweise das außermediale Setting. Es handelt sich um eine Partysituation, bei der die Atmosphäre vermutlich ungezwungen ist und nicht die Notwendigkeit besteht, sich - wie beim Einzeltreffen - nur mit einer einzigen Person auseinanderzusetzen. So läßt sich wohl die IRC- Unbefangenheit auch in diesen Bereich übertragen.

Viel brisanter und für die Beziehung potentiell konsequenzenreicher ist bei einer ersten FTF- Begegnung wohl die Tatsache, daß die andere Person nun in ihrer Gesamtheit und mit allen Sinnesmodalitäten wahrgenommen wird. Jetzt sind Aussehen, Auftreten, Art, Stil, Äußerungen in gesprochener Sprache - eben alles, was vormals bei schriftlicher Kommunikation nicht transportiert werden konnte - rezipierbar. Aufgrund der ganz andersartigen Rahmensituation ist auch das Erscheinen anderer Selbstanteile anzunehmen. Dadurch kann sich das Verhältnis der Interaktionspartner - zum Guten oder Schlechten - wandeln, wobei offenbar die auf außermedialen Eindrücken basierenden Konstruktionen dominanter wirken. Wie sich in einigen Fällen unserer Interviews zeigte, überlagert die außermediale Eindrucksbildung von einem Menschen die innermediale Konstruktion der Person, was wahrscheinlich durch Vollständigkeit der beteiligten Wahrnehmungskanäle begründet werden kann. Der Einsatz aller Sinnesmodalitäten kann vor allem im Bereich emotionaler und sexueller Beziehungen sehr eklatant zur Geltung kommen, da es sich hierbei um Bereiche handelt, bei denen wir eine hohe Relevanz umfassender Personenwahrnehmung annehmen. Jedenfalls bestimmt ein FTF- Treff das Verhältnis der Interaktionspartner auch innermedial, da der in persönlicher Begegnung gebildete Eindruck irreversibel scheint. Dennoch liefern beide Bereiche Komponenten, die an der Konstruktion der Person beteiligt sind.

Weiterhin nehmen wir an, daß man im IRC automatisch vom Chatpartner ein Bild konstruiert, was das insgesamt für eine Person sein mag. Man geht vermutlich mit einer zwangsläufigen Erwartungshaltung in eine persönliche Begegnung hinein, wobei diese von der innermedial stattfindenden Kommunikation abhängig ist. Hierbei geht es weniger um die Gesamtwahrnehmung als um das Wesen der Person. Was dies betrifft, ist eine eingehende und intensive Auseinandersetzung im Diskurs mit dem anderen hilfreich, um eventuelle Enttäuschungen zu vermeiden. Gerade durch die im IRC herrschende Anonymität können so Dinge über und durch die Person vermittelt werden, die im Außermedialen nicht so schnell zur Sprache gekommen wären. Selbstenthüllung, ein normaler Teil der Beziehungsbildung, ist im IRC viel einfacher. Durch IRC ist es also möglich, in intensiver Kommunikation einen recht umfassenden Eindruck, was das Wesen desjenigen anbelangt, zu erlangen, der wiederum als Absicherung gegen eventuelle Enttäuschungen bei persönlichem Zusammentreffen hilfreich ist. Wurde so eine intensive Kommunikation geführt, hat auch die Beziehung im außermedialen Bereich einen anderen Charakter, denn man lernt sich erst genau kennen und weiß viel übereinander, bevor es überhaupt zu einem Treffen kommt. Der Ablauf der Beziehungsbildung ist gewissermaßen umgedreht, erst lernt man sich gut kennen, dann trifft man sich (Rheingold 1994).

 

4.9. Cybersex als sexuelle Handlungsmöglichkeit

Sarah

Sarahs Konzept zum Thema Cybersex wird im wesentlichen am Bericht eines herausragenden Cybersexerlebnisses deutlich. Sie grenzt sich vom „plumpen" Cybersex ab, wie sie ihn in den eindeutig dafür ausgewiesenen Channels meist antrifft.

A: (...) Und er war auch nicht so plump wie mancher andere, der dann virtuell schreibt: ' jetzt zieh' ich dir dein Höschen aus, und meiner ist 28 Meter lang' ...also so was gibt' s auch...(...). 43

Bei dem plumpen Diskurs kommt es schnell zu einem Dialog, der nicht gerade von Einfühlsamkeit, sondern eher von direkten, sexuellen Handlungen und irrealer Beschreibung der Geschlechtsteile gekennzeichnet ist. Gerade das scheint Sarah wohl unter plump zu verstehen, darüber hinaus vermutlich auch, daß dieser Cybersex ohne ein virtuelles Vorspiel oder Atmosphärenschaffung vonstatten geht. Von dieser Art Cybersex distanziert sich Sarah , all das scheint nicht in ihre Vorstellung von Sex bzw. Cybersex zu passen. Sie interessiert sich, wie sich im folgenden Textausschnitt zeigen wird, mehr für Cybersex, der sich eher an ihrer außermedialen Vorstellung von Sexualität zu orientieren scheint. Dabei handelt es sich um Cybersex wie sie ihn mit ihrer „Cyberaffäre" erlebt hat. Sarah subsumiert das unter dem Begriff „Cybererotik". Die Wortwahl sagt hinsichtlich ihrer Auffassung von Cybersexualität viel aus, denn der Begriff der Erotik spricht die sinnliche Hingabe an und hebt sich somit von reiner Körperlichkeit ab, wie sie sich hier in der unumwundenen Beschreibung des Geschlechtsmerkmals manifestiert.

A: Hm...der hat es geschafft, so auf mich zu reagieren, wie ich' s super fand. Es war einfach so...also bei echtem Sex ist das ja auch so, daß das gut ist, wenn man merkt, daß der andere erkennt, was man will, und einen vielleicht auch noch überraschen kann. Dinge macht, die gefallen...Und das hatte der schon auf dem Kasten...Der hat tatsächlich geschafft...ja, daß einen so was...tatsächlich ein wenig erregen kann. (...)Der hat das einfach ein bißchen schöner gemacht. Der hat dann auch gesagt, so, jetzt machen wir das Licht schön...und mir gefiel die Angelegenheit ganz gut...Und der hat geschafft, meine Bedürfnisse...auf eine sehr versteckte Art auf mich einzugehen (...). 43

Sarah stellt eine Beziehung zu physischem Sex her, wie er in der außermedialen Welt stattfindet, was bei ihr auch Erotik zu implizieren scheint. Im IRC hat sie wohl ähnliche Bedürfnisse. Das, was sie hier fasziniert, ist an außermediale Sexualität angelehnt, so z.B. das Erzeugen einer passenden Atmosphäre. Das korrespondiert auch mit der vorher angesprochenen Wortbedeutung der Erotik: Die Situation wird vermutlich durch beispielsweise das schöne Licht sinnlicher und ist nicht sofort auf pure Körperlichkeit konzentriert. Sarah spricht bezüglich der Fähigkeiten ihres Liebhabers von einer „versteckte[n] Art", womit sie wiederum - wenngleich vermutlich unbewußt - den Bereich der Erotik meint. Denn Erotik bedeutet laut Duden (vgl. Duden, 1963) unter anderem Verhüllung. Des Partners Fähigkeit, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und auf sie einzugehen sind wohl ebenso Eigenschaften, die sie in Real Life schätzt. Sarah bewertet innermedial also das positiv, was auch außermedial von ihr als gut befunden wird. Cybersex stellt offenbar nicht etwa ein neues Experimentierfeld dar, sondern eher eine unphysische Spiegelung von Sexualität mit einem leiblichen Partner.

