ILLUSION UND REALITÄT
Versuch über Das
perfekte Verbrechen
von Jean Baudrillard
INHALT
EINLEITUNG
DAS PERFEKTE VERBRECHEN
DAS OPFER - DIE WELT ALS ILLUSION
Die materielle Illusion
Die objektive Illusion
DAS VERBRECHEN - DIE VERNICHTUNG DER WELT
ALS ILLUSION
Welt als Realität
Simulation, Dopplung, Hyperrealität
und Virtualität
Hohe Auflösung und integrale Realität
DIE UNVOLLKOMMENHEIT - SPUREN DES NICHTS
Die objektive Ironie der Welt
DAS RADIKALE DENKEN
DAS PERFEKTE VERBRECHEN - TROSTLOSE
ANALYSE IN EINER GLÜCKLICHEN SPRACHE ODER RELIGIÖSE MELANCHOLIE?
POSTSCRIPTUM
LITERATUR
EINLEITUNG
Eine wissenschaftliche Arbeit über
Das
perfekte Verbrechen von Jean Baudrillard zu schreiben, ist ein zwiespältiges
Unterfangen. Wenn es so etwas wie den "Geist" eines Buches oder wenigstens
den Duktus eines Denkens gibt, so kann man den des
perfekten Verbrechens
zwar nicht mit Gewissheit identifizieren, da es sich auf spielerische Art
und Weise konventionellen Festlegungen verweigert. Mit Sicherheit kann
man jedoch eine Negativbestimmung (selbstverständlich ist "negativ"
hier nicht in der abwertenden Bedeutung verwendet) vornehmen: Text und
Denke des perfekten Verbrechens sind aus programmatischen
Gründen nicht der traditionellen Methodik wissenschaftlichen Schreibens
oder Denkens verpflichtet. Weder inhaltlich noch formal ist Baudrillard
um intellektuelle Einverleibungen und ihre akademische Garantie durch Zitat
und Fußnote bemüht. Auch findet man kaum präzise Begriffsklärungen
oder Thesen und dazugehörige Begründungen in Argumentform.
Vielmehr rekonstruiert das perfekte Verbrechen auf maskierte, also seinerseits "verbrecherische" Weise das nicht ganz perfekte Verbrechen der Vernichtung der radikalen Illusion der Welt.
Das perfekte Verbrechen verfolgt eine andere Strategie.
Für meine Spurensuche ergibt sich daraus jedoch ein Problem. Denn die Spannung zwischen dem, wovon und vor allem wie Baudrillard im perfekten Verbrechen schreibt und der Bearbeitungsweise einer jeden wissenschaftlichen Arbeit und damit auch der vorliegenden ist groß. Es besteht ein Grundwiderspruch zwischen dem Aufzeigen der Modi des Verschwindenlassens, die mit der Illusion auch gleich das Verschwinden verschwinden lassen und der Unmöglichkeit, jene nicht im Beschreiben zu reproduzieren.
Diese Grundkonstellation macht die wissenschaftliche Bearbeitung jedoch nicht unmöglich, sie bedarf aber einer besonderen Vorgehensweise und Rechtfertigung. Ich gehe in dieser Arbeit anders als Baudrillard selbst vor. Denn - von der Anmaßung eines solchen Projekts ganz abgesehen - die Durchführung des radikalen Denkens ersetzt seine Erklärung nicht. Der von einem besseren Verständnis der Theorie zu erwartende Gewinn bleibt zwar dem genannten Grundwiderspruch ausgesetzt, doch kann auch dieser Widerspruch selbst überhaupt erst verstanden und nachvollzogen werden, sofern er in einem Vokabular der wissenschaftlichen Untersuchung wenigstens plausibel gemacht werden kann.
Zudem spricht Baudrillard kaum explizit über oder von einer Theorie, die seinem Vorgehen zugrundeliegt; vielmehr führt er ein radikales Denken vor, in dessen Perspektive sowohl die Problemdiagnose als auch die verordnete Kur immer schon vorausgesetzt und daher oft nur versteckt auszumachen sind.
Ich werde dazu in einem ersten Schritt unter Zuhilfenahme weiterführender Literatur von Baudrillard einige zentrale Aspekte des perfekten Verbrechens herausarbeiten. Im zweiten Teil werde ich eine kritische Würdigung versuchen und mit einem Postscriptum schliessen.
DAS PERFEKTE VERBRECHEN
Das perfekte Verbrechen besteht in der
Vernichtung der Welt als Illusion zugunsten einer vollständig realisierten
Welt. Was ist damit gemeint?
DAS OPFER - DIE WELT ALS ILLUSION
Die Welt als Illusion bezeichnet einerseits
den Zustand, in dem und an dem das Verbrechen begangen wird. Andererseits
liegt die Welt als Illusion nur dank eines konstitutiven und unwiderruflichen
"Urverbrechens" vor. Die Dialektik von Opfer und Täter entlarvt Baudrillard
als Effekt der Illusion. Insofern tut sich kein Widerspruch zwischen der
Opferrolle der Illusion im perfekten Verbrechen und ihrer Genese im Urverbrechen
auf. "Letzten Endes sind Täter und Opfer ein und dieselbe Person.
(…) Letzten Endes sind Objekt und Subjekt ein und dasselbe." (S. 10)
Die Welt hat grundlegend illusorischen Charakter. Die Illusion ist für das Gegebensein der Welt überhaupt konstitutiv. Das "Urverbrechen" besteht gerade darin, die Welt dem Menschen als Illusion zum ersten mal gegenübertreten zu lassen, sie ihm als das Erste Objekt zu geben und sich dadurch als das erste zur Erkenntnis befähigte Subjekt zu konstituieren. Insofern ist sie ebenso wünschenswert wie unausweichlich.
