Verwaltung des Wohls:
eine contradictio in adjecto?
Sondierungen zu einer Auseinandersetzung mit Habermas These von der
Kolonialisierung der Lebenswelt für die sozialarbeiterische Praxis
(0) Notiz
Mit "Sondierungen" muß ich mich in diesem Rahmen zufriedengeben.
Der Text von Habermas ist als eine reiche und wertvolle heuristische Ressource
zu betrachten, die der Konkretisierung weniger um der besseren Verständlichkeit
willen bedarf als vielmehr aus Gründen der Validierbarkeit.
Aber er ist zu dicht, zu andeutungs- und bezugreich - er spezifiziert z.B.
nicht, welche verschiedenen Arten und Gegenstandsbereiche von "Kolonialisierung"
er im Sinn hat - und er gibt vor allem zu wenig hinreichend konkrete Hinweise
auf konkrete Sachverhalte. Dieses hohe, im Intuitiven verbleibende Abstraktionsniveau
herab zu transformieren auf die Ebene der Empirie würde ein ganzes
Buch erfordern. Ich kann hier nur Ansatzpunkte und Hinweise zu einem solchen
Unternehmen erarbeiten. Wenn mein Text dazu führt, Unzufriedenheit
darüber zu erzeugen, wie wenig er von seiner Intention erst eingelöst
habe, wenn also vage Ideen eines "Mehr" und "Besser" entstehen, dann ist
schon viel erreicht.
(1) Einleitung
Hinter meinem Motiv der Auseinandersetzung mit Habermas These von der
Kolonialisierung der Lebenswelt steht die Frage: welchen Begriff Sozialpädagogen
von Bürokratie und Verwaltung haben sollten. Inwieweit könnte
eine grundlegende und differenzierte Problematisierung von Bürokratie
und Verwaltung für die Sozialarbeit relevant und produktiv sein? Wie
und zu welchem Ende kann die Sozialarbeit ihnen die subtilen und handgreiflichen
Folgekosten ihrer Operationalisierungen und Operationen vorrechnen? Können
kritische theoretische Konzepte, wie das der Kolonialisierung der Lebenswelt,
zu brauchbaren sozialarbeiterischen Instrumenten führen, mit denen
man in der Praxis Probleme z.B. als "paradoxe Justitialisierungsfolgen"
durchschauen und auf diese Weise begrenzen oder gar beheben oder durch
eine entsprechende Handhabung des juristischen Instrumentariums umgehen
kann?
(2) Exposition des Problems
Der Staat der modernen Industriegesellschaften sorgt dafür, daß
im gesellschaftlichen Leben nichts geschieht, was hinter den Stand der
universalistischen moralischen Standarts der bürgerlichen Gesellschaft
zurückfällt. Die Bürger sollen vor den elementaren Existenzrisiken
geschützt werden: Krankheit, Alter, Erwerbslosigkeit, unzureichendes
Einkommen usw. Niemand soll z.B. Hungers sterben müssen, solange andere
noch im Überfluß leben. (Ob das ein Ausdruck echter Solidarität
ist, oder nur eine Vorkehrung zur Pazifierung des Klassenkonfliktes, sieht
man dem geschriebenen Recht nicht an.) Wenn Bürokratie und Verwaltung
in dieser Weise für die Bürger da sind, woher kommt dann
die allenthalben viel beschworene Bürokratieverdrossenheit? Betrachten
wir ein Beispiel:
