FU-Berlin,

Publizistik- und Kommunikationswissenschaft,

Wie + wohin entwickelt sich das Internet? ,

Jörn Willhöft (jwillhft@inf.fu-berlin.de),

Besinnungsaufsatz,

29. November 1998

WiSe 98/99

Wolfgang Röhrig

"Mein Internet" heute und morgen

Gerade mal bin ich seit drei, vier Jahren dabei und schon scheint sich "das Netz" eines Großteils meines Lebens bemächtigt zu haben. Schon muß ich einen Moment darüber nachdenken, was sich denn änderte, gäbe es das Internet plötzlich nicht mehr.

Ungefähr 152 private e-Mails im Zeitraum des letzten Jahres. Das ist nicht besonders üppig, aber per Post hätte ich das nie und nimmer geschrieben. 82 davon im Sent Mail-Ordner, also keine Rede davon, daß ich ein fauler e-Mailer wäre, wie es meine Mail-Freunde teilweise gerne darstellen. Der Glaube, e-Mails seien wenig verbindlich, unpersönlich und wenig aussagekräftig hat sich mittlerweile verflüchtigt. Liebes-Mails (unter d:\programme\pmmail 98\jwill0.act\ordne1.fld) sind mittlerweile in Anzahl fast gleichauf mit ihrer schriftlichen Form (im Schuhkarton auf dem untersten Regalbord). Kleine Informationsmails á la "Party hat sich um zwei Wochen verschoben!", haben lästige Rundrufe per Telefon abgelöst. Nicht nur in der technischen, sondern eben auch in der praktischen Dimension scheint sich die e-Mail so zu einer Art Zwitterwesen irgendwo zwischen Brief und Telefonat entwickelt zu haben.

Aber das Internet ist ja noch mehr als e-Mailerei. Im Web des Ozeans an Informationen verfängt sich für jedermann so mancher Leckerbissen: minütlich frische Börsenkurse, jede Woche eine neue bebilderte Episode aus dem Leben von Barbie, Klassiker der Literatur inklusive Volltextrecherche, aktuellste Nachrichten vom Tage, Fotos von nackten Darstellern in merkwürdigen Posen, legal und weniger legal downloadbare Software, öffentliche Schaufenster in das Leben von ganz normalen Menschen. Wer was vom Fischen versteht, der kann so manchen guten Fang machen. Gerade für einen Studenten wie mich, ist die Recherche im Internet eine unglaubliche Arbeitserleichterung. Zu vielen Referatsthemen quäle ich mich von daher auch ein wenig bei der Suche nach Literaturangaben von gedruckten Werken. Viel lieber gebe ich URLs mit Datum und Zeit an. Schade nur, daß das von vielen Dozenten noch nicht ausreichend honoriert wird.

Im "wahren Leben" sieht das schon anders aus. Mittlerweile ist das Internet schon mehr als nur ein Hype. In Buchhandlungen gehe ich nur noch, um zu stöbern. Literatur von der ich weiß, daß ich sie kaufe, kommt per Post. Bestellt übers Netz, ohne langes Suchen, in zwei Tagen da. Demnächst werde ich mir Videos aus den USA bestellen noch bevor sie hier im Kino laufen. Meine Bankgeschäfte laufen bei einer Direktbank übers Internet. Es hat gewisse Vorzüge, wenn man seine Bankgeschäfte schnell noch vor dem Schlafengehen vom Schreibtisch aus erledigen kann. Schließlich müsste ich zur nächsten Bankfiliale erst mit der U-Bahn fahren! Noch dazu zu unmöglichen Geschäftszeiten! Ich kann mir auch gut vorstellen meinen Spontanurlaub im Internet zu ersteigern. Einige Fluggesellschaften bieten dieses Angebot an, um kurzfristig ihre Restplätze loszuwerden: Gestern noch ahnungslos, heute gebucht und übermorgen im Flieger nach Melbourne oder Helsinki.

Das Internet und seine Möglichkeiten üben bereits ihren Einfluß auf mein Leben aus und ich bin gespannt, was da noch kommen mag. Vielleicht werde ich in ein paar Jahren endlich von jedem Punkt der Erde aus meine Arbeit erledigen können, ohne mehr als nur einen Taschencomputer bei mir tragen zu müssen. Vielleicht wird die Netzkapazität bald so groß sein, daß ich meine gesamte Musiksammlung zu Hause lassen und von überall aus übers Netz hören kann. Telefonate in glasklarer Qualität nach überall zum Ortstarif werden möglich sein. Ebenso wird es digitale Radio- und Fernsehsender im Internet geben. Vorausgesetzt, man wird diese beiden Medien überhaupt noch von einander trennen können, denn im Netz wird zunehmend alles multimedial. Die Papierzeitung wird in weniger als drei Jahrzehnten vom einstigen "Ergänzungsmedium" Internet vollständig abgelöst sein.

Bei soviel Fortschritt dürfen die Schattenseiten des neuen Mediums nicht unberücksichtigt bleiben, denn eine perfektere Überwachung der Bürger ist seit der Industrialisierung noch nie so leicht durchführbar gewesen. Jeder Geheimdienst wäre davon entzückt, wenn alle Bürger, Betriebe und Behörden ihre Kommunikation freiwillig "für ihn" digital aufbereiteten. Jeder beliebige Datenstrom ließe sich ohne großen Aufwand für immer archivieren. Speichermedien die solche Datenmengen aufnehmen könnten werden bereits von verschiedenen Labors entwickelt. Auch die Unternehmen haben ein enormes Interesse an Informationen über ihre Konsumenten. Für Auskünfte über Konsumverhalten und demographische Daten sind die Unternehmen aller Industrienationen bereit große Mengen Geld zu zahlen. Jüngste Skandale zeigten, daß auch eine Zusammenarbeit zwischen Industrie und Staat nicht unrealistisch ist. So hatte der amerikanische Geheimdienst amerikanischen Unternehmen geheime Informationen zugespielt, welche ihnen einen bedeutenden Vorsprung gegenüber der europäischen Konkurrenz bescherten. Ob nun vom Staat, von den Konzernen oder gar von "Internetterroristen" die größte Gefahr im Internet ausgeht, ist noch ungewiß. Aber sicher ist, daß sich die Streitigkeiten, Betrügereien und Überwachungstriebe im Internet genauso etablieren werden, wie in der "Offline-Welt".