Volker von Prittwitz

Staatengröße und Demokratie

Ein komparatistischer Streifzug durch Mikro-, Meso- und Makronationen

In englischer Übersetzung erschienen in Oliver Kochta-Kalleinen (Hrsg.) 2005: Micronations, Helsinki (Artists´ Association MUU: www.muu.fi), S. 26 - 28

Ihrer Selbstdarstellung nach sind Mikronationen üblicherweise autoritär und verschiedentlich sogar diktatorisch organisiert: Die unter dem Titel kursierenden Internet-Organisationen und Inselreiche, die meist nur die Staatengründer und wenige Anhänger umfassen, weisen zwar häufig ausladende schriftliche „Verfassungen“ auf. Diese garantieren aber, anders als es dem modernen Verfassungsbegriff entspricht, im allgemeinen keine Rechte der Nationenmitglieder gegenüber ihren (eigenen) Herrschaftsinstanzen, bilden also keine Institution des Bürgerschutzes und der Bürgerrechte. Vielmehr verkörpern sie umgekehrt die Souveränitätsansprüche der jeweiligen Nationengründer nach innen und außen. Diese Ansprüche werden zwar im Umgang der Mikronationen-Chefs untereinander meist locker-spielerisch und verschiedentlich mit Selbstironie vertreten (nach dem Stil von Landesfürsten eben). Möglich sind durchaus aber auch Rechthaberei bis hin zur Vergabe von Rechtsgutachten zur Begründung von Existenz- und Herrschaftsansprüchen, die Verwendung rechtsextremistischer Symbolik und aggressive Formen der Selbstdarstellung.

Die Spannung zwischen Mikronationen und Normen demokratischer Willensbildung irritiert diejenigen, die die besten Chancen für Demokratie grundsätzlich in kleinen Staaten gegeben sehen. Zu diesem Eindruck führen Klassiker der Politischen Philosophie wie Aristoteles und Jean Jacques Rousseau, die Demokratie nur als lokale Versammlungsdemokratie fassen. Auch die Jahrzehnte lang unter den Stichworten small is beautiful und Rückkehr zum menschlichen Maß (Ernst F. Schumacher) geführte Diskussion über Ökologie und Politik befördert diesen Eindruck. Schließlich und vor allem gilt inzwischen eine Reihe kleiner europäischer Staaten, so die Schweiz, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland, geradezu als beispielhaft für demokratische Willensbildung. So sind in diesen Ländern nicht nur, wie in Europa allgemein üblich, die Menschenrechte fest verankert; den Bürgern stehen vielmehr auch Möglichkeiten direkter Demokratie offen und die Wahlsysteme (mit offenen oder freien Listen) erlauben, nicht nur Parteien, sondern auch einzelne Personen unmittelbar zu wählen. Schließlich bestehen in den nordischen Ländern Öffentlichkeitsrechte und Transparenzgebote, durch die die jeweiligen Eliten vergleichsweise leicht kontrolliert werden können.

Betrachten wir demgegenüber europäische Flächenländer wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich, so ergibt sich eine gemischte Demokratiebilanz: Zwar sind auch hier Freiheitsrechte und demokratische Wahlen selbstverständlich institutionalisiert. Die demokratischen Wahlfreiheiten und Beteiligungsrechte sind allerdings beschränkter als in kleineren Ländern. So gilt in Großbritannien ein Mehrheitswahlsystem, in dem die Wählerstimmen hochgradig disproportional in Parlamentssitze umgesetzt werden, viele Wählerstimmen also verloren gehen. In Frankreich sind die Regierungskompetenzen unverhältnismäßig stark im Verhältnis zu denen des Parlaments, und in Deutschland können die Wähler die Hälfte der Bundestagsabgeordneten nicht persönlich, sondern lediglich über starre, von den Parteien vorbestimmte, Listen wählen. Hinzu kommen Defizite direkter Demokratie. So sind in Frankreich nur von oben dekretierte Plebiszite üblich, die immer auch dem Machterhalt des jeweiligen Präsidenten dienen sollen, und in Deutschland darf das Volk in der Praxis, entgegen dem Wortlaut des Grundgesetzes, noch nicht einmal über seine Verfassung (Grundgesetz, EU-Verfassung) abstimmen. Schließlich werden in den drei größten europäischen Ländern Öffentlichkeits- und Transparenzanforderungen nur partiell erfüllt – siehe Großbritannien, wo das Prinzip der Geheimhaltung aller Hintergründe von Regierungshandeln immer noch hohen Stellenwert besitzt, oder Deutschland, wo nach wie vor keine Einsicht in Behördenakten gegeben wird.

