Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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Erich Mühsam

EIN WEGBAHNER

Nachruf zum Tode Gesells 1930 (1)
 

In der Frühe des 11. März ist im Alter von fast 68 Jahren der Begründer
der FFF- (Freiland, Freigeld, Freiwirtschaft) Bewegung, Silvio Gesell, ei-
ner Lungenentzündung erlegen. Die Nachricht war nicht den Tageszeitun-
gen zu entnehmen, die der am öffentlichen Leben teilnehmende Mensch
allmorgendlich nach den wichtigsten Neuigkeiten befragt, sie stand erst
nach der Beisetzung in der von dem Toten selbst beeinflußten, seine Ge-
danken verbreitenden 'Letzten Politik' zu lesen. Das ist kennzeichnend für
das stumpfsinnige Getriebe, das die Werte der Welt in dieser unserer Ge-
genwart für den Hausgebrauch der Spießer zurechthackt. Es wird eine
Zukunft kommen, die den geistigen Stand der Deutschen von heute da-
nach bemessen wird, daß das Ableben Silvio Gesells unbemerkt, kaum ir-
gendwo registriert geschehen konnte und ins Leben der Zeitgenossen
scheinbar gar keine Lücke riß. (2) Gesells theoretische Leistung ist aber mit
dieser blamabeln Stille um seinen Fortgang nicht abgetan, und wie bedeu-
tungsvoll die Leistung war, wird dann erkannt werden, wenn sie in der
Praxis erprobt werden wird. Gustav Landauer wußte, was er tat, als er vor
elf Jahren empfahl, die Revolutionierung des Geldwesens der Räterepu-
blik Bayern dem an Proudhon geschulten, dabei ganz selbständigen Den-
ker Gesell anzuvertrauen. Wäre die bayerische Revolution militärisch
siegreich geblieben und hätte sie dem modernen Physiokraten die Ver-
wirklichung seiner Pläne gestattet, so hätte es in Bayern keine Inflation
gegeben, und die Enteignung der Kapitalisten wäre vor sich gegangen bei
gleichzeitiger Verhinderung der ihnen in Rußland geglückten Schliche,
mit Hilfe des wertgesicherten Geldes die Warenzirkulation neuerdings zur
Quelle verzinslicher Besitzhäufung zu machen. Gesells Freiland-Lehre ist
stark anfechtbar, seine Geldtheorie dagegen scheint berufen, nicht, wie er
annahm, das Wirtschaftsregulativ der freiheitlichen Gesellschaft zu wer-
den, wohl aber das Übergangsverfahren vom kapitalistischen Währungs-
system zum geldlosen Kommunismus zu ermöglichen. Silvio Gesell war
entschiedener Staatsverneiner. Um aber auch die Beziehungen des positi-
ven Gehaltes seiner Lehre zum Anarchismus im Fanal zur Darstellung zu
bringen, ist einer der kenntnisreichsten Schüler des Verstorbenen um ei-
nen Artikel gebeten worden und wird bald hier zu Wort kommen. Silvio
Gesell war ein sozialer Wegbahner von größtem geistigen Wuchs; der
Spott der Börsenpraktiker und das Gelächter der Marxisten können seine
Bedeutung als Vorkämpfer gerechter und freiheitlicher Gesellschaftsgat-
tung nicht mindern. Die Zeit revolutionärer Verwirklichung wird dem To-
ten vieles abzubitten haben, was die Zeit dogmatischer Unbelehrbarkeit
an dem Lebenden und damit zugleich an sich selbst gesündigt hat. Der
Weg der Menschheit zur anständigen Gemeinschaft wird mit mancher
Fuhre Erde aus dem Garten Silvio Gesells gestampft sein.
 
 
 

Anmerkungen des Herausgebers

(1) Fanal 7/April 1930

(2) 50 Jahre später wiederholt der bürgerliche Ökonomie-Professor Oswald Hahn diese
Klage in ähnlicher Weise in Bezug auf seine Fachkollegen: "Dieses Faktum ist Ausfluß einer
Geisteshaltung, die mit deren Sonnen in der eigenen Genialität und dem angemeldeten An-
spruch auf Zugehörigkeit zu einer dynamischen Disziplin zu erklären ist." Er meint, es sei
"nicht auszuschließen, daß über eine us-amerikanische verfasser-bedingte Innovation die
Theorie des Schwundgeldes dort eine Auferstehung erfährt und von dort aus begeisterte
Aufnahme in Europa findet. Eine Rückbesinnung auf Gesell in bundesdeutschen Lehrbü-
chern wie in den Stäben der Zentralbankleitung wäre dann allerdings nur über die US-Kar-
riere eines amerikanischen DAAD- oder Fullbright-Stipendiaten möglich." Hahn empfiehlt
Otto Veits Lehrbuch 'Grundrisse der Währungspolitik', in dem Gesell und andere interessante
Geldtheoretiker angemessen gewürdigt werden (Z. f. d. gesamte Kreditwesen 6/1980, S.
212).
 
 
 


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