Baudrillard entwirft die Illusion nicht im herkömmlichen Sinne der Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis, die von den Menschen hilflos auf die Welt gestülpt wird, sondern als ein Produkt der Welt selbst. "Gegenüber dem Subjekt als unbeugsamem Produzenten von Sinn steht die Welt als unermüdlicher Produzent von Illusion - einschließlich der des Sinns, mit der unfreiwilligen Beihilfe des Subjekts." (S. 35) Der implizite Hochmut der kantischen Vermutung wird erst entlarvt, indem sie auf den Kopf gestellt wird. Es ist Welt, die mit uns spielt, sie produziert die radikale Illusion, nicht wir. Menschen imitieren, produzieren und reproduzieren Sinn, den faden Abklatsch einer Beziehung zur Welt, aber den ursprünglichen Zusammenhang lösen sie weder auf, noch konstituieren sie die Illusion.
Doch mit der Illusion beginnt auch das Spiel von Schein und Sein. Mit diesem Schritt aus der primordialen Ordnung wird sie unwiderruflich und unaufhörlich in eine "wirkliche Wirklichkeit" und eine Welt der Doxa einteilt. Die Illusion ist die Art und Weise, "… wie die Dinge sich für das ausgeben, was sie sind, während sie ganz und gar nicht dahinter stehen. Im Schein sind die Dinge das, wofür sie sich ausgeben."
Wo und wann auch immer Menschen in ontologischer oder erkenntnistheoretischer Hinsicht in der Welt ein "Etwas" vermuten und es im Denken und Sprechen konstitutieren, erliegen sie ihrem Schein. Denn in Wirklichkeit ist an all den Stellen, wo wir Materie, Substanz, mit sich selbst identische, ganze Objekte vermuten, tatsächlich ein "Nichts". Die Welt ist in diesem Sinne "radikal unvollkommen" und zieht sich hinter ihren eigenen Schein zurück. "Daß die Welt Illusion ist, beruht auf ihrer radikalen Unvollkommenheit." (S. 22)
Die materielle Illusion
Die materielle Illusion bezeichnet die
Vermutung, daß wir es in der Welt mit Materiellem zu tun haben. Doch
die Welt ist tatsächlich sowohl räumlich als auch zeitlich endgültig
von sich selbst abwesend. "Die Abwesenheit der Dinge von sich selbst, die
Tatsache, daß sie nicht stattfinden, obwohl sie so tun als ob, die
Tatsache, daß alles sich hinter seinen eigenen Schein zurückzieht
und deshalb nie mit sich selbst identisch ist, darin liegt die materielle
Illusion der Welt." (S. 13)
Die Welt ist nie am Ort ihres Erscheinens, vielmehr dort wo sie erscheint immer schon wieder abwesend. Einleuchtend wird diese These am Beispiel des Sterns im Fernglas, der im Moment des Sichtbarwerdens selbst immer schon an einer anderen Stelle ist oder bereits gar nicht mehr existiert, als dort, wo der Betrachter ihn ausmacht. (S. 86) In kleineren Dimensionen verhält es sich genauso mit dem Zugang zu allem Materiellen und sei die Verzögerung auch noch so klein. Gegenwart ist illusorisch aber so unausweichlich wie das Verschwinden der Welt in ihrem Schein.
Auch in zeitlicher Hinsicht ist die Welt nie voll gegenwärtig, nie identisch mit sich selbst. Gegenwart gibt es nur als absolute Gegenwart in einem einzigen Zeitpunkt. Doch sowohl die Phänomene unseres Bewußtseins als auch die der Welt liegen immer in größeren zeitlichen Einheiten vor. Anders wären Ereignisse, Sequenzen von Eindrücken oder Erinnerungen weder wahrnehmbar noch erklärbar. Die absolute Gegenwart eines einzigen Zeitpunktes wäre nicht zu ertragen; Baudrillard spricht von der "Epilepsie der Gegenwart". (S. 88)
Die raum-zeitliche Entfernung der Welt von sich selbst konstituiert eine endgültige Abwesenheit der Welt von sich selbst. Erst durch das Verschwinden, das Sich-entziehen wird sie uns zugänglich als etwas, das immer bereits abwesend ist. Das ist die materielle Illusion der Welt.
Die objektive Illusion
Die objektive Illusion bezeichnet die
Vermutung, daß wir es in der Welt mit ganzen, in sich zusammenhängenden
Objekten zu tun haben. Zwar ist das, was wir wahrnehmen untrennbar eins
in unserer Wahrnehmung und Beschreibung, doch zwischen den beschriebenen
Teilchen selbst herrscht keine gesetzmäßige Kommunikation. Vielmehr
handelt es sich um den Austausch kontingenter Effekte. (S. 89) Anders formuliert:
die Teilchen verhalten sich zwar den Beschreibungsmodellen entsprechend,
doch sie selbst wissen nichts von diesen. Die Effekte und ihre Kontingenzen
erzwingen laufend eine Revision ihrer Beschreibungen und nicht umgekehrt.
Und dennoch ist die Welt unleugbar als Welt gegeben. Doch die Grundverfassung dieses Vorhandenseins ist illusorisch. Die Materielle und objektive Illusion bezeichnen gerade diejenigen Vorstellungen, die wir im Zugang zur Welt nicht nicht haben können und ihn uns damit ermöglichen. Aber sie schliessen gleichzeitig jede From von Unmittelbarkeit und Identität aus - denn die Welt liegt nur als eine immer schon verschwundene vor. Insofern ist die Illusion zum einen konstitutiv für den "Welteffekt": die Vorstellung, daß wir es überhaupt mit einem wie auch immer geordneten Etwas zu tun haben, in der sie notwendigerweise immer verschwindet. Zum anderen ist dieser illusorische Schein auch der Moment, in dem sich die Welt in ihrer Unfassbarkeit als nicht explizierbares Rätsel zeigt. Der illusorische Charakter der Welt ist also der unhintergehbare Modus, in dem die Welt unaufhörlich verschwindet und sich zeigt.