Die traditionelle Skepsis gegen die Demokratiefähigkeit großer Staaten scheint sich mit Ausnahme Indiens noch mehr zu bestätigen, wenn wir die größten Länder der Erde betrachten: China hat bisher nur Spurenelemente von Demokratie erlebt, Russland fällt nach Demokratisierungsphasen offensichtlich immer wieder in autoritäre Grundstrukturen der asiatischen Despotie zurück, und auch die durch den Antiterrorismus-Kampf bestimmten USA weisen ein gebrochenes Verhältnis zu Menschenrechten und demokratischer Öffentlichkeit auf. So sind die Bürgerrechte für Terrorismusverdächtige in den USA praktisch außer Kraft gesetzt und die US-amerikanische Regierung verweigert nach wie vor jede Anerkennung von Beschlüssen des Menschenrechtsgerichtshofs in Den Haag für US-amerikanische Staatsbürger.

Soweit spricht alles für die klassische Assoziation, nicht große, sondern nur kleine Staaten könnten demokratisch strukturiert sein. Prüfen wir allerdings europäische Ministaaten wie Lichtenstein, Luxemburg, Monaco oder den Vatikanstaat unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich auch hier eine ernüchternde Bilanz: Anders als in parlamentarischen Monarchien wie Großbritannien, Schweden oder Spanien, in denen die Monarchen lediglich symbolisch herrschen, bilden hier Erbfürsten beziehungsweise der auf Lebenszeit bestellte Papst die wirkliche Regierung. Der Fürst von Monaco, der bis heute alle Gesetze als Rainier III, von Gottes Gnaden regierender Fürst von Monaco unterzeichnet, setzt die Regierungsmitglieder sogar persönlich ein und kann sie auch jederzeit entlassen. Und im Vatikanstaat, mit 700 Einwohnern der kleinste offizielle Mikrostaat der Erde, bildet lediglich die Papstwahl ein Wahlelement. Ansonsten herrscht eine durchgehende Kirchenhierarchie ohne jeden Anflug von Demokratie.

Neben großen Ländern erweisen sich also auch Ministaaten als demokratiefern. Die autoritäre bis diktatorische Struktur der Mikronationen-Konstrukte passt damit ins Bild.

Ursachen

Fragen wir nach den Gründen für die gezeigten Konstellationen zwischen Staatengröße und Demokratie, so stoßen wir zunächst auf eine naheliegende Erklärungshypothese für die Demokratieferne besonders großer Staaten: Demokratie verlangt ein hohes Maß an Kommunikation – siehe etwa die Notwendigkeit vitaler Öffentlichkeit, die Notwendigkeit innerparteilicher Willensbildung oder die Notwendigkeit einer Abstimmung zwischen den Repräsentanten unterschiedlicher politischer Strömungen. Derartige Anforderungen sind zwar durch die moderne Informationstechniken leichter als früher zu bewältigen. Ein ausreichendes Maß gerade persönlicher Kommunikation, ausreichende Kommunikationsdichte, lässt sich aber in großen Organisationseinheiten weit schwerer verwirklichen als in kleinen, überschaubaren, in sich eng vernetzten Einheiten. Dementsprechend galten große Reiche traditionell als nur monokratisch regierbare Imperien. Und auch in der Gegenwart können große Länder nur mit hohem Repräsentationsaufwand, vor allem gegliedert in kleinere dezentrale Organisationseinheiten (Föderalismus) einigermaßen demokratienah gestaltet werden

