5. DISKUSSION

Im Rahmen dieser Diskussion haben wir unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Zum einen wollen wir unsere Kategorien mit bereits bestehenden Theorien in Verbindung setzen, zum anderen kurz auf Beziehungen zwischen den Kategorien eingehen. Dabei legen wir auf einige Kategorien einen stärkeren Fokus, während andere einer integrativen Betrachtung unterzogen, wieder andere kaum oder gar nicht behandelt werden.
 

5.1. Die Kategorie Unbefangenheit im Lichte der Filtertheorie

Wir halten den Zustand der Unbefangenheit, der durch das Handeln im IRC bei unseren Gesprächspartnern begünstigt wurde, für sehr wichtig im Kontext der Kommunikation im IRC, weshalb wir diese Kategorie nochmals kurz aufgreifen und diskutieren wollen.
Die Kategorie der Unbefangenheit beschreibt einen Zustand unserer Interviewpartner, in dem Kommunikation in verschiedener Hinsicht viel unbefangener und offener vonstatten geht als im außermedialen Alltag. Dies würde im wesentlichen Kieslers et al. (1984) Enthemmungseffekten entsprechen. Kiesler et al. thematisieren aber vorwiegend die negativen Aspekte der Enthemmung, also antisoziales, beleidigendes Verhalten, meist in Form des Flaming. Durch die physische Abwesenheit des Interaktanden besteht keine Wahrnehmung non- und paraverbaler Hinweisreize mehr, so daß der andere als Mensch gewissermaßen vergessen wird. Zusätzlich finden auch gültige Normen keine Berücksichtigung. In unseren Interviews waren keine negativen Enthemmungseffekte zu beobachten. Einzig Linda in ihrer Rolle der vulgären Frau beschimpft möglicherweise auch andere User, da sie sich als derb und sprachlich vulgär bezeichnet. Direkt eingestanden hat sie es jedoch nicht. Allerdings kann man annehmen, daß ihr Handeln vom Hinwegsetzen über soziale Normen mitbedingt wurde. Sonst aber zeigen sich durchweg positive Seiten der Unbefangenheit, wie sie bei Kieslers et al. in Form von größerer Offenheit und Intimität nur am Rande erwähnt werden. In unseren Interviews bezieht sich Unbefangenheit an erster Stelle auf den Inhalt der im IRC geführten Gespräche. Dahingehend zeigten sich unsere Interviewpartner offener, vertraulicher und freizügiger bei der €ußerung von Themen, mit denen sie sonst zurückhaltender umgehen, seien es persönliche Probleme oder Intimes zur eigenen Person. Das scheint jedoch unserer Meinung nach weniger auf den Wegfall sozialer Hinweisreize und Normen denn auf die soziale Anonymität zurückführbar zu sein. Die jeweilige Person sitzt allein vor dem Computer, es besteht kein Blickkontakt zum anderen. Das scheint der springende Punkt zu sein, der €ußerungen intimer Natur besser zuläßt als in Kopräsenz. Die Relevanz des gegenseitigen Augen- Blicks dürfte aus der Mensch- und Tierwelt hinreichend als zum einen prekär, zum anderen intim und 'den Blick auf die Seele eröffnend' bekannt sein. Die im Netz getätigten€ußerungen könnten in FTF- Szenarien zu Beschämung und Peinlichkeit führen, eigene Unsicherheit ist für das Gegenüber wahrnehmbar. Ohne die Blicke anderer und geschützt durch Anonymität läßt sich offenbar Persönliches viel einfacher äußern. Auch das unbefangenere Kommunikationsverhalten, eigene€ußerungen weniger in Abhängigkeit von der Anitzipation der Reaktion des Gesprächspartners zu tätigen, scheint mit dem Alleinsein vor dem Bildschirm zusammenzuhängen. Linda und Robin schienen sich dahingehend selbstbezogener zu geben, während sie bei Kopräsenz ihr Handeln stärker auf die andere Person abgestimmt hätten. All das hat unserem Ermessen nach also weniger mit dem Mangel an sozialen Hinweisreizen und  kommunikationsregulierendem Gesprächsfeedback (Kiesler et al., 1984) zu tun als mit der fehlenden Ansicht des Gesprächspartners.