Sarahs Erfahrungen haben Realitätscharakter: Sie ist erregt; an anderer Stelle spricht sie davon, „erotisch zum Zittern gebracht" worden zu sein. Trotz der Virtualität des Geschehens zeigt sie physische Reaktionen, was für ein durchaus reales, wenn auch in der Vorstellung konstruiertes Erleben spricht. Die Realität wird wohl durch die Interaktivität erzeugt, bei der beide Partner an der Konstruktion beteiligt sind, z.B. durch die Beschreibung des Lichtes und die Reaktion darauf, sowie - vermutlich - die Vorstellung der ganzen Situation im Kopf. Die Konstruktion funktioniert also über interaktive und für real befundene Handlungs- und Gefühlsbeschreibungen, was, durch die Beteiligung der Vorstellung, zu leiblich erfahrbarer Erregung führt.

Sarahs Beweggründe, eine virtuelle Affäre zu haben, scheinen mit ihren derzeitigen Lebensumständen zusammenzuhängen. Folgende Aussage steht zwar im Zusammenhang mit dem Versuch, die Cyberaffäre auch in die außermediale Welt zu übertragen, läßt aber unserer Meinung nach auch Rückschlüsse auf ihre Motivation bezüglich Cybersex zu.

A: Also ich möchte momentan keine Beziehung! Aber bin eben Single, und ich glaube, daß jedes menschliche Wesen, Frauen wahrscheinlich noch mal etwas weniger als Männer...haben irgendein sexuelles Grundbedürfnis...Von daher...also ich bin in dem Bereich auch offen. 45

Sarah ist geschieden und Single, was die Vermutung zuläßt, daß sie sexuell nicht ganz so aktiv ist, wie sie es gerne wäre. Das sagt sie zwar nicht in voller Deutlichkeit, spricht aber von ' Offenheit in dem Bereich' , wobei nicht ganz klar ist, was sie damit meint. Vermutlich bezieht sie sich auf Cybersexualität mit der Option, sich auch außermedial zu treffen. Auch redet Sarah von sexuellen Grundbedürfnissen und ihrem Singledasein. In Anbetracht der Ähnlichkeit zwischen ihrem bevorzugten Cybersex und außermedialer Sexualität, sowie ihrer möglicherweise geringen sexuellen Aktivität befinden wir die Vermutung für zulässig, daß Cybersex bei Sarah dem Ausgleich eines sexuellen Defizits dient. Physische Erregung läßt sich im IRC einfach erreichen: Ihre Phantasie wird durch das Output eines lebendigen Partners - ausgestattet mit ihr zusagenden Fähigkeiten - recht einfach angeregt. Ein, wenn auch nicht ganz herkömmliches, Sexualleben findet statt.

Linda

Linda betreibt zwar selber keinen Cybersex, dennoch wollen wir sie hier aufführen, da sie einige Aussagen macht, die Rückschlüsse auf Funktionen von Cybersex zulassen.

A: Und andersherum, als Frau mit Kerlen eine sexuelle Erfahrung zu machen, das möchte ich nicht. Also ich hab' ' nen Freund, mit dem ich alles ausprobieren kann, und ich hab halt keine Lust, daß...und da geh' ich eigentlich von aus, also ich schätze mal, daß es tatsächlich soweit gehen kann, daß sich die Kerle...selbst befriedigen, während ich denen erzählen soll, was für eine Oberweite ich hab' ...Das sind einfach Gespräche, die mich überhaupt nicht interessieren. Und ich möchte auch nicht, daß jemand mich gut findet, nur weil...ich einen Riesenbrustumfang beschreibe. 136

Linda ist nicht an Cybersex interessiert: „ Das interessiert mich eigentlich nicht besonders". Linda hat einen festen Freund. Diese Tatsache führt zur Ablehnung von Cybersex, da sie mit ihm alles ausprobieren kann. Demnach setzt sie Cybersex vermutlich mit einem sexuellen Experimentierfeld gleich. Auch wählt Linda den Ausdruck „sexuelle Erfahrung", was unserem Ermessen nach wiederum impliziert, daß trotz Virtualität reale sexuelle Erfahrungen gesammelt werden können. Weiterhin lehnt sie es ab, anderen beim Cybersex als Objekt zu dienen, das durch die Interaktivität die Funktion hätte, durch Beschreibung ihres Körpers, ihrer Geschlechtsmerkmale oder anderweitig zu stimulieren und schlimmstenfalls als Selbstbefriedigungsobjekt für denjenigen herzuhalten. Dafür will sich Linda „nicht hergeben". Möglicherweise empfände sie es als etwas erniedrigendes. Sie möchte auch nicht durch die Beschreibung körperlicher Merkmale die Sympathie anderer gewinnen, sondern offenbar auf andere Art, die sie an dieser Stelle aber nicht eingehender thematisiert.

Für Linda kommt Cybersex also nicht in Frage, jedoch schreibt sie anderen als mögliche Beweggründe Ausprobieren im sexuellen Bereich und Selbstbefriedigung zu, wobei der Net- Sex über interaktive Stimulanz funktioniert.

Robin

Einer von Robins Stammchannels hat mit Kontakten im Kontext eines Flirts zu tun, wodurch ein Gesprächsverlauf hin zum Cybersex bereits eher vorgegeben ist als auf anderen Channels. Im Zusammenhang mit dem Stammchannel berichtet er von der Praktik mancher Leute, ihr Geschlecht zu ändern, um andere besser „anbaggern" zu können. Das ist ein Hinweis darauf, daß dergleichen in diesem Channel geschieht. Für sich selbst schließt Robin Genderwechsel aus und gibt an, nicht nur ' baggern' , sondern auch ' flirten' zu wollen. Ihm geht es also weniger deutlich um ein Cybersexerlebnis als denjenigen, die ' baggern' . Aber auch seine Flirts können „in Richtung Cybersex" gehen, wobei Robin Wert darauf legt, daß am anderen Ende eine Frau sitzt, womöglich, weil er es prinzipiell ablehnt, mit Männern sexuelle Handlungen zu vollziehen. Robin betreibt zeitweise beim Cybersex auch Selbstbefriedigung. Er geht jedoch nicht näher auf dieses Thema ein, sondern erwähnt nur ganz allgemein, solche Tätigkeit beizeiten während des Cybersex auszuführen.

Cybersex geht über die Beschreibung von Handlung und des gesamten Settings vonstatten. Durch Textualität wird, wenn man es will, ein Szenario aufgebaut.

A: (...) Ja, wie läuft so was ab, ähm...hm...man beschreibt mehr oder weniger, was man gerade mit dem anderen macht, ob man ihn nun am Ohr krault, oder knabbert oder so was in der Richtung. (...) 132

A: (...) Ja, da wird halt irgendwie...in Kooperation mit der Chatpartnerin wird dann ein willkürliches Szenario errichtet,...also so Marke: einsame Insel oder weiß ich nicht, irgendwie so was, sei es eine Fabrikruine, was auch immer, und dann malt man sich das so aus mit Worten. Jeder hat dann sicherlich seine eigene Vorstellung, und läßt so etwas von seiner Vorstellung einfließen.(...) 136

Wie Robin deutlich macht, haben die beschriebenen, sexuellen Handlungen, die man aneinander vollzieht, etwas mit der eigenen Vorstellung und der des Partners zu tun. Jeder kann seine Phantasien per Verschriftlichung dem anderen nahebringen und beispielsweise eine so romantische Umgebung wie eine einsame Insel kreieren. Auf jede Eingabe folgt eine Reaktion des Partners, wobei diese Interaktivität wahrscheinlich zur Stimulanz beiträgt. Man sieht sich nicht einfach ein Pornoheft an und phantasiert dazu, sondern stellt sich etwas vor, worauf eine Reaktion folgt, in der sich die Vorstellungen und Ideen des anderen spiegeln. Dabei schwingt auch Spannung mit, was die Partnerin als nächstes ins Cybersex- Geschehen einbringt. Jeder schreibt, bringt seine Gedanken ein und erwartet eine Reaktion, die möglichst eine Steigerung darstellen soll - „was der sich noch einfallen läßt, um fast schon die vorherige Zeile zu übertrumpfen". Was hier gesteigert werden soll, kann Robin nur ungenau ausdrücken: Er spricht von Õ AusgefallenheitÕ und ' Witz' , empfindet aber beides als unzutreffende Bezeichnungen. Vermutlich läuft seine Aussage auf gesteigerte Anregung beim (Cyber-)Sex hinaus.