Baudrillard knüpft an diese Diagnose die anthropologische Vermutung, daß der Mensch als Teil der Welt auch ein Teil von beiden Momenten sei, des Verschwindens und des Sich-Zeigens, des Nichts und der Illusion der Welt. (S. 99) Aus diesem Grund kann er annehmen, daß der Mensch überhaupt dazu in der Lage ist, die Illusion als solche zu erkennen sich auf die Suche nach dem Verschwindenden und Verschwundenen zu machen. Denn das Verschwinden hinterlässt Spuren. Die Spuren des Nichts, die untrüglich davon zeugen, daß einmal Etwas gewesen sein muß, wo jetzt das Nichts als Leere gähnt. An diese Spuren kann sich der Mensch heften.
DAS VERBRECHEN - DIE VERNICHTUNG DER
WELT ALS ILLUSION
Die Welt als Illusion ist unerträglich.
"Um diesem drohenden Entsetzen zu entgehen, müssen wir die Welt entschlüsseln,
und damit die ursprüngliche Illusion vernichten. Wir ertragen weder
die Leere noch das Geheimnis, noch den reinen Schein." (S. 13) Aus diesem
Grund entwerfen wir die Welt als eine sinnvolle Realität und ein dazugehöriges
Zeichensystem, das den Bezug zum Objekt herstellen soll. Das Verbrechen
besteht in der Vernichtung der Welt als Illusion und der "… Sättigung
durch absolute Realität." (S. 100) Seine Perfektion liegt in der Verwischung
der Spuren dieser Vernichtung. "Dies ist die Quintessenz des Verbrechens:
wenn es perfekt ist, hinterlässt es keine Spuren mehr. Was uns die
Existenz der Welt bestätigt, ist ihr zufälliger, krimineller,
unvollkommener Charakter. Darum kann sie uns nur als Illusion gegeben werden."
(S. 22)
Welt als Realität
Die Welt wird von uns als Realität
konzipiert, um der radikalen Unvollkommenheit des illusorischen Welteffektes
zu entgehen. Erst in einer Welt, in der es klare Trennungen von mit sich
selbst jeweils identischen Subjekten und Objekten gibt, in der Gesetzmässigkeiten
herrschen, anhand derer die Welt sich entschlüsseln läßt,
können wir uns Gewissheiten verschaffen und uns unserer selbst im
Verhältnis zu anderen und der Welt versichern. Dadurch wird die Welt
erträglich. "Nirgends können wir den Beweis unserer Existenz
oder ihrer Authentizität leisten. Die Existenz, das Sein, das Reale
sind strenggenommen unmöglich. Die einzige Lösung dieser Situation,
abgesehen von metaphysischer Zuflucht zu einem höheren Willen (…),
ist das Verbrechen." (S. 68)
Nach dem Urbild der Trennung von Leben und Tod wird die Welt als objektiv und gegenwärtig erfunden und in Abgrenzung dazu Subjekte als das Andere der Objektivität.
Für den Bereich der Subjektivität dient die große Erzählung der Menschen als Träger eines freien Willens dazu, den Menschen seiner Eigengesetzlichkeit zu unterwerfen, um sich von der schicksalhaft undurchsichtigen Regel der Welt zu befreien. Analog wird die objektive Welt den Gesetzen der Kausalität unterworfen, um nicht der unerträglichen Kontingenz ausgeliefert zu sein.
Simulation, Dopplung, Hyperrealität
und Virtualität
Diese Konstruktion der Welt als Realität
basiert auf Simulation. Durch die Nachahmung der Welt im Zeichen wird das
Nachgeahmte selbst als Realität fraglos. Diese Bewegung der Tranformation
der Zeichen ist durch ein zunehmendes Eigenleben der Zeichen gekennzeichnet
und führt in letzter Konsequenz zum Untergang der Illusion.
Mit dem Einbüßen der Beziehung der Bilder und Begriffe zur Welt, erwachen die Simulakra, übernehmen die Zeichen nach dem Verlust aller ursprünglichen Bedeutung die Macht.(S. 120, 151) In der Abwesenheit eines weltbezogenen Bedeutungszusammenhangs erstrahlen sie im künstlichen Licht ihrer Leere; und nichts bleibt verschont. Die USA machen es in Reinkultur vor:
In einer ersten Stufe dienen die Zeichen als Dopplung. Sie repräsentieren die Welt, die sie gleichzeitig als eine in feste Objekt- und Subjektbereiche trennbare Wirklichkeit konstituieren und von anderen geschlossenen Objekten abheben. Bereits in diesem Stadium wird das Verschwinden der Welt verleugnet; denn im Bild von der Welt ist ihr rätselhaftes Verschwinden nicht mehr präsent. Sie wird als eine feste Größe fraglos. Ein Beispiel: "Die Bilderverehrer von Byzanz waren spitzfindige Leute, die vorgaben, Gott um seines Ruhmes willen darzustellen, sie jedoch gerade dadurch, daß sie Gott in Bildern simulierten, das Problem seiner Existenz verschleierten. Von seinem Platz hinter jedem dieser Bilder war Gott nämlich verschwunden. Er war nicht tot, er war verschwunden. Das Problem stellte sich also gar nicht mehr. Durch Simulation war es gelöst." (S. 16/17)
Im Stadium der Hyperrealität erlangt das Zeichen durch Rekontextualisierung einen anderen und höheren Stellenwert als den, den es als Repräsentation hatte. Aus dem Repräsentationskontext entnommen und in einen neuen Kontext gestellt, erlangt es seine Bedeutung nicht mehr durch die Unmittelbarkeit und Nähe zum Objekt, sondern durch den "Raum der Bedeutungslosigkeit" und wird somit höherrangiger als die Welt selbst. Denn für Bedeutungen wird der von der Repräsentation entlassene Zeichenkontext selbst konstitutiv. Das mediale Abbild erlangt mehr und mehr Eigenleben, wird immer realer. Die Opposition dieses "Lebens" des Bildes gegen seinen "Tod", die Welt als Illusion, verschärft sich; allerdings ohne die kathartische Erwartung einer Auseinandersetzung, sondern die Welt geht einfach schweigend in ihrem hyperrealen Double unter. (S. 114)
Dennoch lebt dieser Bedeutungskomplex von einem Restbezug zur Welt, da die Deplazierung stets den ursprünglichen Kontext als Referenz benötigt und sei es nur, um ihn zu verwischen oder zu negieren. Baudrillard beschreibt diese Vorstufe des Virtuellen anhand von Marcel Duchamps Flaschentrockner: "Es gibt einen Vorläufer dieser medialen Fauna der virtuellen Technologien, dieser immerwährenden Realityshow: das Ready-made. (…) Der aus seinem Kontext, seiner Idee und seiner Funktion ausgelöste Flaschentrockner wird realer als das Reale (hyperreal) und kunstvoller als die Kunst (…)." (S. 51/52) Diese Analyse gilt nicht nur für den Bereich der Kunst, sondern auch für ganze Kulturen. Es tun sich erschreckende aber einleuchtende Parallelen zwischen Kriegen und für normal gehaltenen Umständen auf: "Amerika ist weder Traum noch Realität, es ist Hyperrealität. Eine Hyperrealität, weil eine Utopie, die von Anfang an als schon verwirklicht gelebt wurde." (S. 44) Sarajewo "…ist die Hölle, aber eine gewissermaßen hyperreale Hölle, die durch die ermüdenden medialen und humanitären Aktivitäten noch hyperrealer geworden ist, da diese die Haltung der ganzen Welt ihnen gegenüber noch unverständlicher erscheinen lassen."