Wir erachten dieses Konstrukt der Unbefangenheit für sehr wichtig, da es in einige andere Bereiche hineinwirkt und der Kommunikation eine ganz andere Note verleiht, was in Anbetracht der Tatsache, daß es sich bei IRC um ein Kommunikationsmedium handelt, sicherlich von Bedeutung ist.

5.2. Vergleich der veränderten Zeitwahrnehmung und der außeralltäglichen mentalen Verfassung mit ähnlichen Phänomenen

An dieser Stelle soll es um die Diskussion der Kategorie 'Veränderte Zeitwahrnehmung und Erleben einer außeralltäglichen mentalen Verfassung' gehen, die uns im Kontext der IRC- Anwendung als noch unbekanntes Phänomen erscheint. Parallelen finden sich jedoch mit den von Dittrich untersuchten veränderten Wachbewußtseinszuständen (Dittrich, 1996) und dem³Flow- Erlebnis³ (Csikszentmihalyi, 1985, 1991).
Dittrich hat sich in seinen Forschungen mit veränderten Wachbewußtseinszuständen auseinandergesetzt und sowohl verschiedene Auslöser und Bedingungen als auch inhaltliche Formen derartiger Zustände untersucht (Dittrich, 1996). In der Psychologie unterscheidet man verschiedene Bewußtseinszustände, die einerseits von Stärke und Geschwindigkeit der Bewußtseinstätigkeit und andererseits von Klarheit und Deutlichkeit abhängig sind. Dämmerzustand, Hypnose, Meditation werden beispielsweise zu den alterierten Bewußtseinszuständen gerechnet (vgl. Dorsch, 1996).
Ein veränderter Wachbewußtseinszustand kann sich in verändertem Zeiterleben manifestieren (Ludwig 1972, nach Dittrich 1996), was sowohl bei Linda als auch bei Robin der Fall war. Beide erlebten die IRC- Zeit als deutlich kürzer, als sie de facto vergangen war. Der Grund dafür lag bei Robin in der Vertiefung in ein angeregtes Gespräch, das die äußeren Umstände in den Hintergrund treten ließ. Lindas Zeitwahrnehmung änderte sich durch das Eingebundensein in multiple Handlungsstränge und durch Aufmerksamkeitszentrierung auf das innermediale Geschehen. Beide Interviewpartner wurden von ihrer präferierten IRC- Tätigkeit in so starkem Maße beansprucht, daß nicht mehr die physische Welt der saliente Bezugsrahmen war, sondern die virtuelle Umgebung. Auch das Zeiterleben erfuhr eine Veränderung. Verändertes Zeitempfinden ist jedoch nur als ein erster Hinweis auf einen veränderten Bewußtseinszustand zu betrachten, nicht jede andersartige Zeitwahrnehmung ist damit gleichzusetzen.
Neben pharmakologischen Substanzen führt Dittrich auch psychologische Verfahren zur Auslösung veränderter Wachbewußtseinszustände an, wie z.B. Meditation, Trance- Tänze archaischer Kulturen oder Schlafentzug. Auch können verschiedene Formen der³Reizüberflutung³ (Dittrich 1996, S.71) Auslöser derartiger Zustände sein. Hier zeigt sich - unserer Ansicht nach - eine Korrespondenz mit Lindas multipler Handlungsform, die wir als 'Input- Output- Flut' interpretiert haben. Lindas Handeln ist von Simultaneität und Dynamik geprägt. Sie läßt sich von ihren unterschiedlichen, parallel verlaufenden Handlungen in verschiedenen Kontexten vereinnahmen. Die 'Reize' möchten wir an dieser Stelle mit all dem gleichsetzen, was während dieser Chatsitzung gleichzeitig auf sie einwirkt und worauf Linda Bezug nimmt. Ihre Wahrnehmung bezieht sich zwar - anders als bei vielen Formen der Reizüberflutung - nur auf einen Sinneskanal, dennoch scheint Linda bei diesem Handeln in eine ungewöhnliche Verfassung zu geraten.