A: (...) Das steht jetzt im ganz krassen Gegensatz zu dem, was der Rest IRC ist. Ich sag mal, wenn sich so ein Chat ergibt...dann weiß jeder, das ist fernab der Realität und das ist dann wirklich auch reine Illusion. 136

A: Ich sag mal, Sex spielt sich ja in erster Linie im Kopf ab...und insofern kann man schon sagen, daß es so eine Art Sex ist. (...) 129

Cybersex hebt sich demnach für Robin weitgehend von seinem sonstigen IRC- Handeln und -Denken ab, steht sogar im Gegensatz dazu. Er grenzt es von seinen normalerweise, an Ernsthaftigkeit und persönlichem Gehalt orientierten Interaktionen ab. Das sexuelle Geschehen ist eine Illusion. Alles, was in diesem Handlungsrahmen geschieht, ist für Robin - aber auch die anderen Beteiligten - fernab der außermedialen Realität, trotzdem die Erfahrungen real sind. Es zählt für Robin wohl nur die eigene Imagination. Bei dieser Art Sex ist keine Partnerin physisch anwesend, die einen körperlich erregen könnte. Gerade durch den Ablauf im Kopf schlußfolgert Robin, daß Cybersex deshalb eine Art Sex ist. Anstelle des Wortes Imagination, das Robin an dieser Stelle ebenfalls treffenderweise hätte gebrauchen können, hat er mehrfach „Illusion" gewählt. Dies impliziert aufgrund der Wortbedeutung, daß bei Cybersex nicht ausschließlich die eigene Phantasie eine Rolle spielt, sondern daß hier eine - von der physischen abgehobene, also virtuelle - Realität geschaffen, vorgetäuscht und für diese Momente, eben gleich einer Illusion, als wahr behandelt wird. Die Illusion ist vergänglich, nicht von Bestand, „weil man weiß, nach einer Stunde ist das alles vorbei". Robin hat für sich eine nur kurzzeitig existierende innermediale Realität definiert. Die Irrealität und Illusion hat jedoch einige Konsequenzen für Robins cybersexuelles Handeln: Er distanziert sich von seinen sonst präsenten Selbstkonzepten - siehe Kategorie 4.5. zu Identität und Selbstdarstellung - wodurch er seinen Handlungsraum in Richtung Ausprobieren und Experimentieren zu erweitern scheint.

A: Nehmen wir mal als Beispiel Sado- Maso. Ich denke, das ist eine ganz brauchbare Phantasie, ist nicht jedermanns Sache, meine zum Beispiel absolut nicht, nehmen wir das mal als Beispiel, kann man im IRC wunderbar ausleben. (...) 134

Im IRC kann Robin sich Dingen annähern, die außermedial nicht ' seine Sache' wären. Im Rahmen der im IRC konstruierten, der physischen Welt fernliegenden Realität kann Robin z.B. deviante Sexualpraktiken ausprobieren und Phantasien - seien es seine eigenen oder die der Chatpartnerin - ausleben.

F: Und hast du danach das Gefühl, mehr zu wissen, oder zu wissen ob es dir schmeckt oder nicht?

A: Ne, das kann es mir nicht sagen, es kann aber ein bißchen die Neugier wecken. Und vielleicht auch ein bißchen, ich sag jetzt mal die Hemmung einem zu nehmen, das doch mal auszuprobieren. Weil man so was in Gedanken eben schon mal durchgespielt hat. 141

Robin kann durch Cybersexerfahrungen nicht einschätzen, wie dieser Sex sich in der physischen Welt gestalten würde und ob es ihm gefiele. Dennoch zieht er eine Anregung zu neuen sexuellen Erfahrungen außerhalb des Mediums in Betracht, da er sich dem innermedial angenähert hat. Er hat sich interaktiv damit beschäftigt und die ganze Situation in seiner Vorstellung aktiv durchgespielt. Dadurch wird wohl eine Art mentales Konstrukt geschaffen und sein Erfahrungsschatz erweitert. Durch das mentale Konstrukt und die damit einhergehende gedankliche Auseinandersetzung werden offenbar Hemmungen, die er außermedial hätte und die innermedial nur vermindert vorhanden sind - siehe Kategorie Unbefangenheit - abgebaut. Wahrscheinlich ist unter anderem wieder der illusorische Charakter von Robins Cybersex- Realität bedeutsam: Wo alles eine Illusion und man selber „nicht mehr man selbst" ist, spielen hemmende Faktoren wohl keine Rolle, so daß sie auch beim Cybersex selbst nicht zur Geltung kommen.

A: Ja, daß man einfach seine eigenen Phantasien und auch die Phantasien des anderen oder im Zusammenspiel mit den Phantasien (sucht nach Worten) hemmungslos da ausleben kann. So völlig ungezwungen. (...) 164

Wichtig in diesem Kontext des Experimentierens mit Sexualität erscheint uns noch Robins Aussage, die auf die Ungefährlichkeit von IRC- Handlungen hinweist.

A: (...) Ja, daß man vielleicht deswegen im IRC diese Sachen erst mal ausprobiert, weil da tut ja nichts wirklich weh.(...) 137

Bei Cybersex kommt es zu körperlichen Erfahrungen wie Erregung oder auch Selbstbefriedigung. Die spürbare, physische Sexualität der Handlungen mit der Partnerin ist jedoch ausgeklammert: Die beschriebenen Berührungen des anderen sind am eigenen Körper nicht erfahrbar, sondern werden mental durchgespielt. Von daher geht Robin beim Cybersex auch kein Risiko ein, wirklichen Schmerz zu spüren, was wahrscheinlich gerade beim Beispiel Sado- Masochismus mit ausschlaggebend sein kann, dies auszuprobieren.

F: Könnte dein Beziehungspartner darauf eifersüchtig sein oder das als Untreue empfinden?

A: Ich sag mal, in meinen Augen wäre es kindisch, wenn eine Frau, genauso wie ein Mann, mit einem Wildfremden Cybersex macht, äh, ist das ein Vertrauensbruch oder da bin ich eifersüchtig. Irgendwie muß man da zwar auf der anderen Seite sagen, daß Untreue in der Richtung ja im Kopf anfängt, aber das ist ja in dem Sinne nicht untreu, das ist irgendwie anders, ich weiß nicht, wie ich das Gefühl beschreiben soll. (...) 144

A: (...) da ist jetzt kein Feeling bei, ich sag mal ( sucht nach Worten), weiß nicht wie ich das erklären soll...das ist nicht so, wie wenn man zum Gigolo oder zu einer Prostituierten geht, so ist es nicht...Es wissen halt beide, daß es nicht real ist. (...) 145

Im IRC hat Robin einen Raum konstruiert, in dem er für seine Handlungen, was das außermediale Leben betrifft, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Alle Anschuldigungen seiner Partnerin bezüglich sexueller Untreue würde er als kindisch, also albern und unangemessen empfinden. Bei Cybersex ist hinsichtlich der Partnerin keine physische Komponente dabei, anders als beim Besuch einer Prostituierten - der dahingehend mit Cybersex vergleichbar wäre, daß wahrscheinlich Anonymität gegeben ist. Untreue beginnt für Robin erst beim physischen Zusammentreffen zweier leiblicher Partner, während der IRC- Sex zwar auch real ist, sich aber im Kopf abspielt. Untreue beginnt zwar ebenfalls im Kopf, so die Einschränkung, aber Cybersex scheint für Robin trotzdem etwas anderes zu sein. Vermutlich wertet er es nicht als Vertrauensbruch, weil er seinen Partnerinnen in solchen Momenten kein wirkliches Gefühl oder wirkliches, ja auch im Kopf verankertes, Begehren entgegenbringt. Unsere Annahme wird unterstrichen durch Robins Aussage, daß er physischen Partnerinnen „unheimlich viel Gefühl" entgegenbringt, während das bei seinen Online- Partnerinnen nicht der Fall ist. Durch Robins Suche nach Worten zum Ausdruck dieses Unterschiedes erscheint es uns ein wenig, als ob die Gegebenheiten im virtuellen Raum noch ganz neu und undefiniert sind. Offensichtlich wird jedoch, daß Net- Sex nicht den Stellenwert einer Ersatzhandlung hat, denn da wüßte Robin sicherlich schneller, ob dies Untreue ist oder nicht.