Auf der Stufe der Virtualität treten die Zeichen vollständig an die Stelle der Welt und vertuschen deren Verschwinden. Die Zeichen sind nicht mehr repräsentational, sie funktionieren vollständig autoreferentiell. Die Illusion der Welt geht in der Zeichenoperationen unter. Wo kein Etwas mehr vermutet werden kann, da kann das Verschwinden und das resultierende Nichts nicht als ein Defizit verstanden werden. Im Kern der Virtualisierung und damit des Verbrechens steht die vollständige Abkopplung der Welt von den Zeichen durch eine gewaltige Transformation von Welt in Information, die mit Hilfe effizienter Technologien betrieben wird. In einem "…gigantischen Apparat an Sinn, Berechnung und Effizienz, der all unsere technischen Artefakte bis hin zur aktuellen virtuellen Realität umfaßt, geht die Illusion des Zeichens zugunsten seiner Operation verloren." (S. 34) Denn in dieser Transformation der Welt in selbstreferentielle Zeichen geht das Kontingente, der Ereignischarakter der Welt so vollständig unter, daß noch nicht einmal eine Ahnung vom Verlust der Welt bleibt.
Die USA sind in dieser Hinsicht Vorreiter einer allgemeinen Entwicklung, in der der binäre Code immer bestimmender für alle gesellschaftlichen und individuellen Interaktionsprozesse wird. Der Code, das digitale Bild ist ein Simulakrum der "dritten Art", der virtuellen Stufe, in der das Strukturgesetz des Wertes herrscht. Dieses Strukturgesetz ersetzt die alten Natur- und Marktgesetze des gesellschaftlichen Tausches und operiert aufgrund flottierender, nicht mehr wirklichkeitsbezogener Wertdeterminationen.
Zum Beispiel: Der Wert von Währungen wird wie die Bedeutung von Zeichen in einem von der Welt losgelösten Spiel ermittelt, in dem die auf Differenzen basierende Struktur der anderen bedeutungstragenden Faktoren und Terme den eigenen Wert bestimmt. Das Paradoxale dieser Entwicklung besteht in dem Widerspruch zwischen den kleinsten bedeutungsgenerierenden Einheiten, den minimalen Differenzen in immer kleiner werdenden Einzelinformationen und der Undifferenziertheit der Simulation. "… Ununterscheidbarkeit ist der Höhepunkt der modernen Simulation. Es gibt auch hier kein natürliches Universum mehr, man kann Wüste und Metropole nicht mehr unterscheiden."
Diese Entwicklung ist trostlos, da sie eine Kunst der Vergegenwärtigung des Illusionären im Imaginären unmöglich macht. "Amerika ist überhaupt nicht surrealistisch. Es ist ein Universum der Simulation, das heißt, es kennt keinen Kunstgriff, nicht einmal den des Traums." (S. 190) Der symbolische Tausch wird asymmetrisch, das entleerte, von aller Illusion gereinigte Objekt zum Fetisch, es entsteht das Gesamtbild einer hyperrealen Welt. In der sterilen Virtualität feiern wir unseren Drang nach Unsterblichkeit, schaffen vollständig leidenschaftlose Objekte, perfektionieren ihren Tod, der, als ein reales Eigenleben maskiert, auftritt, um die Welt als Illusion, das Leben in einem asymmetrischen Tauschverhältnis zu verschlucken. (S. 70) Antworten der Anderen Seite sind nicht mehr gefragt, ja es wird überhaupt nicht mehr gefragt im Spiel der sich selbst aufladenden und reproduzierenden Antworten: "In der Sphäre der Medien (…) wird zwar gesprochen, aber so, daß nirgends darauf geantwortet werden kann." (S. 92)
Hohe Auflösung und integrale Realität
Der paradigmatische Schlüsselbegriff
für den Prozeß der Virtualisierung durch Überführung
von allem in Zeichen ist die "Hohe Auflösung". "Überall kennzeichnet
die Hohe Auflösung jenseits aller natürlichen Determination den
Übergang zu einer operationalen - genauer gesagt "hochauflösenden"
- Formel, zu einer Welt, in der die referentielle Substanz immer knapper
wird. (…) Das hochauflösende Bild: Es hat nichts zu tun mit Darstellung,
noch weniger mit ästhetischer Illusion. Die gesamte generische Illusion
des Bildes wird durch die technische Perfektion vernichtet." (S. 53/54)
Durch die Zerstückelung in digitale Einheiten ihre Zusammensetzung und die resultierende Bilderproduktion wird die Welt als vollendet und völlig gegenwärtig dargestellt. "Die eigentliche generative Formel (…) ist die Formel der Binarität, der Digitalität …" vermittels derer wir unaufhörlich Bilder und Zeichen produzieren. (S. 115) Das zugrundeliegende Ereignis, das dem Strom der Vorhersagbarkeit widerstreitet, gerät aus dem Blick und verschwindet sogar in der Information.
