Dana Jestel - Rekonstruktion des Begriffs exzentrische Positionalität des Menschen |
1. Begriff
"Exzentrische Positionalität" ist ein Begriff - oder vielmehr eine
Kategorie -, die Helmuth Plessner zur Bestimmung des Menschen eingeführt
hat, in seinem anthropologischen Hauptwerk "Die Stufen des Organischen
und der Mensch", von 1928.
Plessners erklärte Absicht ist es, die Subjekt-Objekt-Trennung
in der Wesensbestimmung des Menschen aufzuheben. In der modernen Wesensbestimmung
des Menschen erscheine der Mensch, so Plessner, entweder als Objekt einer
Naturwissenschaft oder als Subjekt seines Bewußtseins. Analog dazu
sei die Welt der Wissenschaft getrennt in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.
Die anthropologische Charakterisierung des Menschen, so Plessner, dürfe
aber weder nur mit den begrifflichen Instrumenten der Naturwissenschaft,
noch nur mit denen der Psychologie oder Bewußtseinsphilosophie erfolgen.
Einerseits vernachlässige die Konzentration auf die Bewußtseinsvorgänge
des Menschen seine Gebundenheit an das Körperliche. Andererseits werde
die Körperlichkeit des Menschen auf eine vermessbare Größe
reduziert und ausschließlich naturwissenschaftlicher, empirischer
Betrachtung überlassen. Und es fehle in den biologischen Bestimmungsversuchen
des Menschen der Geist.
Was aber ist Leben? Worin besteht der Unterschied zwischen einem lebendigen
Körper und einem nichtlebendigen? Plessners Bestimmung ist: das was
einen lebendigen Körper unterscheidet, ist sein Verhältnis zu
seiner Grenze. Ein unbelebter Körper ist, soweit er reicht. Organische
Körper dagegen stehen in einem Verhältnis zur Grenze. Der organische
Körper steht in einer Beziehung zum Raum um ihn herum, setzt sich
in ein Verhältnis zu diesem Raum. Dieses Verhältnis zur Grenze,
das ein lebendiger Körper hat, bezeichnet Plessner als Positionalität.
Positionalität ist die logische Form alles Lebendigen. Körper
stehen gegen ihre Grenze und greifen über diese hinaus.
Zentrische Positionalität (Fünftes und Sechstes Kapitel)
Pflanzen und Tieren kommt eine zentrische Positionalität zu. Plessner
unterscheidet hier noch mal die offene Form der Pflanzen und die geschlossene
Form der Tiere.
Offene Form
Geschlossene Form
Die Form des Tieres ist für Plessner sozusagen die Vorstufe zur
Form des Menschen. Erst vom Menschen aus, das ist die Pointe des Buches,
erlangt die zentrische Positionalität der Tiere und Pflanzen Bedeutung.
Die Organisationsformen, so Plessner, sind keine empirischen, sondern ideelle
Unterscheidungen.
Exzentrische Positionalität (Siebentes Kapitel)
Die Form, die das menschliche Verhältnis zur Grenze, also zum eigenen
Körper und über diesen zur Umwelt, charakterisiert, nennt Plessner
Exzentrische Positionalität. Exzentrische Positionalität ist
eine Positionsform, die ihrer eigenen Mitte ansichtig sein kann und nicht
mehr in sich ruht. Der Mensch ist nicht wie das Tier in der eigenen Mitte,
sondern in der eigenen Mitte und nicht in der eigenen Mitte. Er ist exzentrisch.
Wobei dieses Exzentrum keine Verdoppelung der Position ist, kein Ort hinter
oder neben der Mitte, sondern dieselbe Mitte. Exzentrizität bezeichnet
die Logik des neben sich stehens ohne sich dabei zu verlassen. Die paradoxe
Positionalität des Menschen ist, zugleich in sich und nicht in sich
zu sein. Die Stellung des Menschen ist paradox ortlos. Er steht exzentrisch
im Nichts. Was Plessner hier formuliert ist etwas einfacher gesagt: der
Mensch hat Selbstbewußtsein. Er ist dadurch zugleich in seinen Körper
gestellt und aus diesem heraus. Er erlebt nicht nur seine Umwelt, sondern
er erlebt sein erleben. Er weiß um sich.