F: Womit wäre Cybersex denn vergleichbar?

A: ...Hm, vielleicht ein bißchen in die Richtung, wenn ich auf der Straße bin, dann manchmal schweifen die Gedanken doch etwas weiter, dann sehe ich einen knackigen Hintern oder eine gute Figur (...). 162

Robin vergleicht Cybersex mit der Ansicht von etwas sexuell gedanklich Anregendem. Dabei spricht er Dinge an, die seine Phantasie offenbar in sexueller Hinsicht stimulieren und durch die es zu einer gedanklichen Abschweifung kommt, die weiter geht als sonst. „Weiter" könnte hier sowohl die Ausführlichkeit des Gedankenspiels bedeuten, das dann über einen normalen Gedankenstrom hinausginge, oder aber im Sinne von sexueller Gedankenabschweifung gemeint sein, so beispielsweise, daß er einen „knackigen Hintern" sieht und an Geschlechtsverkehr denkt. Es bedarf neben der eigenen Imagination und Phantasie einer weiteren Komponente, im einen Fall eines Hinterns, beim Cybersex dagegen einer Partnerin, die durch ihre interaktive Teilnahme am cybersexuellen Dialog stimulierend wirkt und sexuellen Gedankenspielen eine Form gibt. Robin bezeichnet die andere in diesem Kontext auch als „Projektionsfläche". Er hat also kein konkretes, dem physischen Aussehen der Person entsprechendes Bild vor Augen und ist nicht an außermedialer Wirklichkeitsnähe interessiert. Statt dessen füllt Robin die medial bedingten Leerräume mit seinen eigenen Vorstellungen und projiziert offenbar Wünsche in das Bild seiner Chatpartnerin hinein, denn es ist ausreichend Raum für die Imagination vorhanden.

Tom

Tom thematisiert Cybersex nicht explizit. Allerdings erwähnt er, durch IRC erst an SM und Bondage gekommen zu sein.

A: (...) irgendwelche Phantasien, die ich überhaupt nicht einordnen konnte und die ich mit keinem anderen teilen konnte. Im IRC bin ich dann damit in Kontakt gekommen (...). 64

Erst der Kontakt im Netz ließ eine Einordnung seiner Phantasien zu. Es ist jedoch nicht klar, wie die Form des Kontaktes geartet war, da Tom dazu nichts weiteres sagt. Möglich ist, daß neben der Thematisierung von SM und Bondage im Sinne von verbaler Auseinandersetzung - wie z.B. Erfahrungsaustausch oder darüber Reden - auch die Ausführung von cybersexuellen Handlungen zu der Einordnung und Verdeutlichung seiner sexuellen Gelüste beitrug.

Theoretisierende Zusammenfassung

Cybersex ist ein im IRC recht verbreitetes Phänomen, zu dessen Praktizierung eine große Zahl eindeutig dafür ausgewiesener Channels zur Verfügung steht. Diese schließen fast alle erdenklichen Formen devianter Sexualität ein, was gerade für das Experimentieren und Ausprobieren als Bedeutungszusammenhang relevant sein kann. Doch beginnen wir von vorne: Cybersex gehört zu den Formen textbasierter Kommunikation, bei denen die Virtualität am stärksten zur Geltung kommt. In Interaktivität wird eine Welt konstruiert, die sehr handlungsbezogen ist, also anders, als z.B. im virtuellen Raum eines Channels nur miteinander eine Konversation zu führen. Die Konstruktionen können, in Abhängigkeit vom jeweiligen Individuum, sehr unterschiedlich aussehen. Allen gemeinsam ist, daß beide Partner dabei in Abstimmung aufeinander ihre Vorstellungen, Wünsche, Phantasien per Verschriftlichung in die konstruierte Realität einfließen lassen. Handlungen, Gefühle, Aussehen und Räumlichkeit werden beschrieben. Eine direkte, physische Erfahrung durch die sexuellen Handlungen des anderen am eigenen Körper ist also ausgeklammert. Somit ist auch kein Schmerz oder physische Erregung durch Berührung des Partners spürbar. Körperliche Erregung geschieht durch Eigenberührung oder durch das, was in der eigenen Phantasie durchgespielt wird, wobei der Partner aber durchaus eine stimulierende Rolle einnehmen kann. Die sexuellen Erfahrungen sind real, jedoch geschieht alles in der Vorstellung. Diese kann man, wie wir bei Sarah gesehen haben, so nahe an sich heranlassen bzw. kann sie so real sein, daß allein durch die Imagination und interaktive Stimulanz physische Erregung bewirkt wird. Eine andere Option wäre es, selbst Hand anzulegen und Cybersex als interaktive Selbstbefriedigungsstimulanz zu nutzen. Cybersex findet in Gedanken, aber in Kooperation mit einem Partner in einem für diese Zeit definierten Handlungsraum statt. Da hier eine neue Realität definiert wird, ist es auch möglich, sich von den in der außermedialen Realität dominierenden Selbstkonzepten zu entfernen und sich auf ganz neue Formen der Sexualität einzulassen. Wir vermuten - gerade in Anbetracht der vielen, im IRC vertretenen ' Sexualrichtungen' und der Möglichkeit, alles darzustellen, was man will - daß Cybersex als Form eines experimentellen, explorativen Umgangs mit Sexualität fungieren kann. Cybersex stellt eine neue Art, eine Erweiterung der physischen Sexualität dar, die sich gerade nicht an außermedialen Definitionen, sondern an der interaktiv konstruierten Realität orientiert und somit ganz neue Möglichkeiten liefert. Jeder User kann selbst die exotischsten Phantasien ausleben. Ein Bezug zur außermedialen Realität kann darin bestehen, daß durch die virtuelle Sexualität Interesse und Neugier geweckt werden. Man hat sich auf gefahrlose Weise - da in Anonymität und unter Vernachlässigung von Schmerz - mit Formen der Sexualität imaginativ auseinandergesetzt. Diese sexuellen Erfahrungen können daraufhin auch im außermedialen Bereich angestrebt werden. Ebenso kann es sein, daß man durch Cybersex Teile seiner eigenen Sexualität erst einordnen kann, wie wir bei Tom vermuten. Dem gegenüber steht Cybersex als Form eines Ausgleichs für Sexualität, die außermedial nicht zur vollen Befriedigung kommt. Dabei ist anzunehmen, daß die Sexualität im Netz weniger von neuem, forschenden, alltagsfernen Charakter ist, sondern sich eher an die außerhalb des Netzes gewünschte Form oder vorhandenen Bedürfnisse anlehnt. Die interaktive Konstruktion innermedialer Realität hat somit andere inhaltliche Schwerpunkte. In diesem Fall kann auch verstärkt mit einer Übertragung des Kontaktes in die physische Welt gerechnet werden.