Die Welt wird also durch die Transkription in Informationszeichen mehr und mehr als Realität konstitutiert, "realisiert". Die Zeichen selbst tragen keine Spur vom Kontingenten, Geheimnisvollen oder Unfassbaren. Sie sind vielmehr objektiv. In der Objektivität der Zeichen wird die Welt als Realität konstituiert und ihr Realitätscharakter steht nicht mehr in Frage. Die Welt als Illusion verschwindet darin und wird durch eine völlig desillusionierte, totale Gegenwart in vollendeter Echtzeit ersetzt. "Das perfekte Verbrechen ist das einer uneingeschränkten Realisation der Welt durch Aktualisierung aller Daten, durch Transformation all unserer Handlungen, aller Ereignisse in reine Information - kurz: die Endlösung, die vorzeitige Auflösung der Welt durch Klonung der Realität und Vernichtung des Realen durch sein Double." (S. 47)
Diese Transkriptionen macht Baudrillard exemplarisch in verschieden Bereichen menschlicher Lebenszusammenhänge aus: Zeit wird in Echtzeit überschrieben, den Modus der unverzögerten, totalen Aktualisierung, der in der geradezu obszönen Vorwegnahme der Vollendung aller Vollzüge endet. "Die Künstliche Intelligenz: Das ist die langersehnte Realisation des Denkens, vollständig materialisiert durch die unaufhörliche Interaktion aller Virtualitäten in Analyse, Synthese und Berechnung, ebenso wie die Echtzeit sich durch die unaufhörliche Interaktion aller Augenblicke und aller Beteiligten definiert." (S. 56) Das Denken wird in Zeichen und deren Operation überschrieben, in dem der Gedanke im Rechner und seiner permanenten Aktualisierung untergeht. Die künstliche Intelligenz vollendet die Vorwegnahme des Gedankens durch den Rechner. In der gleichen Weise transkribieren wir Körper in Genom, Sexualität in Pornographie, Sprache in numerische Sprachen. (S. 53) Immer mit dem gleichen Ergebnis: hochauflösende Bilder in Echtzeit ersetzen das kontingente Ereignis, das zu beschreiben die Bilder einmal angetreten waren. Die Realität des Beschriebenen weicht der Realität der Beschreibung, die Vollendung des Ereignisses ist immer schon in der Information enthalten.
DIE UNVOLLKOMMENHEIT - SPUREN DES NICHTS
Dieses Verbrechen ist allerdings nicht
perfekt. Es hinterlässt Spuren des Verschwindens, "… denn die Welt
verrät sich durch äußere Anzeichen - sie sind die Spuren
ihrer Inexistenz, die Spuren der Kontinuität des Nichts. Denn sogar
das Nichts, die Kontinuität des Nichts hinterlässt Spuren. Und
durch sie verrät die Welt ihr Geheimnis." (S. 11) Wäre das Verbrechen
perfekt, so könnte es nicht als solches identifiziert werden. Die
Unvollkommenheit ist also in diesem Sinne konstitutiv für das Verbrechen.
Es gilt, die sinnlose Sprach- und Bilderhäufung in der Welt zu durchdenken
und zu mindern, um die verschwundene Konstellation des Geheimnisses und
des ursprünglichen Sinns wiederzufinden.
Im übrigen finden sich in allen, also auch den für perfekt gehaltenen, Zuständen immer auch Risse und Unebenheiten. "Wir hinterlassen überall unsere Spuren - Viren, Lapsus, Keime und Katasrophen -, Zeichen der Unvollkommenheit, die Handschrift des Menschen im Herzen der artifiziellen Welt." (S. 71) Einer der Keime ist die Delegitimierung. Der auf einem Konzept von Subjektivität basierende Wille richtet sich, nachdem die Moderne all ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt hatte, schliesslich gegen sich selbst. Alles wurde dem Willen unterworfen, so auch seine postulierte Freiheit. Das unbeabsichtigte Ergebnis lautet: Es besteht zwar Freiheit, etwas zu wollen, doch keine Freiheit von dieser Freiheit mehr: "Wir sind nicht mehr frei, nicht zu wollen."
Die objektive Ironie der Welt
Die objektive Ironie der Welt besteht
darin, daß sie zwar in den Technologien der Virtualisierung als Illusion
untergeht, sie aber dennoch in der vollendeten integralen Realität
selbst wieder als Illusion in Erscheinung tritt. Denn das Verbrechen an
der Welt ist ein Teil der Welt und die hat unhintergehbar illusorischen
Charakter; es bleibt seinerseits ein Rätsel. (S. 10) Insofern wird
das Verbrechen selbst von dem, was es zu vernichten sucht, in seinen Vollzügen
immer wieder eingeholt. "Letztendlich stehen wir vor zwei unvereinbaren
Hypothesen: die der Vernichtung aller Illusion der Welt durch die Technik
und das Virtuelle - oder die einer ironischen Bestimmung aller Wissenschaft
und allen Wissens, wodurch die Welt und die Illusion der Welt fortbestehen
würden." (S. 117) Doch mit der Bestimmung der Welt als illusorisch
und ironisch bleiben beide Thesen zutreffend.