Eine 33jährige alleinstehende Frau - nennen wir sie Frau Müller - bekommt ihren ersten psychotischen Schub, von dem sie sich nie wieder ganz erholt. Anfangs lebt sie weiterhin in ihrer Wohnung. Sie hat zwei Hunde, für die sie sorgen muß, wodurch ihr Tagesablauf strukuriert und ihre verbleibende Selbstständigkeit motiviert wird. Aber schon bald sind ihre finanziellen Rücklagen aufgebraucht und sie ist gänzlich auf´s Sozialamt angewiesen. Das Amt lehnt es ab, die Ernährung der Tiere zu finanzieren und erlegt ihr auf, sie in ein Heim zu geben. Sobald sie sich nicht mehr um die Tiere kümmern muß, bricht ihr bis dahin noch geregeltes Leben zusammen: sie hat keinerlei Verpflichtungen mehr und verwahrlost völlig. Schließlich wird sie über den sozialpsychiatrischen Dienst wieder in die Klinik eingewiesen und von dort aus in einer betreuten Einrichtung angesiedelt. - Abgesehen von der Sinnentleerung ihres Lebens, die die Wegnahme der Tiere für sie bedeutet und die fortan ihre Krisen verhäufigen und verschärfen, sind die Kosten, die dem Sozialamt jetzt entstehen um ein vielfaches höher, als das, was der Appetit von zwei Hunden hätte verzehren können.Solche und ähnliche Beispiele sind es offenbar, die die Bürokratieverdrossenheit der Bürger nähren. Das Walten: das Planen, Berechnen, Etikettieren, Standardisieren, Operationalisieren von Bereichen menschlichen Lebens, dagegen wehrt sich etwas. Was ist dran an dieser Intuition? Ist in der Bürokratie und der von ihr vorangetriebenen Verrechtlichung sozialer Lebensbereiche zwangsläufig eine "strukturelle Gewalt" angelegt, die die menschliche Wahrnehmung und Erfahrung präfomiert und so zu "falschem Bewußtsein", zu Entfremdung und Verdinglichung des Menschlichen führt?
Die in diesen Fragen artikulierte Intuition von der Paradoxie der bürokratischen Erfassung und Bearbeitung des Sozialen, versucht Jürgen Habermas in seinem Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" unter dem Stichwort "Kolonialisierung der Lebenswelt" zu klären.
(3) Grundzüge der "Theorie des kommunikativen Handelns"
(3.1) Intention und Fragestellung
In seinem Werk "Theorie des kommunikativen Handelns" (ich verweise
darauf nur mit röm. Ziffer (für den Band) und Seitenzahl) versucht
Habermas, die verschiedenen Ansätz der Soziologie: Marx, Weber, Durkheim,
Mead, Parsons, die Kulturkritik von Lukács, Horkheimer und Adorno
sowie Ergebnisse aus Ethnologie, Entwicklungspsychologie und Sprachphilosophie
aufeinander zu beziehen, und eine großangelegte systematisierte Antwort
zu finden auf die klassische Frage der Gesellschaftstheorie: "WIE IST GESELLSCHAFT
MÖGLICH?" Dieser Frage liegt die Auffassung zugrunde, daß Gesellschaft
nicht denkbar ist als die Summe von egozentrischen, nur ihren eigenen Interessen
verpflichteten und nur ihren eigenen Nutzenkalkülen folgenden Individuen
oder Kleingruppen, gewissermaßen als ein durch Rechtsinstitutionen
gebändigter Krieg aller gegen alle (II 177, Durkheim-Zitat). Stattdessen
wird postuliert, daß der Zusammenhalt einer Gesellschaft, die "soziale
Integration" nur möglich sei durch Solidarität: durch
eine moralische Motivation der Einzelnen, durch die sie in ihren Mitbürgern
und in der Gesellschaft mehr sehen, als nur ein Mittel zur Befriedigung
der eigenen Belange, durch die ihnen vielmehr Gemeinschaft und Gesellschaft
zu einem Zweck an sich selbst werden. Die Frage, wie Gesellschaft
möglich sei, versucht also zu beantworten, wie eine solche Solidaritätsbasis
in einer Gesellschaft entsteht, wie sie sich reproduziert, welche Faktoren
die Reproduktion von Solidarität gefährden oder verhindern und
wie sich ein Solidaritätsschwund in den gesellschaftlichen Lebensvollzügen
und den Erfahrungen der Einzelnen bemerkbar macht.