Verwirrend zu lesen, zum Teil unverständlich, werden seine Ausführungen
da er, entgegen seiner Einsicht, das Bewußtsein sei nicht objektivierbar
also nicht biologisch zu erfassen, daran festhält, das Bewußtsein
objektiv, biologisch zu beschreiben. Komplex ist Plessners These aber aus
einem anderen Grund. Bewußtsein ist bei Plessner einerseits die Bedingung
für Exzentrische Positionalität, andererseits diese selbst. (Exzentrische
Positionalität - als die Form in der der Mensch lebt und sich gegenüber
seiner Umwelt verhält -, hat Bewußtsein zur Voraussetzung, und
ist dieses Bewußtsein selbst.) Plessner charakterisiert Bewußtsein
nicht nur als die wesentliche Eigenschaft des Menschen, sondern als Grundlage
menschlichen Seins überhaupt. Ohne dabei aber das körperliche,
empirische Sein des Menschen idealistisch zu negieren. Die menschliche
Existenz entzieht sich einer rein objektivierenden Betrachtung ebenso wie
einer rein bewußtseinsimmanenten Betrachtung. Exzentrische Positionalität
meint zudem mehr, als daß der Mensch weltoffen oder nicht umweltgebunden
ist. Exzentrische Positionalität bezeichnet die Fähigkeit des
Menschen, Ich zu sich zu sagen. Der Mensch als einzige Lebensform ist eine
Person.
Diese Person ist eine Einheit aus Körper und Bewußtsein -
mit einem sich entziehenden Subjektpol. Körper und Bewußtsein
sind in der Selbstrepräsentation der Person weder identisch, noch
voneinander unterschieden. Detaillierte Ausführungen zu dieser Materialität
der exzentrischen Positionalität macht Plessner erst in späteren
Texten. Zum Beispiel in dem wunderbaren Text über Lachen und Weinen.
Lachen und Weinen sind Grenzreaktionen der exzentrischen Positionalität
auf den Mangel sinnhafter Anknüpfung. Das Verhalten des Lachens oder
Weinens kann aber weder vom Geist noch vom Körper allein aus erklärt
werden. Vielmehr sind Geist und Körper dabei innig vereint. Alle zentrischen
Lebewesen müssen auf Lebenslagen reagieren, sie müssen sich verhalten,
zum Beispiel fliehen, angreifen oder sich totstellen. Aber nur der Mensch
kann, weil er eine sinnhafte Beherrschung seiner Lebenslage finden muß,
in Sinnkrisen kommen. Und wenn er in diese kommt, durch einen Witz oder
durch Verzweiflung, dann überbrückt der Körper die unbeantwortbare
Grenzlage mit sprachloser Heiterkeit oder rüttelndem Weinen. Lachen
und Weinen sind Reaktionen an Grenzen, die nicht willentlich herbeigeführt
werden können und keiner distanzierenden Kontrolle unterliegen. Lachen
und Weinen kann aber nur der Mensch, der willentlich handeln und sich distanzieren
kann.
Die fundamentale These Plessners, scheint mir also die der Einheit der
Person zu sein, das Wissen des Menschen um sich. Exzentrisch positioniert
zu sein hieße demnach, daß zum Beispiel auch dann, wenn man
sich selbst als einen anderen erlebt, man nicht verneinen kann, daß
man es selbst ist, der sich als einen anderen erlebt. Ich-sein und Nicht-Ich-sein
sind identisch. Allerdings differenziert Plessner in seiner Wesensbestimmung
nicht zwischen der des Individuums und der der Gattung. Exzentrisch positioniert
ist sowohl die Person als Individuum als auch die Gattung Mensch. Ebenso
wie ich weder in mir wohne noch mit mir identisch bin, wohnt "der Mensch"
in sich und ist mit sich identisch. "Der Mensch" ist konstitutiv Heimatlos.
Zur Problematik dieser Indifferenz wird zum Schluß noch etwas anzumerken
sein.
Durch die exzentrische Positionalität ist der Mensch an seine Grenze
gebunden, bleibt immer in dieser und gelangt doch darüber hinaus,
kann sich selbst von außerhalb dieser Grenze sehen. Aus diesem Verhältnis
heraus bestimmt sich auch das Verhältnis des Menschen nach außen,
zur Welt, nach innen, zu sich selbst, zum mitsein, zu anderen. Die Exzentrische
Positionalität, dieses zugleich innerhalb und außerhalb des
eigenen Körpers, der eigenen Grenzen sein, ermöglicht dem Subjekt
nicht nur die Erfahrung eines Außen-, Innen- und Mitseinsaspektes,
sondern strukturiert diese Erfahrung auch. Das einzelne Ich erfährt
die Welt vermittelt über seinen eigenen Körper. Es erfährt
seinen Körper als Teil einer Außenwelt in der es viele Körper
gibt. Es erfährt sich selbst vermittelt über Erlebnisse. Und
es erfährt andere vermittelt über das Wissen um seine eigene
Außenseite. So wie es um den Blick auf sich selbst weiß, weiß
es um den Blick der anderen auf sich. Diese Erfahrung aber, ist immer seine
eigene Erfahrung. Sie wird strukturiert durch das erfahrende Ich selbst.
Alles was es erfährt erfährt es in dieser, seiner Perspektive.