Die Rolle des Partners besteht in seiner Teilnahme an der Realitätskonstruktion, die bilateral in Interaktivität geschaffen wird. Bei Cybersexualität wird aufeinander reagiert. Der Partner kann als Stimulanz fungieren und die Phantasie anregen, sowie neue Inhalte, Ideen oder gar eine neue Richtung geben. All das wird wiederum in der eigenen Vorstellung umgesetzt. Außermedial ist Sexualität soziales Handeln, das mit Intimität und Öffnung dem Partner gegenüber zu tun hat. Das Intime am Cybersex sehen wir in der beschreibenden Preisgabe eigener Gefühle und Reaktionen während des sexuellen Aktes - auch wenn diese bei Cybersex nicht unbedingt den außermedialen Gegebenheiten entsprechen. Aufgrund der Non- Physikalität kann man sich seinen Wunschpartner bezüglich des Aussehens erträumen, indem die kommunikativ bedingten Leerräume mit eigenen Wunschvorstellungen angefüllt werden. Umgekehrt kann man sich selbst als großartiges Schönheitsideal schildern.

Insgesamt ist Cybersex ein sehr heterogenes Phänomen, das zwischen der Polarität Defizitausgleich versus Erweiterung und der Polarität (außermediale) Realitätsferne versus -nähe angesiedelt ist.

 

4.10. Horizonterweiterung

Robin

Der Einblick in Fremdes steht bei Robin im Kontext persönlicher Gespräche, die er im IRC gerne und häufig führt. Robin will nicht nur „oberflächlich mit denen quatschen". Anhand solcher Gespräche mit Chatpartnern, die in einem anderen außermedialen Lebeskontext leben, kann er viel Neues erfahren.

A: Wieder im Leute kennenlernen, und mit denen ein relativ persönliches Gespräch zu führen. Und einfach auch mal ganz unterschiedliche Arten von Leuten kennenzulernen. Welche, die man sonst nicht kennenlernen würde. Ich würd' mich im wahren Leben kaum mit so ' ner Rockertype unterhalten, nicht weil ich ' n Vorurteil hab' , aber ich wüßte nicht, wie ich mit denen ins Gespräch kommen sollte, jemals. Man kann ja nicht in so ' ne Rockerkneipe gehen und sagen: hey, woll' n wir uns man nett unterhalten. Und bei IRC...die gesamte IRC - Gemeinde, die verbindet ja irgendwie ein Thema, und zwar ein bißchen der Computer, und der Reiz, IRC zu machen. Da hat man ja irgendwie schon was gemeinsames. 30

Robin kann im IRC eine große Bandbreite an Menschen kennenlernen. Es sind „ganz unterschiedliche Arten" Mensch, mit denen er im Medium in Kontakt treten kann und auf die er außermedial keinen Zugriff hätte. Robin hat das Beispiel eines Rockers gewählt. Würde man diesen bezüglich seiner Lebenswelt, -umstände, -gewohnheiten, peer goup, Einstellungen etc. mit unserem Gesprächspartner vergleichen, ließen sich höchstwahrscheinlich große Unterschiede feststellen. In genau diesen anderen Lebensstil kann Robin im IRC im Gespräch Einblick gewinnen. Gerade auch wegen dieser Unterschiede würde Robin den beispielhaft genannten Rocker außermedial nicht treffen und allein schon deshalb nicht mit ihm in Diskurs treten. Ein weiteres Beispiel ist eine über vierzig- jährige Finanzbeamtin, bei der „man", also auch Robin, klischeehaft denkt „verheiratet, Kind Eheleben und so", die sich aber dann als „ganz anders" herausstellt. Anhand der Gespräche, die Robin mit den anderen Usern führt, gewinnt er „Einblick in eine Welt, zu der man sonst keinen Zugang hat". IRC verschafft ihm diesen Zugang, der dadurch zustande kommt, daß sich eine vielfältige Anzahl Menschen in diesem Medium tummelt, verbunden durch ihr Interesse an IRC und am Chatten. Darin besteht wohl den kleinste gemeinsame Nenner. Somit ist im IRC die Kontaktaufnahme mit sehr unterschiedlichen Menschen möglich.

A: (...) Wann hat man da die Chance, z.B. wieder der Rocker, so ' nen Typ mal richtig kennenzulernen? Und im IRC, hat man dann auch so' n lebendes Beispiel...das ist so ' n bißchen...Erforschung der Umwelt...könnte man vielleicht so sagen. 37

IRC verschafft Robin die Möglichkeit, Leute und damit wohl auch Lebensformen, die ihm bislang fremd waren und in die er keinen direkten Einblick hatte, gewissermaßen am lebendigen Objekt zu erforschen. Die Wortwahl „Erforschung" läßt auf eine recht eingehende Auseinandersetzung und den Versuch eines tieferen Einblickes schließen. Robins Erkenntnisinteresse beschäftigt sich mit Menschen seiner außermedialen Umwelt und deren Realität. Die Erforschung selbst findet jedoch innermedial statt.

A: Also ich für meinen Teil habe mit Vorurteilen wenig am Hut, aber man kann sich da...manchmal nicht gegen wehren. Bei Rocker z B. rüder Umgangston...man kriegt' s ja auch durch die Medien dauernd mit, man wird ja bombardiert damit, immer werden Klischees aktualisiert...Ich krieg' das selbst mit, wenn ich sage, daß ich tanze als Sport, daß die Leute dann gleich so ' n Klischee vor Augen haben. Und das ist ein Reiz, solche Klischees abzubauen, und für mich persönlich ist es auch erstrebenswert, für mich zu bestätigen, daß das eben alles nur Klischees sind. 33

Robin sieht sich in einer Welt voller Klischees oder Vorurteile, gegen die er sich „manchmal nicht (...) wehren" kann. Zu ihrer Entstehung tragen die Massenmedien bei, deren offenbar als ziemlich massiv empfundenen Einfluß er sich nicht entziehen kann. Unter Beteiligung der Medien und der von ihnen gelieferten Informationen werden Bilder zu Menschen wie z.B. dem Rocker konstruiert, in deren Lebensart und -weise Robin keinen Einblick und mit denen er keine direkte Erfahrung hat. Die Konstruktionen resultieren dann offenbar in meist wenig fundierten Klischees, wie Robin auch bereits am eigenen Leib erfahren mußte: Andere dachten, weil er Tänzer ist, automatisch „ach, du bist schwul". Robin hat die Bestrebung, genau solche Klischees abzubauen. Anhand eines lebenden Beispiels, durch dessen spezifische und subjektive Sicht ihm Einblick in die Lebenswelt und - form eines z.B. Rockers vermittelt wird, kann er seine vorigen Einstellungen als klischeehaft bestätigen. Sein Streben hängt mit Robins Selbstkonzept zusammen: Er hält sich für einen „frei denkenden Mensch" in einer als Student „intellektuellen Stellung", weshalb für ihn die Brechung von Klischees anzustreben ist.

A: (...)Also man erweitert damit einfach seinen Horizont, indem man einfach über' n Tellerrand mal ' n bißchen hinausguckt.(...) 34

Robin möchte also aus seiner selbst konstruierten Welt - was er wohl mit Tellerrand meint - hinausblicken und die Leute so kennenlernen, wie sie unabhängig von seinen bisherigen Klischees sind. Den Einblick in bislang fremde Welten erlebt er als Horizonterweiterung. Robin hat so seine Perspektive ausgedehnt und Neues erfahren können.

Allerdings gelingt ihm der Fremdeinblick bloß, solange er in der für ihn typischen Form des IRC- Umgangs - nämlich im Rahmen persönlicher Gespräche - zustande kommt. Menschen, die innermedial eine ganz andere Umgangsform an den Tag legen wie z.B. ' Channelhopper' , Schimpfende oder Leute mit seltsamen Nicknamen, lehnt er ab. Hier bemüht Robin sich nicht um eine Einnahme von deren Sichtweise oder um ein Verstehen eines solchen Handelns. Seine innermediale Form muß also gehalten werden. Um außermedial Fremdes verstehen zu können, muß der Austausch darüber in genau der Form geschehen, die sich Robin für seinen IRC- Umgang angeeignet hat. Leute, deren innermediale Realität und damit auch Umgangsform sich von seiner stark unterscheidet, werden nicht in Robins Art der Horizonterweiterung einbezogen.