Im Verlauf der Chatsitzung tritt ein Gefühl von Entgrenzung auf, worin das eigentlich Bemerkenswerte ihres Erlebens liegt. Hier scheint sich ein Zusammenhang mit Formen veränderter Wachbewußtseinszustände zu zeigen. Ludwig konstatiert Gefühle der Körperlosigkeit, in deren Verlauf es - ähnlich wie bei der Meditation - zur Bewußtseinserweiterung kommen kann (Ludwig, 1972, nach Dittrich 1996). Auch Lindas Medienerleben, das sie als Grenzüberschreitung des sie sonst Formenden bezeichnet, weist eine ähnliche Tendenz auf. Einen großen Anteil daran hat die Virtualität, die das Gefühl vermitteln kann, in den virtuellen Räumen des IRC die eigenen, körperlich- physischen Grenzen hinter sich zu lassen. Dadurch wird multiples Handeln und das Eintauchen in die 'Cyberdimension' ermöglicht. Insofern scheint Lindas Entgrenzungserleben - auch wenn sie es vermutlich weniger physisch verspürt - Gemeinsamkeiten mit dem von Ludwig beschriebenen Gefühl der Körperlosigkeit zu haben.
Möglicherweise stellt Lindas Selbstentdeckung eine in diesem Rahmen auftretende Form der Bewußtseinserweiterung dar, zumal auch verminderte Selbstkontrolle - durch die Linda erst Teilaspekte ihres Selbst entdecken kann - ein Merkmal veränderter Wachbewußtseinszustände sein kann (Ludwig, 1972, nach Dittrich 1996). Ihre€ußerungen und virtuellen Handlungen unterliegen nicht mehr der gleichen Selbstkontrolle, wie sie bei außermedialem Handeln zum Zuge kommt. In FTF- Situationen ist Lindas Handeln vermutlich vermehrt auf Rollenvorgaben, Normen und die sie umgebenden Personen abgestimmt. Im IRC hingegen läßt sie ein Herausströmen dessen zu, was heraus will, wodurch kreative Einfälle und Selbstentdeckung auftreten können. Unter Berücksichtigung der Meditation als verbreitete Form von veränderten Wachbewußtseinszuständen, die vor allem das Ziel hat, kurzfristig einen als angenehm erlebten Bewußtseinszustand herbeizuführen, der langfristig gesehen zur persönlichen Reifung und seelischer Gesundheit beiträgt (Scharfetter, 1979, nach Dittrich 1996), könnte man bei Linda spekulieren, daß ihr Handeln auf solche Effekte abzielt, gerade weil sie das Ausspielen unterschiedlicher Charaktere thematisiert, die bislang unbekannte Selbstinhalte zu Tage treten lassen. Denn für den Versuch, sich selbst zu erkennen und die eigene Identität zu gewinnen, werden nicht selten Meditationsverfahren und somit veränderte Wachbewußtseinszustände angewandt. Auch der Cyberspace- Kritiker John Seabrook spricht der Konzentration auf den Bildschirm und die dahinterliegende Cyberwelt etwas Meditatives zu (Seabrook, 1998).
Trotz der angeführte Parallelen möchten wir nicht die Behauptung aufstellen, daß Handeln im IRC den Bewußtseinszustand eindeutig zu verändern vermag. Uns erscheint die unidirektionale Argumentation eines kausalen Auslösers solcher Zustände der Komplexität der zusammenspielenden Größen, aber auch dem subjektiven Erleben und der steuernden Rolle des Subjekts nicht angemessen. Dennoch kann im Verlaufe von IRC- Handlungen eine mentale Verfassung erlebt werden, die veränderten Wachbewußtseinszuständen in bestimmter Hinsicht ähnelt.
Das Erleben der außeralltäglichen Verfassung läßt sich auch unter dem Aspekt des Flow- Erlebens nach Csikszentmihalyi (1985, 1991) betrachten. Beim Flow handelt es sich um ein positives Erlebnis, bei dem das Handeln durch Aufmerksamkeitsbündelung und Versinken in die entsprechende Tätigkeit einer³inneren Logik³ (Csikszentmihalyi, 1985, S. 59) unterliegt. Damit einher geht eine Aufhebung des Zeitgefühls. Sowohl veränderte Zeitwahrnehmung als auch ein Versinken in die Tätigkeit ließ sich, wie bereits erwähnt, bei Linda und Robin feststellen.
