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Nachruf zum Tode Gesells 1930 (1)
In der Frühe des 11. März ist im Alter von fast 68 Jahren
der Begründer
der FFF- (Freiland, Freigeld, Freiwirtschaft) Bewegung, Silvio Gesell,
ei-
ner Lungenentzündung erlegen. Die Nachricht war nicht den Tageszeitun-
gen zu entnehmen, die der am öffentlichen Leben teilnehmende Mensch
allmorgendlich nach den wichtigsten Neuigkeiten befragt, sie stand
erst
nach der Beisetzung in der von dem Toten selbst beeinflußten,
seine Ge-
danken verbreitenden 'Letzten Politik' zu lesen. Das ist kennzeichnend
für
das stumpfsinnige Getriebe, das die Werte der Welt in dieser unserer
Ge-
genwart für den Hausgebrauch der Spießer zurechthackt. Es
wird eine
Zukunft kommen, die den geistigen Stand der Deutschen von heute da-
nach bemessen wird, daß das Ableben Silvio Gesells unbemerkt,
kaum ir-
gendwo registriert geschehen konnte und ins Leben der Zeitgenossen
scheinbar gar keine Lücke riß. (2) Gesells theoretische
Leistung ist aber mit
dieser blamabeln Stille um seinen Fortgang nicht abgetan, und wie bedeu-
tungsvoll die Leistung war, wird dann erkannt werden, wenn sie in der
Praxis erprobt werden wird. Gustav Landauer wußte, was er tat,
als er vor
elf Jahren empfahl, die Revolutionierung des Geldwesens der Räterepu-
blik Bayern dem an Proudhon geschulten, dabei ganz selbständigen
Den-
ker Gesell anzuvertrauen. Wäre die bayerische Revolution militärisch
siegreich geblieben und hätte sie dem modernen Physiokraten die
Ver-
wirklichung seiner Pläne gestattet, so hätte es in Bayern
keine Inflation
gegeben, und die Enteignung der Kapitalisten wäre vor sich gegangen
bei
gleichzeitiger Verhinderung der ihnen in Rußland geglückten
Schliche,
mit Hilfe des wertgesicherten Geldes die Warenzirkulation neuerdings
zur
Quelle verzinslicher Besitzhäufung zu machen. Gesells Freiland-Lehre
ist
stark anfechtbar, seine Geldtheorie dagegen scheint berufen, nicht,
wie er
annahm, das Wirtschaftsregulativ der freiheitlichen Gesellschaft zu
wer-
den, wohl aber das Übergangsverfahren vom kapitalistischen Währungs-
system zum geldlosen Kommunismus zu ermöglichen. Silvio Gesell
war
entschiedener Staatsverneiner. Um aber auch die Beziehungen des positi-
ven Gehaltes seiner Lehre zum Anarchismus im Fanal zur Darstellung
zu
bringen, ist einer der kenntnisreichsten Schüler des Verstorbenen
um ei-
nen Artikel gebeten worden und wird bald hier zu Wort kommen. Silvio
Gesell war ein sozialer Wegbahner von größtem geistigen
Wuchs; der
Spott der Börsenpraktiker und das Gelächter der Marxisten
können seine
Bedeutung als Vorkämpfer gerechter und freiheitlicher Gesellschaftsgat-
tung nicht mindern. Die Zeit revolutionärer Verwirklichung wird
dem To-
ten vieles abzubitten haben, was die Zeit dogmatischer Unbelehrbarkeit
an dem Lebenden und damit zugleich an sich selbst gesündigt hat.
Der
Weg der Menschheit zur anständigen Gemeinschaft wird mit mancher
Fuhre Erde aus dem Garten Silvio Gesells gestampft sein.
Anmerkungen des Herausgebers
(1) Fanal 7/April 1930
(2) 50 Jahre später wiederholt der bürgerliche Ökonomie-Professor
Oswald Hahn diese
Klage in ähnlicher Weise in Bezug auf seine Fachkollegen: "Dieses
Faktum ist Ausfluß einer
Geisteshaltung, die mit deren Sonnen in der eigenen Genialität
und dem angemeldeten An-
spruch auf Zugehörigkeit zu einer dynamischen Disziplin zu erklären
ist." Er meint, es sei
"nicht auszuschließen, daß über eine us-amerikanische
verfasser-bedingte Innovation die
Theorie des Schwundgeldes dort eine Auferstehung erfährt und von
dort aus begeisterte
Aufnahme in Europa findet. Eine Rückbesinnung auf Gesell in bundesdeutschen
Lehrbü-
chern wie in den Stäben der Zentralbankleitung wäre dann
allerdings nur über die US-Kar-
riere eines amerikanischen DAAD- oder Fullbright-Stipendiaten möglich."
Hahn empfiehlt
Otto Veits Lehrbuch 'Grundrisse der Währungspolitik', in dem Gesell
und andere interessante
Geldtheoretiker angemessen gewürdigt werden (Z. f. d. gesamte
Kreditwesen 6/1980, S.
212).
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