Tom

Für Tom besteht die IRC gegebene Möglichkeit der „Horizonterweiterung" auf dem Sektor der Informationsgewinnung, die sich in diesem many- to- many- Medium von herkömmlichen Massenmedien unterscheidet.

A: (...) aber es ist halt bei anderen großen Medien, wie Fernsehen und Zeitung immer deine vorgekaute Information, da kriegst du nichts wirklich von unten mit und wenn du das erst Mal durchschaut hast, was im Fernsehen kommt, das ist doch, wenn da irgendwas kommt, wovon du Ahnung hast, dann merkst du entweder, das ist doch völlig oberflächlich oder sowieso absolut am Thema vorbei. (...) 68

A: Ja, du bist näher an der Quelle. Die Information ist breiter und dadurch ungefilterter, weil eben nicht mehr einer sagt, wie das auszusehen hat, sondern weil du jede Information gleich mit X Sichtwinkeln und Meinungen da kriegst. Ich meine, daß ist entsprechend schwierig, das für sich aufzubereiten. 71

Tom scheint mit der Informationsvermittlung durch Fernsehen und Zeitung nicht zufrieden zu sein. Die Informationen werden von den Medien dergestalt aufbereitet, daß er sie als „vorgekaut" betrachtet, was hier wohl bedeuten soll, daß sie bereits durch eine Instanz modifiziert wurden. Tom führt als Beispiel den Golfkrieg an, wo er bloß „gefilterte und nach Idealismus und nach politischen Anschauungen aufbereitete Informationen" erhielt. Information im IRC hingegen kommt direkt von der Quelle, hat also noch nicht den Weg durch den Filter der Medien genommen. Dadurch ist die IRC- vermittelte Information zwar breiter, jedoch auch ungeordneter und schwieriger aufzubereiten. Tom scheint sie als authentischer und daher wohl auch als wahrhaftiger zu erleben. Das bedeutet für ihn „durchaus Horizonterweiterung". Versteht man den Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung als wahrnehmbare Grenzlinie des eigenen Sichtfeldes und überträgt dies auf Toms Schilderung, so wird sie tatsächlich erweitert.

Durch seine Erfahrungen mit IRC hat Tom erst ein Bewußtsein dafür bekommen, daß eine „relativ große Differenz zwischen dem, was du in den Massenmedien mitkriegst, und dem, was wirklich abgeht", besteht. Die anhand von IRC für Tom einsehbaren unterschiedlichen Meinungen, Einstellungen und Perspektiven zu ein und demselben Sachverhalt stellen den informativen Gegenpol zu medial gefilterten Informationen dar. Konsequenz seiner Bewußtwerdung ist, daß Tom „persönlich wesentlich mehr angefangen [hat], diese Sachen zu hinterfragen". Das Bewußtsein einer Differenz zwischen aufbereiteter und quellennaher Information hat einen durchdachteren Umgang mit den von herkömmlichen Massenmedien präsentierten Informationen bewirkt. Tom hinterfragt das, was ihm präsentiert wird und übernimmt nicht unreflektiert die durch Medien nahegebrachten Sachverhalte. Darin unterscheidet sich Tom von seinen Eltern - seiner Vorgänger- Generation - die „immer noch daran [glauben], was in den Zeitungen steht und im Fernsehen kommt". Im Gegensatz zu seinen Eltern überdenkt Tom also verstärkt die Rolle, die Medien bei seiner persönlichen Realitätskonstruktion spielen.

Sarah

Sarah macht kaum direkte und explizite Aussagen zu ihrem Interesse an Fremdeinblick und der damit einhergehenden Erweiterung ihres geistigen Gesichtsfeldes. Dennoch scheint ein solches vorhanden zu sein.

A: (...)Und sonst gibt eben unendlich viele Channels, Länder noch, alles mögliche. Und das nutze ich halt nach Lust und Laune. Manchmal habe ich eben darauf Lust, manchmal auf anderes. 49

F: Wie kommen Sie zu dieser Channelauswahl?

A: Mittlerweile weiß' ich einfach, was was für mich ist. Also nach #gay.bondage brauche ich nicht gehen. Obwohl ich da auch bereits einmal geguckt hab' ...aus Neugier. 50

Sarah spricht von der großen Vielfalt der IRC- Kanäle, die sich - wie wir mittlerweile wissen - auf alle erdenklichen Themengebiete erstreckt. Diese nutzt sie nach ihrem eigenen hedonistischen Lustempfinden, je nachdem wonach ihr der Sinn steht. Sarah hält sich also keineswegs nur in ihren Stammchannels auf, sondern besucht auch ihr gänzlich fremde Channels. Daß sie „mittlerweile" weiß, welche Channels ihr entsprechen und welche nicht, deutet darauf hin, daß Sarah schon viele ' getestet' hat. Dabei handelt es sich auch um Kanäle, die sie zum Zwecke der Neugierbefriedigung aufsucht. So hat sie vermutlich auch dem Channel #gay.bondage bereits deshalb einen Besuch abgestattet, um ihre Neugier über das zu befriedigen, was dort geschieht, was die User dieses Channels tun, sagen und wie sie miteinander umgehen. Da Sarah weiblich, heterosexuell und - wie aus ihren Aussagen über Cybersex und Sex hervorgeht - nicht an derlei extremeren Sexualpraktiken interessiert ist, konnte sie sich mit Hilfe von IRC einem fremden Sujet annähern. Man kann man also sagen, daß sie ihren Blickwinkel, sprich ihren Horizont ausgedehnt hat.

Wir halten aber auch Sarahs Interesse an Usern, die aus anderen Ländern stammen, für eine Form der stärker außermedial bezogenen Horizonterweiterung.

A:(...)ich bin keineswegs nur in deutschen Channels unterwegs, sondern auch global. Was natürlich auch einen Reiz ausmacht, da auch Bekannte zu haben, oder fast Freunde zu haben, die aus Großbritannien, Australien oder sonstwo kommen, ist eine ganz schöne Angelegenheit. (...)12

F: Können Sie noch mal ' n bißchen den Reiz beschreiben, Leute aus aller Welt zu kennen?

A: Hmm, tja, weil man das normalerweise eigentlich nicht tut. Also ich bin in Deutschland nunmal. Klar, ich fahre in den Urlaub im Jahr einmal richtig schön, und da lernt man da vielleicht mal ' nen Einheimischen kennen, aber das ist was ganz anderes, als wenn ich jetzt mit Cindy - so heißt die Frau, die auch allein ein Kind hat - und die kommt aus Schottland, und ich finde das ' ne lustige Angelegenheit. Das Ganze. (...)20

Für Sarah ist es reizvoll, global verstreute Freunde zu haben. Worin genau der Reiz liegt, ist aber nicht explizit ausgedrückt, jedoch scheint Sarah davon fasziniert zu sein und diesen Umstand „schön" zu finden. Vielleicht erlebt sie es als exotisch und kosmopolit. Sarah ist offenbar davon angetan, Menschen aus fremden Ländern - wie Cindy - persönlich kennenzulernen, sich mit ihnen auszutauschen, Gemeinsamkeiten festzustellen und sich mit ihnen anzufreunden. Sie könnte zu einer Person wie Cindy, die sich als ebenfalls alleinerziehende Mutter vermutlich in einer ähnlichen Lebenssituation befindet, einen stärkeren persönlichen Bezug haben, sowie ein Interesse daran, zu sehen, wie z.B. eine Schottin ihr Leben meistert. Auf diese Weise kann sie vermutlich Einblick nehmen in eine ihr ansonsten fremde Lebenswelt. Das wäre Sarah sonst aufgrund ihrer Ortsbindung nicht möglich gewesen, die im IRC hingegen keinen entscheidenden Faktor mehr darstellt. Die einzige Option, außermedial Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen, besteht im Urlaub, wo Sarah aber die Rolle der Touristin, ihr Gegenüber die Rolle des Einheimischen einnimmt. Wir nehmen an, daß unter solchen Umständen andere Verhältnisse zwischen den Interaktionspartnern herrschen und keine IRC- gleiche Freundschaft entstehen kann, die Sarah wahrscheinlich zu einem umfassenderen Einblick in andere Lebens- und Denkweisen verhilft.