Lindas ungesteuerte€ußerungen und Handlungen in den verschiedenen, gleichzeitig aktuellen Interaktionen sprechen für genau diese³innere Logik³, der das Handeln während eines Flow- Erlebnisses unterliegt.
Das Phänomen der veränderten Zeitwahrnehmung und des Erlebens einer außeralltäglichen mentalen Verfassung weist demnach sowohl€hnlichkeiten mit veränderten Wachbewußtseinszuständen als auch mit dem Flow- Erleben auf.
Abschließend ist zu bemerken, daß die angesprochenen Erlebnisse im IRC potentiell erfahren werden können, keineswegs aber zwangsläufig eintreten müssen. Um präziseren Aufschluß über das Erleben ungewöhnlicher Bewußtseinszustände zu erhalten, sind spezielle Studien notwendig, die sich ausschließlich mit derartigen Phänomenen beschäftigen. So könnte ein genauer und tieferer Einblick in diese Erlebensform und damit zusammenhängende Handlungsweisen erreicht werden.

5.3. Identitäts- und Selbstdarstellungserfahrung im virtuellen Raum

Nach Giddens sind Medien an der Identitätsentwicklung beteiligt (Giddens, 1991). Das zeigte sich insbesondere bei Tom, der davon spricht, durch IRC seine Persönlichkeit gefunden zu haben. Dieser Einfluß auf das Selbst ist im Hinblick auf ein Verständnis von Identität als Konstruktionsleistung im Zusammenhang mit zwischenmenschlicher Interaktion von Bedeutung. Im Unterschied zu den Medien, die sich gesellschaftlich etabliert haben, wie z.B. das Fernsehen, bietet das Kommunikationsprogramm IRC seinen Nutzern eine wesentlich aktivere Rolle. Man rezepiert nicht bloß, sondern kann sich an Echtzeit- Interaktion mit anderen Menschen beteiligen. Der Rahmen dieser Interaktion gestaltet sich, medial bedingt, auf ganz andere Weise als FTF- Situationen. Die mediale Präsentationsform der eigenen Person als Persona, die hohe Anonymität und die Virtualität der Umgebung wirken sich auf die Selbstdarstellung und Identitätsbildung aus. Man selbst und die anderen erscheinen im IRC als Zusammenspiel von Nicknamen und textbasierten Aussagen. Einerseits fehlen visuelle Anhaltspunkte, die Auskunft über den Interaktionspartner geben können und zu einer Eindrucksbildung beitragen. Andererseits bieten Leerstellen die Gelegenheit, sich anonym in einer Öffentlichkeit zu bewegen und sich anders darzustellen, als man sich in der außermedialen Welt wahrnimmt und von anderen rezepiert wird. Festzuhalten bleibt, daß nur ein Teil des Selbst von der virtuellen Identität repräsentiert werden kann.³Die Identität verliert somit definierte Grenzen, wird dehnbar und variabel.³ (Angerer, 1993, S.744). Im weiteren möchten wir uns auf die Diskussion folgender Punkte beschränken: die Veränderung einzelner Personenmerkmale, die Realisierung von unterrepräsentierten Selbstaspekten, die Konkretisierung des Selbst als multidimensionaler Bedeutungsraum und die Einnahme fremder Perspektiven.

