Fünf Versuche der Besinnung: Das Internet und sein Computer im Jahre 2009

 

Versuch 1

Zeitreisen in die Vergangenheit sind einfach, solche in die Zukunft schwer.

Wer versucht, seine Gedanken nach vorne zu schicken unterliegt der Gefahr

des postumen Geprüft-Werdens. Zumal, wenn Gedanken an einer Stelle

publiziert werden, von wo aus sie in der ganzen Welt (!) gelesen werden

können. Natürlich nur von jenem, der der Sprache des Geschriebenen mächtig

ist. Doch auch das wird wohl irgendwann kein Problem mehr sein. Vielleicht schon 2009?

Die Europäische Union, wo Sprachkompetenz für höchste Ämter qualifiziert,

das heißt die Verwaltung dieser Europäischen Union und das Parlament der

europäischen Bürgerschaft, arbeiten fleißig an der Lösung dieses Problems.

Irgendwo auf dem Kontinent oder den Britischen Inseln, arbeiten Philologen Hand in Hand

mit Softwarespezialisten daran, das Sprachproblem der Union zu lösen. Dank

ausgefeilter Übersetzungsprogramme wird Babylon geschlagen. Ganz sicher

schon 2009. Damit hebt das globale Dorf Internet die letzte Hürde, einen

gemeinsamen Marktplatz zu bekommen, auf dem sich alle verstehen. Wirklich

alle?

Hat das Internet die Kraft, dort wo Mißverständnisse bislang so oft

Konflikte produzierten, diese aufzulösen und so die integrative Kraft zu

werden, durch die die (Europäische) Menschheit geeint wird, der Turbo für

eine Entwicklung, von der die Architekten der Römischen Verträge - um in

Europa zu bleiben - seit nun fast 40 Jahren träumen? Warum Europa? Nun,

vorausgesetzt das Internet ist das Dorf, von dem alles spricht, dann sei bei

Gedanken an die Zukunft im eigenen Haus begonnen. Wenn es hier klappt,

funktioniert es auch anderswo - und mit anderen.

 

Versuch 2

Die technische Seite. Bislang waren neben Hochleistungs-Datenleitungen die Telefonnetze

Grundlage für das Internet. Das wird 2009 anders sein. Es gibt dann ein Netz, das mehr kann,

größer ist und selbst in die entlegensten Winkel dieser Welt reicht: Überall dort, wo es

Zivilisation gibt, sind die künftigen Internetleitungen zum Teil schon seit 100 Jahren

vorhanden: Das Stromnetz. Mit diesem Schritt werden die Gesetze des Marktes, die bislang die

Telefon- und Datenleitungen noch zu teuren Übertragungswegen machen, aufgehoben sein.

Dann könnte spätestens - vielleicht viel früher als 2009 - ein Traum der großen

Computerkonzerne war werden, die ihr Monopol einst an den Garagen-Unternehmer Bill

Gates verloren hatten. Wenn Leitungskapazitäten keine Rolle mehr spielen, kann der Desktop

zu Hause oder im Büro 24 Stunden lang online sein, ohne daß dies viel kosten muß. Damit

werden die Großrechner eine heute kaum erwartete Renaissance erleben. Wer wird sich noch

viel mit Software-Installation, mit dem Defragmentieren und anderer Arbeiten an der

heimischen Festplatte herumschlagen wollen, wenn dies der Service-Techniker im per Leitung

verbundenen Großrechenzentrum für einen - kostengünstig - erledigt?

 

 

 

Versuch 3

Das Internet und die museale Kultur. Kultur schreitet im avantgardistischen Spektrum voran,

im fetten Titanic-Tanker ist sie eine parallele Entsprechung zu anderen Bereichen der

Gesellschaft. Im Jahr 2009 wird kaum jemand mehr ohne Computer und Internet sein, so wie

das Fernsehgerät seit den 30er Jahren einen Siegeszug antrat, so wird auch der Computer-

Bildschirm, in welcher Form auch immer, seinen Platz im Alltag aller finden.

Freilich: Genauso wenig wie das TV-Gerät andere Medien wie Zeitung und Radio "beseitigt"

hat, genausowenig ist des denkbar, daß in zehn Jahren der Museumsbesuch allein vom

heimischen Sofa aus geschehen wird. Der Anteil an internationalen Exponaten, die über das

Internet zu betrachten sein werden, wird 2009 einen heute nicht absehbaren Umfang erreicht

haben. Doch dies wird nie das Aug-in-Aug-Stehen mit einer mittelalterlichen Figur, einem

filigranen, byzantinischen Kunstwerk ersetzen können.

 

Versuch 4

Anders sieht es da angesichts des voranschreitenden Papierzerfalls alter Quellen aus. Heute

schon werden die Ergebnisse von Historikern nach deren Recherchen in den Archiven des Quai

d’Orsai, des State Departments oder auch Moskauer und Bonner Archiven aus der Zeit des

Kalten Krieges auf dem Internet veröffentlicht. Die Diskussionsgrundlage aller Interessierter

hat sich damit erstmals vereinheitlicht. Vorsprünge aufgrund von unveröffentlichten

Recherche-Ergebnissen von solchen Historikern, die Zugang zu Archiven erhielten, der

anderen verwehrt blieb, werden aufgelöst. Dies umschreibt die Zukunft auch für andere Zeiten.

Einige mittelalterliche Regeste wurden bereits auf CD-Rom archiviert. In zehn Jahren bilden sie

den Standardsatz der über das Internet zugänglichen Mittelalter-Quellen.

Das Internet wird freilich diesen Blick weiten. So wie wir Quellen aus dem europäischen

Mittelalter per Mausclick werden einsehen können, werden wir auch Schriften der Mayas, der

nordamerikanischen Indianer, der chinesischen Dynastien über das Internet immer abrufen

können. Im Jahr 2009 ist dazu der Anfang gemacht. Die asiatischen Räume sind dann seit rund

fünf Jahren auch für das Internet offen. Vergleicht man die explosionsartige Entwicklung des

Mediums in der westlichen Welt, das heißt vergleicht man die Anfänge vor rund zehn Jahren

hier, mit dem, was heute, zur Jahrtausendwende in Bejing und anderen chinesischen

Großstädten geschieht, dann ist abzusehen, daß selbst ein noch so rigides Gesellschaftssystem

die Ausbreitung dieser Technik nicht aufhalten kann. Wenn sich also, nachdem in China jetzt

das Chatten und Surfen an den Universitäten - gestützt auf Internet-Freaks in den USA, die auf

ihren Proxy-Servern chinesische Seiten spiegeln - immer weiter ausbreitet, wird China in den

nächsten Jahren eine ähnlich explosionsartige Internet-Entwicklung mit machen wie wir das in

der jüngsten Vergangenheit hatten. Wenn gleichzeitig die Kosten sinken, weil

Rechnerkapazitäten gebündelt werden und Stromnetze zu Datenleitungen werden, dann ist die

Zeit für die chinesische Präsenz auf dem Netz der Netz gekommen.

Für Historiker und Kulturwissenschaftler, Ethnologen und Archäologen wird sich so ein

kultureller Raum öffnen, dessen Sogwirkung die westliche Welt vielleicht stärker verändern

wird, als dies der Kalte Krieg jemals vermochte.