(3.2) Was muß eine Gesellschaft leisten?
Jede Gesellschaft muß sich materiell und symbolisch ("geistig")
reproduzieren.
Zum Verständnis von Struktur und Dynamik der materiellen Reproduktion greift Habermas auf das systemtheoretische Modell der Gesellschaft zurück, das versucht, den in den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie entwickelten Systembegriff auf Gesellschaft zu übertragen. Kennzeichnend für das Systemmodell ist die "Subjektlosigkeit": Die Systemsteuerung wird nicht geplant und gestaltet, sondern sie "ergibt" sich, sie geht hervor aus den tausendfachen Einzelaktionen der Elemente (Emergenz). Trotzdem ist, was sich ergibt, nicht zufällig: Systeme steuern sich gewissermaßen durch die Intentionen ihrer einzelnen Aktoren hindurch. Das beste Beispiel dafür ist die kapitalistische Wirtschaft: die Einzelnen können weder wissen, was ihre Handlungen für die Systemerhaltung bedeuten, noch, inwieweit ihre Motive wirklich ihre eigenen sind, oder wie auch immer durch das Ganze beeinflußt. Auf diese Weise entstanden auch die Steuerungsmedien der Weisungsbefugnis (Macht) und des Güteraustausches (Geld) zur Vereinfachung und Optimierung der Funktionsabläufe. Die Entlastung, die durch sie herbeigeführt werden kann, entsteht daraus, daß Interaktionen abgekoppelt werden von Verständigungsprozessen, d.h. von dem risikoreichen und zeitaufwendigen Verfahren der Konsensfindung (II 269). (In bestimmten Situationen, z.B. auf einem leckgeschlagenen Schiff, kann es fatal sein, sich erst darüber einigen zu müssen, was als nächstes zu tun ist.) Durch diese "Implementierung" von Steuerungsmedien entstehen Probleme zweiter Ordnung, gewissermaßen "nicht-natürliche" Probleme, z.B. die Frage, nach welchen Verfahren am besten zu entscheiden ist, wie die Stellen in einer Hierarchie besetzt werden sollen. Sobald sich solche Regeln der Hierarchiebildung ausgebildet haben, können Diskrepanzen entstehen zwischen: der Sache gerecht werden und der Regel gerecht werden. Gute Studienleistungen z.B. verbürgen keinen guten Arzt, Lehrer, Sozialpädagogen usw. Egal, wie die Curricula der Ausbildungsinstitutionen sich ändern: gut wird für die Institution immer nur heißen: was bei ihren Verfahren systemkonforme Ergebnisse erzielt. - Systeme können nicht anders, als nur sich selbst gerecht zu werden, ihren eigenen Maßstäben und Sollwerten. Für die Belange des Fremden müssen sie sich nur insoweit einen Begriff machen und über Anhaltspunkte für angemessenes Werten und sinnvolles Handeln ihm gegenüber verfügen, insoweit sie es für sich selbst als relevant ansehen (bspw. zu wissen, daß man sich eine Ohrfeige einhandeln kann, wenn man anderen rücksichtlos auf den Fuß tritt.) Diese "Egozentrik" wirkt sich bereits in ihren "Wahrnehmungs"- und "Erkenntnis"-vorgängen aus:
Die gesetzliche Krankenversicherung z.B. verstand sich (nach Chr.v.Ferber 1967) noch Mitte der 60ziger Jahre in erster Linie als eine Institution mit Finanzierungsauftrag. Die Auswertung ihrer Informationen zum Zwecke der Gesundheitsfürsorge (Erarbeitung möglicher Vorsorge- und Verhütungsmaßnahmen) unterblieb (v.Ferber 138f). Es ging nur darum, den Zu- und Abfluß von finanziellen Mitteln zu regeln - d.h. ihr Anliegen war weniger die Gesundheit der Bevölkerung, als die Versorgung des medizinischen Personals. Wir können daran ablesen, wie Systeme "denken". Systeme sind "autopoietisch", d.h. sie sind blind: sie schaffen sich ihre Vorstellung davon, wie ihre Umwelt aussehen könnte, selbst; sie fingieren sie. Sie müssen mit diesen Vorstellungen nicht ihrer Umwelt, sondern nur sich selbst gerecht werden, d.h. solange sie mit diesen Vorstellungen in ihrer