Die Veränderung einzelner Personenmerkmale - z.B. der Geschlechtswechsel - kann als Strategie eingesetzt werden, um als Frau themenspezifische Informationen einzuholen und sexuellen Anspielungen seitens männlicher Teilnehmer vorzubeugen - wie es bei Linda zu beobachten war. Nicola Döring nennt das ³selbstdarstellerisch defensiv³ (Döring, 1998, S. 246). Auf diese Weise kann man sozialen Kategorisierungen und Stereotypisierungen entgehen (Döring, 1998). Der Geschlechtertausch kann aber auch im Kontext mit der Akzeptanz weiblicher respektive männlicher  Persönlichkeitsanteile einher gehen, oder aber, um unmittelbar Erfahrungen darüber zu sammeln, welche Rolle das Geschlecht als soziale Konstruktion innerhalb einer Interaktion spielt. Nach Sherry Turkle  kann man nicht nur beobachten, sondern erfahren, ³wie man sich fühlt, wenn man zum anderen Geschlecht gehört (...).³ (Turkle, 1996a, S. 327). Das Einfühlen in das andere Geschlecht fand auch Linda sehr interessant. Bei der Konstruktion einer neuen Identität als Mann konnte man beobachten, daß es ihr unter anderem darum ging, ein entsprechend ³modifiziertes Sozialverhalten³ (Döring, 1998, S.248) an den Tag zu legen. Möglicherweise geht es dabei auch um³die Übernahme von expansiven und aggressiven Verhaltensweisen und Selbstinterpretationen, die traditionell als 'männlich' - und damit gleichzeitig als 'unweiblich' - gelten und deren Exploration für Frauen 'in real Life' wegen des (erlebten oder antizipierten) negativen Feedbacks erschwert ist³ (Döring, 1998, S.249).

In der Annahme bestimmter Rollen können Selbstaspekte, die im außermedialen Leben unterrepräsentiert oder weitgehend ausgeblendet sind, in der als sicher empfundenen IRC- Umgebung exploriert werden. (Döring, 1998). Dies zeigte sich unserer Meinung nach insbesondere bei Linda, die bei ihrer Darbietung als derbe, burschikose oder ganz liebe Frau die Extreme ihres Persönlichkeitskontinuums im IRC ausleben kann. Diese Art der Vervollständigung von Persönlichkeitsanteilen innerhalb des Mediums, die in FTF- Situationen zurückgehalten werden, ist mit mehreren Vorteilen verbunden. Negativsanktionen seitens anderer Teilnehmer, die unter Umständen bezüglich aggressiven Verhaltens auftreten könnten, werden von Linda vermutlich nicht weiter ernst genommen, weil sie mit keinerlei schwerwiegenden Konsequenzen für ihr außermediales Leben verbunden sind. Ihre sorgfältiger ausgearbeiteten Selbstkonzepte, die außermedial eine größere Rolle spielen dürften, werden nicht in Frage gestellt, da sich die Negativsanktionen einerseits nicht auf diese Selbstanteile beziehen, andererseits Linda in keinen Konflikt mit sich selbst gerät. Innerhalb des Mediums scheint von ihrer Norm abweichendes Handeln unter anderem eine Art Ventilfunktion zu haben und wird explizit von ihren Kernselbstkonzepten abgegrenzt. Linda kann sich demnach im Medium ausprobieren und sowohl Selbstaspekte als auch Gemütszustände auf eine Weise zum Ausdruck bringen, die ihr im außermedialen Bereich als unpassend erscheinen. ³Das Netz kann somit als Schutzraum zum Erproben ungewohnter Identitäten genutzt werden.³ (Döring, 1998, S. 256). Sherry Turkle spricht im Zusammenhang von MUDs als ³potenziertes Rollenspiel³ (Turkle, 1996 a, S. 321) vom Ausspielen eines Aspekts des eigenen Ichs, so daß es im Kontext des Spiels als eigenständiges Ich in Erscheinung treten kann (Turkle, 1996a). Linda spricht davon, die Rolle einer derben Frau einzunehmen. Obwohl IRC nicht als ausdrückliches Spiel verstanden werden kann, läßt sich Turkles Aussage in diesem Fall auf Linda übertragen. In Toms Fall könnte man, was seine sexuellen Neigungen betrifft, von einer Art Coming Out sprechen, da ihm das Zusammentreffen mit Gleichgesinnten half, seine bis dahin unter Umständen marginalisierte sexuelle Identität auch im außermedialen Bereich zu realisieren und öffentlich darzustellen. Tom hat für unterentwickelte Selbstaspekte Unterstützung finden können. Nicola Döring schreibt dazu:³Das mit marginalisierten Identitäten einhergehende Gefühl des (aversiven) Anderssein, der Isolation und der Entfremdung von der Gesellschaft wird erst gemildert, wenn man mit Gleichgesinnten in Kontakt kommt, die dem gesellschaftlich abgewerteten Selbst- Aspekt das Stigma nehmen und ihn darüber hinaus positiv z.B. mit Gefühlen von Stolz und Unabhängigkeit konnotieren³ (Döring, 1998, S.232).