Hier wiederholt sich die paradoxale Bewegung des Verschwindens und Zeigens der Welt auf einem anderen Niveau. In diesem Sinne ist und bleibt die Welt uns endgültig überlegen.
DAS RADIKALE DENKEN
Radikales Denken ist die Gegenstrategie
zum Verbrechen. Es unterscheidet sich in mehrerlei Hinsichten vom kritischen
Denken. Die Möglichkeit kritischen Denkens ist in einer vollständig
realisierten Welt nicht gegeben. Denn der dazu erforderliche "Außenstandpunkt"
ist selbst ein Teil der Subjekt-Objekt Unterscheidung und damit der Simulation.
Im übrigen gibt es keine Beweise, daß zwischen kritischen Ideen
und der Welt ein Bezug herstellbar ist. Der Bezug löst sich in der
realisierten Welt auf, da sowohl die Welt als Realität vollständig
autoreferentiell funktioniert als auch die Ideen als Teil der Simulation
keinen Einfluß auf sie nehmen können. Die Bezüge zwischen
Welt und Ideen sind in der Welt als Realität abgeschafft.
In der Perspektive des radikalen Denkens erscheint beispielsweise die Situation in Jugoslawien als Teilstück einer verdrängten europäischen Bewegung, die sich unterhalb der Realitätswahrnehmung der Fernsehbilder abspielt. Baudrillard denkt von der finalen Vollendung dieses Prozesses her: "Alle Staaten Europas befinden sich in einem Prozeß der ethnischen Säuberung. So sieht das wirkliche Europa aus, das sich heimlich, still und leise im Schatten der Parlamente herausbildet, und Serbien ist seine Speerspitze. (…) Keine Solidarität der Welt wird etwas daran ändern, das wird wie durch ein Wunder erst dann aufhören, wenn die Vernichtung an ihrem Ende angelangt sein wird, an dem Tag, an dem die Demarkationslinie des 'weißen' Europa gezogen sein wird." (S. 91/92) Schöne Aussichten.
Das radikale Denken setzt auf den Illusionscharakter der Welt. (S. 150) Es denkt von der Vollendetheit des Realen her, es überhöht und überspitzt, ist noch schneller, um in dieser Perspektive das vertuschte Verschwinden der Illusion in den Blick zu bekommen. Es führt eine ironische Matrize des Denkens ein, die die Illusion der Welt in der Realiät sichtbar machen kann. Dieser Modus ist anfallsartig und beruht auf der Originalität seiner Sprache statt auf der Wahrheit seiner Aussagen. (S. 104-106, 147) Radikales Denken unternimmt eine Gratwanderung zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Sinn und Unsinn, Welt und Nichts, abstrahiert von der Realität der schönen neuen Welt, um der Welt und dem Sprechen über sie die Illusion wiederzugeben. "Die absolute Regel des Denkens ist es, die Welt so zurückzugeben, wie wir sie bekommen haben - unbegreiflich - und wenn möglich noch etwas unbegreiflicher." (S. 164)
DAS PERFEKTE VERBRECHEN - TROSTLOSE
ANALYSE IN EINER GLÜCKLICHEN SPRACHE ODER RELIGIÖSE MELANCHOLIE?
Man kann Baudrillard Vieles ankreiden:
Begriffliche Unschärfe, unlogische Argumente, unwissenschaftliche
Vorgehensweise, eine ineffiziente Relation von Textmenge zu Bedeutung und
kryptische Ausdrucksweise um nur einige zu nennen. Nach der Lektüre
stellt sich für einige Punkte allerdings Verständnis ein, manches
davon erscheint sogar als notwendig. Und dennoch: viel von dem, was Baudrillard
zu sagen hat, könnte auch sehr viel klarer, knapper und begrifflich
stringenter formulier werden, ohne dem Inhalt Abbruch zu tun. Doch ich
halte diese Kritik für ein Nebengleis ins Abseits. Denn wenn die Analyse
des perfekten Verbrechens zutrifft, handelt es sich bei den in dieser Kritik
vorausgesetzten Maßstäben selbst nur um eine Reproduktion von
Simulakra, die bei Befolgung zwar ein Maximum an Kohärenz erzeugen
können, aber den Weltbezug in keiner Weise sichern. Im Gegenteil,
sie sind Teil seiner Vernichtung. Insofern muß mit dem Text anders
umgegangen werden.
Das ewige Auftauchen und Verschwinden ist eine Grundfigur im Denken von Baudrillard. Alle Entitäten befinden sich in diesem parmenideischen Strom der Veränderung, kurz scheinen sie in einer Zustandsform auf, Verschwinden aber schon im gleichen Moment, bleiben immer unfassbar und haltlos. So ist das Verschwinden der Welt im Urverbrechen der Illusion ebenso ein Auftauchen, wie das Vernichten der Illusion in der integralen Realität auch ein ironisches Sich-Zeigen der Welt ist. Nichts entkommt dieser Bewegung, nicht einmal das Verbrechen, das seine Vernichtung zum Gegenstand hat. Daher muß auch die Analyse des Verbrechens selbst Teil des Verbrechens wie der Illusion sein. Die Beschreibung wird zum Instrument dessen, was sie beschreibt. In diesem Sinne schreibt sie die Welt und wird von ihr geschrieben.
Wenn aber der Prozeß auch die Beschreibung und das Beschriebene umfasst, so gibt es wiederum keinen Grund, warum die Ironie der Welt das Verbrechen und sein Anderes, die Illusion, an irgendeiner Stelle dieses Prozesses final einholen sollte. Vielmehr beginnt die Bewegung immer von Neuem. Die Realität ist ein Verbrechen, ist eine Illusion, ist ein Verbrechen, ist eine Illusion. Die Ironie der Welt sichert keinen letzlichen Rückhalt der Welt in der Illsuion, auch sie erscheint nur temporär an der Schnittstelle zwischen dem an Perfektion grenzenden Verbrechen und dem Wiederauftauchen der Illusion in den Prozessen des Verbrechens. Die Wiederauferstehung der Welt als Simulakrum ist ihrem Untergang im Simulakrum, ist ihrer Wiederauferstehung als Illusion, ist ihrem Untergang als Illusion gleichgeordnet. Das immerwährende Flottieren orientiert sich an diesen Polen, findet aber weder einen Anfang noch ein Ende.