materiellen Reproduktion (hier: ihrem sozialpolitischen Auftrag) gut zurecht kommen, läßt sie die Frage kalt, wie es "draußen" wirklich aussieht. (Es ist bspw. ein Organismus denkbar, der nicht zwischen Feuer und Wasser unterscheiden kann, weil er beides gleichermaßen meiden muß und weil beides gänzlich unbrauchbar für seine Reproduktion ist.) Solange die Krankenkassen nicht in finanzielle Engpässe gerieten, war der Gesundheitszustand der Bevölkerung für sie kein Thema. Sie fingen erst an umzudenken, als die Kosten explodierten, ein Bedarf an Methoden der Kostensenkung entstand und die Aufwendungen für die Gesundheitsvorsorge als ein Mittel zur Kostensenkung begriffen werden konnte. So wurde sozusagen von einem Tag auf den anderen jemand, dessen Ansinnen (z.B. Kostenerstattung für Rückenschulung) als ungerechtfertigt und ansprüchlich abgewimmelt wurde, als im Sinne der Institution vorbildlicher weil besonders engagierter Klient begrüßt.Freilich müssen die Reorganisationen nicht immer dazu führen, daß Bewältigungskompetenzen für die neuaufgetretenen Probleme entwickelt werden. Es kommt nur darauf an, daß das Problem für das System kein Problem mehr ist - auf welche Weise auch immer. Es kann reichen, daß das Problem nicht mehr wahrnehmbar ist oder daß es weginterpretiert oder bagatellisiert wird.
Die symbolische Reproduktion konstituiert sich in den Vollzügen der Lebenswelt. Die Lebenswelt besteht - ganz an der Oberfläche - aus Wissen und Überzeugungen. Sie beziehen sich auf drei Bereiche: Welt, Gemeinschaft und eigenes Ich. Sie sind Ausdruck und "Benutzeroberfläche" für die Motivations- und Orientierungsbasis des Handelns, indem sie Erwartungen konstituieren, Erwartungen die sich als hinreichend zutreffend herausgestellt haben um den Akteuren die zum Handeln notwendige Gewißheit geben zu können, von der Verlässlichkeit und Gestaltbarkeit der Dinge, Strukturen und Vorgänge in ihrer objektiven, sozialen und subjektiven Welt. (Handlungsentscheidungen werden völlig anders ausfallen, je nachdem, ob ein Handelnder erwartet, daß er eine unsterbliche Seele hat, oder daß es Ärger einbringt, den Chef auch am Morgen nach dem gemeinsamen Saufgelage noch zu duzen, oder ob es etwas Edles oder etwas Abgeschmacktes ist, ein notorisch fleißiger Mensch zu sein.) Die Erzeugung und Erhaltung dieser kollektiven Gewißheiten nennt Habermas: "symbolische Reproduktion". Sie vollzieht sich durch kommunikatives Handeln. Kommunikatives Handeln ist (idealtypisch verstanden) ein herrschaftsfreier Verständigungsprozeß d.h. alle Teilnehmer haben die gleichen Rechte, zu behaupten, zu fragen, zu zweifeln, u.s.w.. Es herrscht nur der "eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments". Es ist ein Aushandeln gemeinsamer Situationsdefinitionen, durch das die Aktoren "zugleich an Interaktionen teilnehmen, wodurch sie ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen sowie ihre eigene Identität ausbilden, bestätigen und erneuern." Dabei werden nicht nur die Geltungsansprüche der lebensweltlichen Hintergrundüberzeugungen getestet, sondern auch die Solidarität der Angehörigen und die Identität der vergesellschafteten Individuen (II 211). (Indem eine Gruppe von Menschen gemeinsam Probleme bewältigt (Handlungsbedarf und -möglichkeiten erkundet, Pläne aufstellt, Lösungen entwickelt), werden die besonderen Fähigkeiten und Stärken eines jeden Teilnehmers offenbar und damit seine Bedeutung für die Gruppe. Daraus entwickelt sich gleichzeitig die soziale Integration und die Identität eines jeden einzelnen (als jemand, der etwas bestimmtes für das Gruppenleben beiträgt und dessen Zugehörigkeit die Gruppe wichtig findet).)