Lindas Selbstentdeckungsprozeß stand im Zusammenhang mit dem parallelen Ausleben unterschiedlicher Charaktere. Die Selbstentdeckung hängt in Lindas Fall eindeutig mit der Virtualität des Mediums - bzw. mit der Programmoberfläche des IRC zusammen, die ihrem Anwender das parallele Agieren in verschiedenen Chatfenstern ermöglicht. Man kann nahezu simultan durch die unterschiedlichen, teils unbekannten Selbstaspekte rotieren. Diese Erfahrung macht in besonders starkem Maße deutlich, daß das Selbst nicht als rigide Einheit aufgefaßt werden kann, sondern daß der Mensch mehrere, unter Umständen völlig gegensätzliche Aspekte in sich vereint. Es ist demnach die Multiplizität, die Identität ausmacht.³Die Menschen, die neue Identitäten in virtuellen Landschaften ausprobieren, wollen Aspekte ihrer selbst kennenlernen, die sie im 'wirklichen Leben' nicht artikulieren können³ (Turkle, 1996b).

Nach Sherry Turkle und Kenneth Gergen ist das Selbst als Konstruktion und nicht als etwas substanzielles zu verstehen (Gergen, 1990, Turkle, 1995). Überträgt man den von Gergen geprägten Begriff der 'sozialen Sättigung' auf computervermittelte Kommunikation, zeigt sich bei unseren Ergebnissen, daß es bei der Einnahme fremder Perspektiven im wesentlichen darauf ankommt, auf was und wie man sich einlassen möchte. Robin hat uns am Beispiel des Rockers gezeigt, daß es zumindest einer ihm entsprechenden Umgangsform mit dem Medium bedarf, damit er sich überhaupt mit fremden Lebenswelten auseinandersetzt. Ob Gergens Vision von ³uns als pan- kulturelle Mitglieder einer Weltgesellschaft³, in der das³Selbst als Beziehung die Chance für eine weltweite Harmonie³ begründet, Utopie ist oder sich verwirklicht, bleibt abzuwarten (Gergen, 1990, S.198).

5.4. IRC-generierte Beziehungen als Teil des sozialen Netzwerks

Ein Modell, das sicherlich - zumindest Teilaspekte - einiger unserer Kategorien zu integrieren vermag, ist der Begriff des sozialen Netzwerkes, das sämtliche sozialen Beziehungen einer Person umfaßt. Wir werden uns hier jedoch auf die Betrachtung von persönlichen Beziehungen beschränken, also nur ein partiales Netzwerk behandeln (Wolfe 1970, nach Röhrle, 1994).
Durch IRC fiel es unseren Interviewpartnern9 leicht, neue Bekanntschaften und damit auch persönliche Beziehungen zu knüpfen. Diese lassen sich im Rahmen der Charakterisierung von Netzwerken in starke oder schwache Verbindungen unterscheiden (Granovetter, 1973). Unabhängig von Stärke oder Schwäche der Beziehung gelten persönliche Beziehungen als wichtige Komponenten zu subjektivem Wohlbefinden und Persönlichkeitsentwicklung (Diewald, 1991, nach Döring, 1998). Starke Bindungen sind nach Diewald (1991, nach Döring, 1998) durch große Intimität, viele gemeinsame Interessen sowie hohes Engagement und zeitlichen Aufwand gekennzeichnet. Schwache Bindungen hingegen erfordern weniger Zeitaufwand und Engagement und zeichnen sich durch geringere Intimität und weniger gemeinsame Interessen aus. In Abhängigkeit von ihrer (unter anderem) Stärke und Schwäche kann man aus seinen Beziehungen unterschiedliche Formen emotionaler und sozialer Unterstützung10 sowie informeller Hilfen schöpfen. Unter diesem Aspekt werden wir nun das um IRC- Beziehungen erweiterte Netzwerk unserer Interviewpartner betrachten. Dabei gehen wir davon aus, daß Netzbeziehungen zwar unter anderen Bedingungen als sonst entstehen und vertieft werden, daß sie aber ob des - oft auch nur anfangs - nicht vorhandenen FTF- Kontaktes nicht prinzipiell als minderwertig eingestuft werden dürfen (zu dieser Kontroverse siehe auch Döring, 1998). Denn die 'Wertigkeit' ist ganz von den subjektiven Konstruktionen des Individuums abhängig.
