Volker von Prittwitz

Außenpolitik in der Weltgesellschaft

Territoriale Integrität – Selbstbestimmung - Kooperation

Im aktuellen Kaukasus-Konflikt stoßen konkurrierende Machtansprüche aufeinander. Die russische Seite einerseits und die US-geführte NATO andererseits verstärken dabei jeweils ihre Konfliktsicht im Sinne potentieller Feinde. Die Folge ist eine riskante, in jedem Fall höchst unproduktive Konfrontation. Statt eine globale politische Architektur zu entwickeln, in deren Rahmen Sicherheitsprobleme relativiert und nach gemeinsamen Prinzipien bewältigt werden können, fallen die Beteiligten in lange überwunden geglaubte Denk- und Verhaltensmuster eines Kalten Kriegs zurück. Danach bestimmen nicht globale Wohlfahrtsziele, etwa das Streben nach wirtschaftlicher Entfaltung, Armutsbekämpfung und wirksamem Klimaschutz, vorrangig die gegenseitigen Beziehungen, sondern das Streben nach territorialer Macht und militärischer Stärke.

In dieser Situation ist es bemerkenswert, wie leicht, ja geradezu begeistert Regierungen verschiedener EU-Mitgliedsländer auf den politischen Zug in die vertraut erscheinende Welt des Kalten Krieges aufspringen. Vor allem aber verwundert es, dass bisher eine dezidierte politische Gegenposition gegen diesen Trend fehlt. Verantwortlich hierfür dürfte nicht nur sein, dass einige Akteure, so die deutsche Kanzlerin, durch abgewogenes Verhalten in der Vergangenheit beträchtliches außenpolitisches Renommee gewonnen haben, eine personelle Kritik daher schwer fällt. Auch ist es bisher nicht zu einer kritischen Diskussion von Leitkonzepten gekommen, mit denen die Beteiligten agieren. Dies gilt vor allem für das Konzept der Territorialen Integrität.

 

Territoriale Integrität

Nach der Stellungnahme einer Reihe von Regierungen aus NATO-Ländern verletzt die russische Anerkennung der abtrünnigen Regionen Abkhasien und Süd-Ossetien die territoriale Integrität Georgiens. Dies widerspreche dem Völkerrecht und sei inakzeptabel.

Zeitgeschichtlicher Rahmen für die Formung des Konzepts der Territorialen Integrität waren Entspannungsbemühungen im Kalten Krieg, insbesondere die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit von Helsinki. Die 1975 veröffentlichte KSZE-Schlussakte enthielt als viertes von zehn Prinzipien das Prinzip der Territorialen Integrität, das sich implizit gegen Interventionen des Warschauer Pakts nach dem Muster der Intervention in der CSSR 1969 richtete. Gerahmt wurde dieses Prinzip allerdings durch andere Prinzipien, so vor allem das Prinzip der souveränen Gleichheit und das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen. Territoriale Integrität war also ein Element einer übergreifend ausgehandelten Sicherheitsordung im Ost-West-Konflikt, mit der die prinzipielle Souveränität aller (auch totalitärer) Staaten gleichgesetzt und die entstandene sensible Gleichgewichtsstruktur zwischen Ost und West stabilisiert werden sollte.

Diese Sicherheitsarchitektur hat mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ihre fundamentale Bedeutung verloren. Das Prinzip der territorialen Integrität kann nun auch unabhängig von anderen Leitüberlegungen gerade von kleineren Ländern zu ihrem Schutz für sich reklamiert werden – dementsprechend betonen aktuell gerade kleinere Länder wie etwa Georgien, Estland oder die Ukraine das Prinzip. Geblieben allerdings ist, dass damit jeder Territorialstaat, unabhängig von seiner inneren Ordnung, als souverän und nicht angreifbar proklamiert wird. Diese Interpretation, die sich ideengeschichtlich bis zu Jean Bodins Konzept der absoluten staatlichen Souveränität, das heißt bis in den Absolutismus, zurückführen lässt, wird inzwischen auch von großen Autokratien genutzt. So versuchte beispielsweise China Kritik seiner rigirosen Tibetpolitik mit dem Hinweis auf seine territoriale Integrität abzublocken. 

Mit dieser Ambivalenz des Konzepts korrespondiert eine zunehmend beliebige Umgangsweise seit den 1990er Jahren: So haben diverse Akteurkonstellationen um die USA, so die NATO-Länder, die Anti-Irak-Koalition Anfang der 90er Jahre, die in Afghanistan engagierten westlichen Länder und die Gruppe der Willigen im Zweiten Irakkrieg, das Konzept der Territorialen Integrität in mehreren Fällen (Serbien/Kosovo, Irak, Afghanistan) schlicht "außer Kraft gesetzt" und dort militärisch gestützte Veränderungen nach ihrem Willen realisiert. Setzt nun Russland Veränderungen in seinem "Vorhof" - die Assoziation zum traditionellen Machtverhalten der USA in Mittelamerika liegt nahe - nach seinem Willen durch, so wird dies von den NATO-Ländern unisono und lautstark als nichtakzeptabler Bruch des Völkerrechts bezeichnet - ein eklatanter Widerspruch, den Russland mit deutlichem Genuss immer wieder öffentlich präsentiert.