Ebenso erfährt "der Mensch" die Welt, sich selbst und die anderen
als eine Art Außenperspektive seiner Innenperspektive.
Plessner begründet die Lebensäußerung des Menschen (Kultur,
Geschichte, Sprache, Utopien) nicht mit Trieben, biologischen Zweckmäßigkeiten
oder Bewußtseinsinstanzen, sondern einzig mit der Bestimmung exzentrischer
Positionalität. Aus der exzentrischen Positionalität des Menschen
leitet Plessner drei anthropologische Grundgesetze ab, die die Frage beantworten,
wie der Mensch seine exzentrische Position, seine konstitutive Heimatlosigkeit
lebt. Die paradoxen Formulierungen der anthropologischen Gesetze entsprechen
dabei der paradoxen Position. Die drei Gesetzmäßigkeiten lauten:
"natürliche Künstlichkeit", "vermittelte Unmittelbarkeit" und
"utopischer Standort".
"Natürliche Künstlichkeit"
"vermittelte Unmittelbarkeit"
"Utopischer Standort"
Der Hauptkritikpunkt besteht wie ich denke zu Recht in dem Mangel ethischer
Bestimmungen in der Wesensbestimmung exzentrischer Positionalität.
Zum einen ist in Plessners Anthropologie die Außenwelt völlig
beliebig. Ein Schlachtfeld und ein Park wären das Gleiche, Außen-
und Umwelt. Außerdem wird nicht ersichtlich, welchen Grund es geben
sollte, einen anderen Menschen als Menschen anzusehen und nicht als Gurke,
da wie Plessner ja richtig sieht, die Zuschreibung dieser Formen nicht
empirisch ist, sondern ideell.
Um Plessner zu aktualisieren müßte man fragen nach dem Verhältnis
von Subjekt und Leben und vielleicht müsste man Plessners Intention
von seinem Vorurteil befreien. Dazu einige Gedanken: Plessners Intention
ist es, den Menschen auf ein nichtpositivistisches Fundament zu stellen,
daß auch die Umwelt mit einbezieht. Sein Vorurteil ist es, daß
Fundamente nur objektiv, naturwissenschaftlich geschaffen werden. Einerseits
ist die Methode, in der Bestimmung des Menschen ausschließlich nur
nach dem "wie" zu fragen und nicht nach dem "warum" die der Naturwissenschaften.
Plessners Bemühung, die Bestimmung des Menschen von allen dogmatischen
Einengungen zu befreien, indem er versucht, das Wesen wertneutral als eine
Art sich denkende Körper zu beschreiben, steht das entgegen, was er
als Wesen des Menschen bestimmt, nämlich Selbstbewußtsein -
das weder gegenständlich ist, noch wertneutral. Andererseits ist die
oben angesprochene Indifferenz von individueller Person und Gattung in
der Wesensbestimmung des Menschen eine Grundproblematik idealistischen
Denkens. Das andere meines Ichs ist nicht gleichzusetzen mit dem anderen,
der ich nicht bin. Und das ich nicht aus mir heraus kann, bedeutet nicht,
daß es außerhalb von mir nichts gibt. Die eigene Fremdheit
erscheint dem Individuum eben nicht in der gleichen Weise, wie die Fremdheit
der Außenwelt. Mein eigener Fuß wird kaum auf mich zukommen,
und anfangen mich zu beleidigen. Außerhalb der Gattung aber gibt
es tatsächlich nichts, weil es kein menschliches Wesen gibt, das nicht
menschlich ist. Das heißt die eigene Fremdheit und die Fremdheit
der Außenwelt ist hier dieselbe. Ganz ähnlich ist der Einwand,
die Anerkennung des anderen als menschlich betreffend. Als abstrakte, spekulative
hat die Bestimmung exzentrischer Positionalität eine andere Bedeutung,
denn als Konkrete. Auch wenn es sich dabei um denselben Menschen handelt.
Der konkrete Satz setzt Lebendigkeit als unantastbare Bedingung voraus.
Der abstrakte Satz bezeichnet die Einsicht in diese Bedingung, welche ohne
diese Einsicht bedeutungslos wäre. Plessner aber setzt Leben der Exzentrischen
Positionalität als Grundlage voraus. Leben ist der zentrale Begriff.
Zu kritisieren wäre, daß lebendigmachendes Sein Bewußtsein
nur dann sein kann, wenn es weiß, daß es dieses Sein selbst
ist. Die bedeutungslose Existenz von Leben als etwas der Einsicht in diese
Vorausgehendes zu setzen, wäre ein Ding an sich, das es, wie bewiesen
wurde, nicht gibt, oder das als Unbestimmtes beliebig instrumentalisiert
werden könnte. Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften IV. Die Stufen des Organischen und der Mensch, Frankfurt am Main 1981 |