Für Tom sind seine IRC- Beziehungen zu einem wichtigen und großen Teil seines sozialen Netzwerkes geworden, für die er viel Zeit und noch mehr Engagement aufwendet. Ob sich die im IRC- und Computerbereich bestehende Interessengleichheit auch auf andere Bereiche ausdehnt, können wir nicht beurteilen. Wir nehmen allerdings an, daß allein die Eingebundenheit in die Clique auch eine Ausweitung in andere Gebiete mit sich bringt. Über seine IRC- Kontakte erreicht Tom die Befriedigung vieler sozialer Bedürfnisse: Er erfährt z.B. soziale Integration und kann durch seine IRC- Operatorposition und seine technischen Kompetenzen das Bedürfnis nach Anerkennung stillen11. Tom gibt an, durch IRC nicht nur Freunde, sondern sogar Partnerinnen für Liebesbeziehungen gewonnen zu haben, was dafür spricht, daß sich bei Tom sicherlich einige seiner IRC- Kontakte zu engen, sehr persönlichen Bindungen entwickelt haben. Auch der mit vielen³Ircern³ vorhandene FTF- Kontakt sowie sein starkes Engagement bezüglich des Mediums sprechen für diese Annahmen. Hier wird deutlich, daß ein gewisses Maß an Engagement vonnöten ist, um das in den medialen Beziehungen liegende Potential emotionaler und sozialer Unterstützung genießen zu können. Linda, die im Kontext von Kontaktknüpfung nur zu minimalem und kurzfristigem Aufwand bereit ist, scheint auch nur sehr kurzzeitig und vergleichsweise oberflächlich die Gratifikationen eines beispielsweise Gruppenmitgliedes zu erfahren.
IRC scheint eine sehr wichtige Rolle für Toms Persönlichkeit hinsichtlich der eigenen Identitätsfindung und dem Erlangen von Selbstwertgefühl gespielt zu haben, wie in der Kategorie zu Bewältigung und Persönlichkeitsfindung dargestellt. Allerdings liegt im Potential des IRC, für Beziehungsbildung oder Integration in soziale Gebilde einfachere Rahmenbedingungen zu liefern als außermedial vorzufinden, auch die Gefahr des Eskapismus.
Sarah hat unter Zuhilfenahme von IRC ihren Bekanntenkreis erweitert. Dieses Handeln steht im Kontext ihrer Scheidung, die man als ein kritisches Lebensereignis auffassen kann. Sarah konnte ihr soziales Netzwerk um Menschen erweitern, die besser zu ihrer neuen, momentanen Lebenssituation passen. Dabei ist nicht nur die angenehme Art, mit diesen Leuten ihre Zeit zu verbringen, von Wichtigkeit. Die Ausdehnung ihrer Netzwerkperipherie ist auch hilfreich bei Angeboten neuer sozialer Rollen (Gräf 1997) und Neuorientierungen (Bankoff, 1983, Walker, MacBride & Vachon 1977 , alle nach Röhrle 1994). Das ist besonders gut vorstellbar bei der Beziehung zu Cindy, der ebenfalls allein erziehenden Schottin. Vielleicht orientiert sich Sarah daran, wie diese ihr Leben unter ähnlichen Bedingungen meistert, sieht, was sie selbst noch ändern könnte und welche sozialen Rollen für sie noch besetzbar wären. Sarahs zum Netzwerk hinzugekommene Beziehungen dienen aber auch einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Scheidung und den damit zusammenhängenden Problemen. Bedingt auch durch die Unbefangenheit kann sie freizügig ihr Inneres offenbaren und dazu durchdachte Rückmeldungen empfangen, was für die Bewältigung der Trennung offenbar sehr hilfreich war. Inwieweit diese Verbindungen stark oder schwach sind, ist schwer zu sagen, da es sich hier um eine Mischform hinsichtlich der oben aufgeführten Kriterien handelt: Die Beziehungen sind zwar von Vertraulichkeit gekennzeichnet, aber Zeitaufwand, Engagement und gleiche Interessen kaum zu beurteilen.