Die Behauptung, eine solche Position sei nicht hoffnungslos und depressiv (S. 160), grenzt an einen zynischen Abgesang auf die Ironie der Welt. Der Trost im Akt des schönen Schreibens wirkt wie ein hilflosesr Gefangensein in der selbstverordneten, aller Kritikmöglichkeiten beraubten Perspektive. Ein Verschwinden wird lamentiert, ohne daß jemals genau bestimmt werden könnte, um was es sich handelt, ohne daß noch ein Standpunkt möglich wäre, von dem aus der Prozeß nicht nur beschrieben, sondern auch kritisiert werden könnte. Und gerade im Prozeß des Verschwindens taucht all das Illusorische wieder auf, das durch die Machtübernahme der Simulakra vernichtet werden sollte. Das gegenseitige Durchdrungensein der Illusion mit der integralen Realität erhebt fortwährend sein Medusenhaupt. Es erlaubt Anbetung und verspricht die Offenbarung, spielt mit seiner Trranszendenz und verspricht uns unablässig Immanenz.
Aber nehmen wir an, die Ironie der Welt wäre der Moment, wo sich die Illusion immer wieder unweigerlich aufrichtet. So muß man fragen, wie die Realisierung der Welt überhaupt als etwas Gefährliches, etwas Negatives erscheinen kann, ist man sich doch des wiederkehrenden Sieges der Illusion gewiß. Wozu und vor allem wogegen richtet sich die Strategie des Radikalen Denkens? Insofern ist Baudrillards Illusion vom Heideggerschen Sein unterschieden, das die Realität gar nicht einholen muß, weil sie sich immer schon im Haus des Seins, der Sprache konstituiert. Gelassene Freiburger Philosophiepastorale wider die französische Hoffnungslosigkeit, die als solche ohne die Kritik, die sie selbst unmöglich macht aber gar nicht sein, geschweige denn sich in einer revolutionären Erwartung trösten könnte.
So hat man mit Baudrillard nichts in der Hand gegen die infernalische Europadiagnose des Sarajewo-Artikels; zum ironischen Trost aber auch keinen überzeuegenden Grund für sie. Die Graffitisprüche an den New Yorker Häusern haben die Welt entgegen der Vermutung im Kool Killer auch nicht angehalten, geschweige denn die Erwartung erfüllt,die Medien in ihrer Produktionsweise angegriffen zu haben.
Und dennoch: Die Virtualisierung gewinnt aller Orten. Alle wissen, daß etwas verloren geht, doch mit dem Verlorengehen geht auch das Sensorium für das, was da verlustig geht, verloren. Für die Beschreibung dieser Prozesse sind die von Baudrillard vorgeschlagenen Modelle in höchstem Maße hilfreich. Das perfekte Verbrechen ist in der Tat mehr Baukasten eines experimentellen Vokabulars, das sich nicht in seiner Stringenz, vielmehr in seinem Ansteckungscharakter beweisen will. Kann damit die Welt auf neue, interessante und womöglich angemessene Art und Weise in den Blick genommen werden? Finden sich Motive eines absichtlich aus den Fugen geratenen Denkens nicht sogar häufiger in der Welt als kohärente Erzählungen, seinen sie klein oder - ganz unpostmodern - ein grand récit? Solche Fragen werden den Texten von Baudrillard gerecht. In dieser Hinsicht eröffnet sich mit dem perfekten Verbrechen ein neuer und radikaler Wort-Schatz, der eine unzeitgemäße Bestandsaufnahme der virtualisierten Welt der Simulakra ermöglicht.
POSTSCRIPTUM
In diesem letzten Teil soll den vorangegangenen
Gedanken Gerechtigkeit widerfahren, indem die immanente Tragfähigkeit
des Vokabulars anhand einer Bilderfahrung sichtbar gemacht wird. Kann Baudrillard
helfen, mehr und/oder neu zu sehen? Ist das vorgeschlagene Vokabular brauchbar
für die Beschreibung der Lebenssituation von Menschen in Zeiten medialer
Dauerbeschallung?
Der ganz normale Wahnsinn scheint am Mount Everest zu herrschen, wenn wir der Photowerbung einer auflagenstarken Zeitschrift glauben dürfen. Das Magazin wirbt für sich selbst mit großformatigen Bildern von der ach so schrecklich schönen Welt. Das ins Photo gebannte Grauen bittet den ängstlich-feigen Voyeur im Zuschauer zum Tanz. Der soll das Gefühl bekommen, ein wenig herumgewirbelt worden zu sein, so als wäre ein Bild mehr als ein Bild. Und dennoch soll er natürlich gerade nicht in Kontakt treten, sondern in der Vermittlung verharren, kaufen, schauen und lesen. Doch was sieht man auf dem Bild? Was zeigt sich? Und nicht zuletzt: worin besteht der Wahnsinn?
Die Leiche eines erfrorenen Menschen liegt vor dem Photographen, sein Bild vor dem Betrachter. Die Überschrift suggeriert, es handele sich um jemand, der den Mount Everest erklimmen wollte und dabei ums Leben kam. Mehrere Ebenen können unterschieden werden: das Sterben, die Situation des Photographierens, und die des Betrachtens. Die beiden ersteren entstehen als Effekte der letzteren, wirklich sagen kann man über diese nichts. Und dennoch ist es die Eigenschaft der Betrachterperspektive, daß man nicht mehr nichts sagen - oder wenigstens vermuten - kann bezüglich der ersten beiden. Das Schweigen ist gebrochen und mit ihm die Unbescholtenheit der vergangenen Welt, von der das Bild Zeugnis abzulegen vorgibt.