Linda

A: Ja, ich lerne auch sehr viel. Nämlich wie Leute insgesamt sind.(...) 49

Linda betrachtet IRC als ein Medium, in dem sie viel Wissenszuwachs erreichen kann. Die Quintessenz des Lernens liegt wohl in der Aussage „wie Leute insgesamt sind", sie erhält einen Einblick in die Wesenheit verschiedenster Menschen. Ihre Strategien, dahin zu gelangen, sind verschieden, zumal sie in Abhängigkeit davon zu betrachten sind, was Linda sich erschließen will.

A: (...)wenn ich in was reingehe, neugierigerweise, wo...meinetwegen über Fetisch gesprochen wird, da kann ich mich überhaupt nicht einbringen, gar nicht, weil' s halt ganz fremd ist .Und dann gucke ich eben nur zu....Ja...gucke mir an, was bei denen passiert. 124

Eine Form, sich Wissen anzueignen besteht im sogenannten Lurken, der reinen Beobachtung des Geschehens in einem Channels ohne eigene Aktion. Diese Strategie wendet Linda bei Themen an, die ihr gänzlich fremd sind, wodurch ihre Neugier geweckt wird. Sie will Wissen dazu erlangen, kann sich aber aufgrund der thematischen Unvertrautheit in diesem Channel nicht aktiv einbringen. ' Einbringen' bedeutet hier vermutlich die Teilnahme an Gesprächen oder die Annahme der Rolle eines Fetischisten. Das ist jedoch ausgeschlossen, sobald Linda von einem Thema keinerlei Ahnung hat. Daher besteht ihre Form des Erkenntnisgewinns in so einem Fall im Lurken.

A: Ja, ich erfahre was über diese Welt...und das bringt mir auch was für mein Realitätsbild, dann weiß ich, wie jetzt solche Leute beispielsweise auch sind...z.B. Fetischliebhaber, da kann ich was mit anfangen...Man wird auch toleranter, schätz' ich (...). 125

Anhand der Beobachtung der Channelgeschehnisse und der Gespräche der Fetischisten kann Linda etwas über deren Welt erfahren. Was, das hängt natürlich vom jeweiligen Channelgespräch ab, aber Linda scheint daraus zu erfahren, wie diese „Leute (...) sind". Die neue Perspektive wird von nun an an der Konstruktion ihres Realitätsbildes beteiligt und kann gegebenenfalls auch Lindas bisherige Einstellungen verändern, wie sich am Beispiel der Toleranz zeigt. Die innermedial neu erfahrene Sichtweise wird also an der Konstruktion der außermedialen Realität beteiligt.

A: Es geschieht ja immer im Abgleich zu dem, was ich sonst noch in meinem Leben irgendwie...also z.B. wenn meinetwegen über Fetisch...wenn ich da an bestimmte Sendungen denke, auf Vox oder Pro 7, wo was über Fetisch oder Fetischliebhaber gebracht wird, dann geschieht das immer im Abgleich...bestimmte Erfahrungen oder Meinungen zu einem Thema sind ja schon da. 126

F: Hm.

A: Es ist auf jeden Fall ein Unterschied, ob bloß drüber berichtet wird oder ob Leute, die so sind, sich direkt untereinander unterhalten. 127

Linda vergleicht das im IRC erlangte Wissen mit ihren bislang schon zu diesem Thema vorhandenen Erfahrungen und/oder Einstellungen. Dabei handelt es sich vermutlich um primär anhand von Medien wie dem Fernsehen generierte Konstruktionen, da Linda vorher davon sprach, daß ihr das Thema „ganz fremd" sei. Anhand des neu gewonnenen Einblicks in die Materie modifiziert Linda ihre bisherigen Meinungen. IRC wird also zu einem weiteren Medium, das Linda an ihrer Wirklichkeitskonstruktion beteiligt. Den Unterschied zwischen Fernsehen und IRC und sieht sie scheinbar in dem durch letzteres ermöglichten direkten und ungefilterten Einblick, den sie gewinnen kann, da die Subjekte hier selber sprechen, und nicht - wie in den sonstigen Medien - über etwas berichtet wird.

Eine andere Form der Horizonterweiterung, die mehr auf innermediale Realitäten bezogen scheint, ist die bereits angesprochene Exploration von Gruppen und Gemeinschaften im IRC - siehe auch Kategorie 4.4. zu IRC- Gemeinschaften.

A: (...)also die Leute in der Gruppe, wie die miteinander umgehen, allein das zu sehen, ist schon irgendwie...äh, für mich normalerweise nicht beobachtbar, und hat irgendwie entfernt auch noch mit' m Studium zu tun... halt Gruppierungen und was bei denen abläuft. Das ist sonst nicht so beobachtbar, weil Gruppen ja eher abgeschlossen sind, und hier hat man dann Einblick. 49

Linda interessiert sich für Gruppen sowie deren internes Verhalten und Umgang. Dabei handelt es sich um ein Gebiet, das ihr normalerweise nicht in der Form offenliegt, da nach ihrer Definition Gruppen ansonsten etwas geschlossenes sind, es sei denn, man wäre Mitglied der entsprechenden Gruppe. Woher Lindas Interesse daran stammt, ist nicht genau zu sagen, außer, daß Gruppen auch mit ihrem Politikstudium zu tun haben und Linda deshalb an Gruppenprozessen interessiert ist. Im IRC steht ihr die Möglichkeit offen, sich gerade an solchen Prozessen aktiv zu beteiligen. Dabei besteht ihre Strategie darin, sich selbst kurzfristig in die Gemeinschaft zu integrieren. Linda kann - durch Zurücknahme ihrer eigenen Art sowie durch Beobachtung der gruppeninternen Verhaltens- und Umgangsweisen und entsprechender Assimilation - am Gruppengeschehen teilhaben und somit sehen, „wie das da dann abläuft und wie die drauf sind". Sie kann „Teil einer anderen Gemeinschaft sein, an die(...) [sie] sonst nicht kommen würde", wobei es ihr - vermutlich im Sinne einer noch weiter reichenden Erkenntnis - recht ist, wenn die Gruppe ihr „nicht unbedingt (...) liegt".

A: Das hat eigentlich gar nicht soviel mit mir zu tun, äh, ich entferne mich eigentlich ein bißchen von mir und versuche, etwas ganz anderes...mich ganz woanders einzudenken und einzufühlen (...). 122

A: (...)auch ganz andere Formen kennenzulernen, eben abgesehen von meiner Denkweise und Weltsicht und auch Gefühlsleben und wie ich reagiere. (...) 123

Linda scheint an einem Einblick von innen interessiert zu sein. Sie nutzt die im IRC gegebene Möglichkeit, sich von der eigenen Alltagsidentität in wichtigen Facetten wie Denken, Gefühlswelt und Anschauungen zu entfernen. Gleichzeitig versucht Linda, sich der Art der Gruppe, so wie beobachtet, rational und emotional anzunähern und dadurch „mitmischen" zu können. Offenbar geht es ihr um aktive und integrierte Teilhabe. Handlungsgebundene Erfahrung könnte mehr Erkenntnis verschaffen als eine Beobachterposition von außen. Dies ist Horizonterweiterung im doppelten Sinne: Zum einen versucht Linda, ganz neue Denk- und Gefühlsformen anzunehmen, dehnt also ihre Sichtweise aus. Zum anderen gewinnt sie gerade durch die Entfernung von ihrem Alltagsselbst die Möglichkeit, durch Integration in die Gruppe von Innen heraus tieferen Einblick in die Art und Weise der jeweiligen Gemeinschaft zu erlangen. So vermuten wir, daß Linda als integriertes Gruppenmitglied z.B. auch Privatchats mit den Gruppenmitgliedern führt und sich damit an deren ' Weltsicht' authentischer annähert als durch reine Beobachtung.