Robin möchte unter Zuhilfenahme des Kommunikationssmediums seinen Bekanntenkreis und somit sein soziales Netzwerk erweitern. Dabei kommen ihm die einfachen Möglichkeiten der Kontaktknüpfung im IRC zugute. Hinsichtlich der Kontakte unterscheidet Robin Freundschaften und Bekanntschaften, was in seiner Konstruktion abhängig von der Intimität und Tiefe der Beziehung ist. Diese zu erreichen wird durch die medial begünstigte Unbefangenheit unterstützt. Nutzer, mit denen solch eine Intimität zustande kommt, trifft Robin auch in direkter Begegnung. Somit zählen die als solche titulierten Freundschaften vermutlich eher zum Bereich der engen, die Bekanntschaften, die zumeist innermedial gepflegt werden und von weniger Vertraulichkeit gekennzeichnet sind, zum Bereich der schwachen Bindungen.
Es gehört zu den Stärken der schwachen Bindungen (Granovetter, 1973), daß durch sie Kontakte mit Menschen außerhalb des engeren Kerns des sozialen Netzwerkes, der zumeist von €hnlichkeit in Erziehung, Schicht, Einstellungen gekennzeichnet ist, zustande kommen (Gräf, 1997, Diewald, 1991, nach Döring 1998). Auch Robin knüpft im IRC direkt Kontakte, so z.B. mit dem Rocker oder der 40- jährigen Finanzbeamtin, die in seinem außermedialen Umfeld nicht entstanden wären. Hier ist es also das Medium, das in dieser Hinsicht ähnliche Gratifikation liefert wie die schwachen Bindungen. Denn über IRC können, wie wir in der Kategorie Horizonterweiterung nachgewiesen haben, Menschen in Verbindung treten, die aufgrund der Andersartigkeit von Lebenssituation und Lebensstil sonst nicht miteinander in Dialog hätten treten können. Bei solchen Beziehungen handelt es sich wahrscheinlich um schwache Bindungen, die direkt das Kennenlernen unbekannter Umweltausschnitte und Perspektiven ermöglichen. Es wird aber vermutlich durch IRC nicht zu einer umfassenden Durchmischung aller sozialen Milieus kommen, die, neben anderen, zwischen den Polen unten und oben sowie modern und traditionell angesiedelt sind (Vester, v. Oertzen, Geiling, Hermann, Müller, 1993). Gerade Gesellungsweisen, die bei dieser Aufteilung weiter unten angesiedelt sind, werden wohl eher vermindert im IRC vertreten sein. Denn die Voraussetzung dafür wäre das Interesse an dieser Art Beschäftigung, ein Computer und ein Internetanschluß, was z.B. im Arbeitermilieu eher selten der Fall sein dürfte. Auch traditionsorientierte Lebensstilgruppen meiden bzw. kritisieren vermutlich das Internet und seine Anwendungen. Eine Perspektivendurchmischung könnte also am ehesten zwischen den unterschiedlichen Lebensstilgruppen stattfinden, innerhalb derer neben dem entsprechenden sozio- ökonomischen Status auch technische Kompetenz und Interesse an medialem Handeln gegeben ist. So kann in diesem Rahmen Robin zu des Rockers Lebensstil und damit einhergehenden Einstellungen Erfahrung gewinnen, was für viele andere Bereiche von beispielsweise sexuellen Neigungen über Musikerdasein bis zum Satanisten ebenso vorstellbar ist.