Das Bild lebt als Abbild vom Verweis, dem man nicht nachkommen kann, ohne die Assoziationen, ohne das Nachdenken über das Sterben und das Photographieren. Doch genau darüber kann das Bild selbst nichts sagen. Im Gegenteil, es setzt ein kohärentes Assoziationsmuster voraus, von dessen verlässlicher Abrufbarkeit seine Wirkung lebt. "Jedes photographierte Objekt ist nur die Spur, die das Verschwinden des gesamten Restes hinterlassen hat." (S. 135)
Das Bild kann über Sterben und Photographieren immer nur als etwas immer schon Untergegangenes sprechen, obwohl es vorgibt, genau davon zu zeugen. Denn tatsächlich könnte die Bergsteigerin oder der Bergsteiger an jedem beliebigen Ort der Welt gestorben sein, beim Aufstieg oder Abstieg. Selbstmord, ein Versehen, Erschöpfung, oberhalb der "Moralitätsgrenze" hätte ja auch ein nicht mehr als solcher zu identifizierender Mord geschehen können, alles ist in dem durch das Bild gesteckten Rahmen möglich. Nur das Nichts ist nicht mehr möglich. Es ist ebenfalls verschwunden im Bild. Der grausame Tod des Bergsteigers steht außer Frage, die Notwendigkeit, auf das Bild der Leiche zu reagieren ebenso. Das Bild vom Tod ist selbst nur leichenhafter Verweis auf die Welt.
Das worauf verwiesen wird, ist bereits ein Nichts. Es ist notwendigerweise verschwunden, denn wo die Leiche jetzt wie liegt, wie es am Mount Everest aussieht, weiss niemand. Schon in dem Moment, in dem die Lichtstrahlen das Objektiv des Photographen erreichten, war das Sterben vorbei, war die Leiche bereits nicht mehr am gleichen Ort; schon die Situation des Photographierens ist vom Verschwinden heimgesucht, das Objekt erreicht schon das Objektiv nur definitiv verändert.
Die nochmalige Veränderung durch das Medium selbst vergrössert nur die Entfernung des Betrachters vom Ereignis. In diesem letzten Stadium ist nichts mehr dem Zufall überlassen, die Assoziationsketten sind klar und wenn sich das Bild nicht fügt, dann hilft eben ein wenig Text und Photoshop nach. Alles, was Mensch, Welt und Sterben gewesen ist, ist dem Bild gründlich ausgetrieben. Seine Sprache operiert mit der Entgegensetzung zum verinnerlichten Bildschrim des Lesers in seinem Leserwohnzimmer. So lange man es auch betrachtet, auf dem Bild gibt es vom Unfassbaren des Todes im Eis nichts zu sehen. Sein Wert bestimmt sich von der Kompatibilität und damit der Austauschbarkeit seiner Reizauslöser, Bedeutung hat es nur für den und im Leserbildschirm. Die Repräsentation des gestorbenen Menschen ist verschwunden.
"Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums - Werbung, Photo, etc. - und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin, Fetischismus des verlorenen Objekts - nicht mehr Objekt der Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal." (S. 114)
Das Ereignis des Sterbens, ja auch das des Bildermachens ist verschwunden und nur seine Abgeschlossenheit, seine vollendete Realisierung ist im Abbild präsent. Dem Tod des Bildes korrespondiert die Lebhaftigkeit seiner Verweise und dem Tod im Bild die Lebendigkeit des Sterbe-Ereignisses. Und umgekehrt sichert die Abwesenheit des realen Sterbens dem Bild seinen Status als hyperreale Realität, festigt das Reale als das Andere, den Tod des Bildes und läßt das Objekt damit als leeren Fetisch auferstehen.
Und dennoch funktioniert es, wähnt sich der Betrachter in der Realität. Der ironische Witz ist, daß das auch stimmt. Nur ist eben diese Realität eine illusionslose Realität, die als hyperreales Simulakrum existiert. Man sieht auf dem Bild die leere Hülle eines untergegangenen Todes. Das Sterben ist zum hyperrealen Tod geworden, das Ereignis zum antagonistischen Tod seiner Abbildung.
Sterben ist kein Wahnsinn. Eher deliriert die Normalität des Glaubens, nach der Bilderschau den Tod gesehen zu haben. Es klafft eine gähnende Leere, alles an dieser pietätlosen Mount Everst Inszenierung ist so hoffnungslos weit weg von der Welt, daß man sich unweigerlich nach dem Frieren und dem Sterben zu sehnen beginnt.
Mit Baudrillard erhält man ein reiches Vokabular für die Beschreibung ästhetischer Erfahrungen, ohne sich selbst ad absurdum führende kritische Implikationen. Es ermöglicht eine gedankliche Verschnaufpause im allgemeinen Grundrauschen, das längst zum Dauerlärm geworden ist. Es regt zum Quer- und Neudenken an und inspiriert das Sensorium der Phantasie. Insofern halte ich es für das Sehen und eine Phänomenologie der Lebenserfahrung trotz der genannten theoretischen Schwächen für unverzichtbar.
LITERATUR
Baudrillard, Jean Das perfekte Verbrechen,
München,
1996
Baudrillard, Jean Le crime parfait,
Paris,
1995
Baudrillard, Jean Cool memories II,
in:
Amerika, München, 1995
Baudrillard, Jean Kein Mitleid mit
Sarajevo, in: Lettre International 31, Berlin, 1995
Baudrillard, Jean Amerika, München,
1995
Baudrillard, Jean Der symbolische Tausch
und der Tod, München, 1991
Baudrillard, Jean Kool Killer oder
der Aufstand der Zeichen, Berlin, 1978
Wittgenstein, Ludwig Philosophische Untersuchungen,
in: Werkausgabe Band 1, Frankfurt, 91993