Schwierig ist hier allerdings die Einordnung, inwieweit Linda ihre Beobachtungen und Erfahrungen mit einer innermedial bestehenden Gruppe und deren Anwendern auch auf den außermedialen Bereich überträgt. Wir nehmen an, daß die Erfahrungen, die Linda durch Handeln innerhalb einer IRC- Gruppierung gemacht hat - wie beispielsweise in einer sehr sozialen Gruppe, wo „jegliches Auf- den- Zahn- fühlen" unterlassen wurde - eher als Wissen über die innermediale Realität abgespeichert werden. Ideelle Dinge wie Denkweisen, Weltsicht oder auch die Aussagen der Fetischisten hingegen scheint sie auch in die außermediale Welt zu übertragen, wie aus der Aussage „ganz andere Formen kennenlernen, eben abgesehen" von ihren eigenen, hervorgeht.

Um exakt zu differenzieren, inwieweit das gerechtfertigt ist, bedarf es vermutlich genauerer und detaillierterer Angaben über die jeweilige Einblicksituation und das daraus erlangte Wissen.

Theoretisierende Zusammenfassung

Im IRC ist es den Anwendern möglich, ihren eigenen Horizont zu erweitern. Darunter wollen wir eine Ausweitung ihres geistigen Sichtfeldes und einen Zuwachs an Wissen verstehen, wobei die so gewonnenen Informationen bei der jeweiligen subjektiven Realitätskonstruktion Beachtung finden.

Es gibt in diesem Medium eine große Anzahl nach sehr verschiedenen Themen gegliederter Kanäle, in denen auch Bereiche behandelt werden, in die ein durchschnittlicher Mensch wohl wenig direkten Einblick hat. Darunter fallen beispielsweise mit sexueller Devianz zusammenhängende Channels. Im IRC besteht eine sehr einfache Zugangsmöglichkeit zu solchen Themen oder zu Personen, die in solchen Bereichen aktiv sind. Entweder man kann sie direkt ansprechen oder aber das Channelgeschehen beobachten. Dabei läßt sich Einblick in Gesprächsinhalte, themenbezogene Diskussionen, oder auch in virtuelles Handeln gewinnen. Sowohl die Diskurse als auch eventuelle Handlungen spielen sich in diesem Falle zwar innerhalb der virtuellen IRC- Realität ab, weisen aber starken Bezug zum außermedialen Bereich auf. Die User praktizieren im virtuellen Raum das, was sie auch außermedial tun, bzw. besprechen sie Themen mit Bezug zum Außermedialen. Beides ist ansonsten für Außenstehende nicht erfahrbar. Innermedial hingegen können Anwender ihre Neugierde befriedigen und sich gefahrlos einem Thema nähern. Die Perspektive auf die jeweils interessierende Thematik kann also durch IRC ausgeweitet werden. Die neuen Erfahrungen werden offenbar auch für die weitere, auch außermedial bezogene Realitätskonstruktion verwendet und können gegebenenfalls Einstellungen verändern, wie z.B. bei Lindas Toleranz gegenüber Fetischisten durch ihre direkte Erfahrungen mit ihnen größer wurde. Auch Tom hat nun eine skeptische Einstellung gegenüber massenmedialer Informationsvermittlung, was vor seinen diesbezüglichen Erfahrungen im IRC nicht der Fall war.

Ähnlich verhält es sich bei Privatchats mit Gesprächspartnern, die aus einem ganz anderen außermedialen Umfeld kommen, die anders leben, denken, handeln etc.. Dabei kann es sich um Menschen mit anderem Lebensstil handeln wie z.B. Robins Rocker, oder aber Personen aus anderen Ländern, wenn nicht gar anderen Kulturkreisen. All jenen Personen ist zu eigen, daß ein Zusammentreffen mit ihnen und darauf folgende Kontaktaufnahme im außermedialen Raum weniger wahrscheinlich ist. Im IRC läßt sich in direkter Auseinandersetzung im Gespräch viel über ihre Lebenswelt erfahren. Man kann sich dieser annähern, sich eingehend austauschen und so Einblick in etwas Fremdes gewinnen, folglich also den eigenen Horizont erweitern.

Es scheint gerade bei Themen, mit denen der Einzelne kaum oder keine Eigenerfahrung aufweisen kann, der Fall zu sein, daß durch Massenmedien wie Fernsehen und Zeitung vermittelte Informationen an der Konstruktion von Einstellungen oder ähnlichem zu diesen Gebieten beteiligt sind. Solche Informationen haben einen geringeren Grad an Authentizität, was unseren Gesprächspartnern gerade durch die im IRC gemachten, quellennäheren Erfahrungen klar wurde. Insgesamt sind Meinungen, die unvertraute Themengebiete betreffen, stärker von Stereotypen oder Klischees beeinflußt. IRC trägt zu einer Annäherung an ursprünglich fremde Sichtweisen bei und ermöglicht, innermedial Erfahrungen mit derartigen Bereichen zu machen. Auch wenn es sich dabei nicht um physische Erfahrungen unter Beteiligung aller Sinnesmodalitäten handelt, so sind sie doch authentisch und real. Im IRC sprechen die Subjekte selbst. Es erinnert ein wenig an die qualitative Herangehensweise, sich zur Exploration von Lebenswelten, individuellen Sinnzusammenhängen etc. mit den Subjekten selbst zu beschäftigen und damit Informationen aus erster Hand zu erhalten. Möglicherweise spielt auch bei der Kategorie Horizonterweiterung die bereits erläuterte Unbefangenheit eine Rolle. Durch sie können gerade Personen, die sonst gesellschaftlich mehr Probleme mit Veröffentlichung ihrer persönlichen Welt haben - wie man es z.B. bei einem Hang zu devianter Sexualität annehmen könnte - im IRC offener, unverschlüsselter und direkter zu ihren Neigungen stehen und darüber sprechen.

Allerdings bezieht sich die Nähe zur Quelle nicht ausschließlich auf fremde Seinsformen. Wie am Beispiel des Golfkrieges erläutert wurde, kann man sich im IRC auch andere Informationen direkt, unverfälscht und quellennah aneignen, ohne daß sie durch mediale Aufbereitung eine zwangsläufige Modifikation, wenn nicht sogar Manipulation erfahren.

Bis jetzt haben wir uns primär mit Bereichen beschäftigt, bei denen innermedial Belange des außermedialen Bereiches zur Sprache kommen oder abgebildet werden. Im IRC existieren jedoch auch Felder, bei denen eine Übertragung der Beobachtungen auf die physische Welt zweifelhaft ist, so z.B. bei den Umgangsformen in virtuellen Gemeinschaften. Das sind Bereiche, die sich durch die Tatsache, daß sie sich innerhalb des Mediums IRC abspielen, stark von der physischen Welt unterscheiden. Dennoch sind all solche Ereignisse mit realen Subjekten verbunden und von diesen ausgeführt. Man kann sogar anhand von aktiver Beteiligung - wie Linda - einen Einblick von innen heraus gewinnen. Dadurch bezieht sich die Erfahrung zwar gewissermaßen auf den innermedialen Horizont, ist aber aufschlußreich, obgleich sie für die physische Realität nicht direkt verwendbar ist.