Angesichts dieser doppelten Ambivalenz (in Inhalt und Umgangsweise) erscheint es zwar als politisch bequem, sich allein auf Territoriale Integrität zu berufen; für diese Bequemlichkeit ist allerdings ein hoher politischer Preis zu zahlen, Fehlkommunikation und die Gefahr von Konfrontation, wie wir sie zur Zeit erleben.

 

Das Recht auf Selbstbestimmung

Sich ausschließlich am Kriterium der Territorialen Integrität zu orientieren, ist auch aus einem anderen Grunde problematisch: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts haben sich neue soziale und politische Kapazitäten entwickelt, die eigenständig politisch gewichtet werden sollten. Hierzu gehört vor allem, dass nun nicht nur in etablierten Demokratien, sondern auch in Übergangsprozessen der Staatenbildung der Wille der Bevölkerung Bedeutung erlangt. Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker ist zwar in der UN-Menschenrechtscharta formell niedergelegt; politisch sich zu verwirklichen beginnt es aber erst seit dem Ende des Ost-West-Konflikts: Schon, dass sich die DDR friedlich und gestützt auf eigene Institutionen der BRD anschließen konnte, war ein Durchbruch. Dass sich die Slowakei friedlich von Tschechien trennen konnte und viele andere Länder im Umfeld der früheren Sowjetunion frei bilden konnten, gehört hierzu. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gegenüber Serbien war nicht nur ein Streich der NATO gegen eine Machtposition Russland, sondern auch ein Fortschritt im Sinn von Demokratisierung. Denn der weit überwiegende Anteil der Bevölkerung im Kosovo ist heute albanisch und fühlt sich erst seit der Unabhängigkeit politisch bei sich selbst. Ähnlich sind die Freudentänze der Bevölkerung in Abkhasien und Südossetien angesichts der russischen Anerkennung ihrer schon lange ausgesprochenen Unabhängigkeit zu interpretieren.

Sprechen führende Politiker etablierter Demokratien angesichts dessen von nichts anderem als einem Völkerrechtsbruch der Territorialen Integrität, ist dies, gelinde ausgedrückt, politisch unsensibel. Nach Kriterien von Demokratie und offener Gesellschaft ist es skandalös: Machtpolitik muss zwar immer in ihren Instrumentalisierungspotentialen analysiert werden; wenn sich der freie Willen zur Selbstbestimmung von Hunderttausenden oder Millionen von Menschen durchsetzen kann, ist dies aber ein enormer Fortschritt.

Russland, ein politisches System zwischen Demokratie und Autokratie, hat zwar keineswegs gezielt als Wegbereiter von Demokratie agiert; es geht ihm vielmehr um eigenes Renommee und Macht. Aber es stärkt insofern Unabhängigkeitsbewegungen, als nun das Recht auf Selbstbestimmung auch praktisch auf die politische Agenda gesetzt wird. Insofern (und nur insofern) kann von einem Glücksfall der Demokratisierung, von einer prozessual entstandenen und genutzten Gelegenheit gesprochen werden.

 

Kooperation in der sich bildenden Weltgesellschaft

Das Konzept der Territorialen Integrität war in der Zeit des Ost-West-Konflikts, zusammen mit anderen noch wichtigeren Prinzipien, ein Konzept der Kriegsvermeidung. Inzwischen hat es diese Funktion allerdings weitgehend verloren: Die Akteure interpretieren es nämlich in so unterschiedlicher Weise, dass hierdurch genau das Gegenteil, Fehlkommunikation und militärische Konfrontation, entsteht.

Angesichts dessen sollte das Prinzip als respektabel ausgewiesen, aber auch relativiert werden. Anstatt in eine neue Ost-West-Konfrontation mit inhaltsarmen Formeln der Machtkonfrontation zu gleiten, sollte mit aller Kraft und Umsicht versucht werden, zu einer globalen wie regionalen Kooperation zu kommen. Den Rahmen für einen derartigen Ansatz bilden deutliche Tendenzen zur Bildung einer Weltgesellschaft, so etwa die wachsende weltwirtschaftliche Verflechtung, die wachsende soziale Verflechtung durch Migration, die wachsende informationstechnische Verflechtung, etwa durch das Internet, zunehmend globaler Kulturaustausch und Sport. Hinzu kommen institutionalisierte Ansätze einer global ausgerichteten Politik, so das globale Klimaschutzregime, Versuche, den Welthandel besser zu ordnen und Sicherheitsinstrumente der Vereinten Nationen. Mit anderen Worten, Globalisierungsprozesse gehen inzwischen über problematisch isolierte Teilglobalisierungen hinaus.

In einer Welt mit immer stärker vernetzten Beziehungen wird es nicht nur immer wichtiger, Krieg auszuschließen. Es geht vor allem auch darum, Kapazitäten globaler Wohlfahrt zu erkennen, zu nutzen und zu entfalten. Dazu müssen primitive Muster von Machtpolitik und Konfrontation zugunsten verfahrensgestützter Kooperation überwunden werden. Die Europäische Union, inzwischen ein Modell friedlicher innerer Kooperation, ist hierbei besonders gefordert.

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Der Autor, Prof. Dr. Volker von Prittwitz, lehrt Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin

www.volkervonprittwitz.de