Schwieriger wird es zu erklären, warum sich auch besonders kleine Staaten so schwer mit demokratischen Willensbildungsprozessen tun. Hierfür scheinen mir zwei Erklärungsmomente naheliegend:

1.      Während Politik in traditionellen Organisationen geringer Arbeitsteilung lediglich eingelagert ist – Herrschaft und Willensbildung werden meist von den stärksten Beteiligten beiläufig miterledigt – hat sich Politik in der modernen Leistungsgesellschaft als eigener Sektor mit beträchtlichen institutionellen Anforderungen ausdifferenziert. Demokratie in diesem Sinne setzt aber institutionelle und prozessuale Kapazitäten voraus, so beispielsweise die Durchführung von Wahlen, die erst ab einer gewissen Größenordnung von Organisationseinheiten bewältigt werden können. Sehr kleinen Staaten fehlt daher schlicht die notwendige minimale Masse für die Verwirklichung anspruchsvoller Demokratieformen

2.      Im Unterschied zu größeren Staaten, die trotz einer bestehenden internationalen, dabei zunehmend globalen, Arbeitsteilung alle Grundfunktionen gesellschaftlicher Selbststeuerung vollständig zu realisieren suchen, beschränken sich sehr kleine Staaten häufig darauf, nur ausgewählte Staatsfunktionen wahrzunehmen. So verzichtet das Fürstentum Monaco erklärtermaßen darauf, eine eigene Außen- und Verteidigungspolitik zu betreiben und konzentriert sich auf die Wahrnehmung wirtschaftlicher und touristischer Steuerungsfunktionen. Dementsprechend ist der Ministaat im Verhältnis zu Frankreich – trotz anderslautender Erklärungen – faktisch nur eingeschränkt souverän (zu sehen etwa anhand der Bedingungen der Regierungsbildung). Und die Bewohner des Fürstentums verstehen sich ihrerseits teilweise nur als Steuerbürger, nicht aber als Staatsbürger Monacos. Aus dieser funktionalen Unvollständigkeit wiederum ergibt sich, dass Defizite demokratischer Repräsentation und Partizipation solcher Ministaaten üblicherweise vergleichsweise leicht hingenommen werden: Operetten-Staaten ohne vollständige Staatsfunktionen und ohne internationale Mitbestimmungsansprüche werden leicht operettenhafte Regierungsformen zugestanden.

Dass sich Mikronationen üblicherweise als Fürstentümer, Königreiche oder gar Diktaturen präsentieren, lässt sich in dieser Sicht gut erklären: Mikronationen sind für die Beteiligten kein faktisch umfassender Staatsrahmen für alle Bereiche des ökonomischen und sozialen Alltags, sondern in erster Linie Ausgleichsvergnügen, Spaß. Hierfür sind unkomplizierte Herrschaftsmuster, ist das Fürst-, König- oder Diktator-Spielen gerade recht. Dies zeigt sich auch im Bereich der Politikspiele (Kreml, Junta, Hanse), in denen seit Jahrzehnten autoritäre Herrschaftsmuster oder einfache Nullsummen-Konstellationen wie Krieg, Revolution oder Machtkonflikte dominieren. Warum aber sollten auf längere Sicht nicht auch komplexe Rollenmuster im Sinne vitaler Demokratie Spaß machen und zum Spiel- und Freizeitinhalt werden können? Zumindest wenn Mikronationen-Gründer beanspruchen, moderne, verantwortliche und für ihre Bürger auf Dauer attraktive Staaten bilden zu wollen, dürften auch in Mikronationen einmal demokratische Revolutionen zu erwarten sein.

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Autor: Prof. Dr. Volker von Prittwitz

Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft/Freie Universität Berlin

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