Habermas Grundgedanke ist nun, daß die symbolische Reproduktion ihre Aufgaben nur dann erfüllen kann, wenn ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt bleibt, d.h. daß es in ihrem Verlauf in dem Maße zu Störungen kommt, in dem die sprachlichen Interaktionen nicht mehr über das Prinzip der besseren Argumente abgewickelt werden, sondern über andere Mechanismen der Koordination - wie z.B. Bestechung, Bedrohung usw. Es kommt dann früher oder später zu Krisen: wir können auf Dauer nicht an Ideen und Werte glauben, deren kulturelle Dominanz nicht auf kommunikativem Aushandeln beruht. Sind bereits subversiv neue Ideen und Werte entstanden, kommt es zur Revolution, fehlen neue Ideen und Werte, entsteht ein Sinnvakuum und es kommt zu einer fortschreitenden Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Entsolidarisierungseffekte zeigen sich an den Stellen, an denen die Mitglieder einer Gemeinschaft gegenseitig auf Vertrauen, Selbstkontrolle und Zurückhaltung angewiesen sind. Sinnenfälligstes Beispiel der gegenwärtigen Entsolidarisierungsprozesse sind die Graffities, die allerorts an den Hauswänden prangen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei nicht um künstlerisch Intendiertes, sondern einfach um das archaische Bedürfnis sein Zeichen zu hinterlassen, wie die Urinmarke eines Hundes. Das hat es immer gegeben. Aber früher mußten sich hauptsächlich Bäume und Felsen Einritzungen, meist von Ausflüglern, gefallen lassen. Das gesamte Stadtbild ohne gesellschaftlichen Konsens für Zwecke wilder, ungezügelter, gestaltungsloser Selbstdarstellung zu benutzen, und gar die Fenster der öffentlichen Verkehrsmittel durch Einritzungen irreversibel zu trüben, hätte sich früher jedoch niemand herausgenommen. Es gab soetwas wie Zurückhaltung - allerdings muß dahingestellt bleiben, ob wirklich aus Achtung vor den Bedürfnissen der anderen oder nicht vielmehr wegen der Vorherrschaft des Syndroms des "autoritären Charakters".
Ausgehend von Max Webers Nachzeichnung der Genese der modernen abendländischen Rationalität (der "Säkularisation") kommt Habermas zu dem Ergebnis, daß ein solcher Erosionsprozeß durch ein "selektives Muster gesellschaftlicher Rationalisierung" (I 325f) ins Werk gesetzt wurde: von einer Rationalisierung, die nur die kognitiv-instrumentelle Rationalität kennt, die sich auf alle Gegenstandsbereiche bezieht, die planbar, systematisierbar, operationalisierbar und mathematisierbar sind, d.h. auf die Gegenstandsbereiche der materiellen Reproduktion. Eine kommunikative Rationalität wurde dagegen nicht systematisch ausgebildet, geschweige denn institutionalisiert.
Das ist "logisch", d.h. das historisch Wahrscheinlichere: von der instrumentellen Rationalität können unsere Interessen nur profitieren, sie ist politisch und ideologisch neutral. Die Entfaltung einer kommunikativen Rationalität würde dagegen bedeuten, sowohl eigene Interessenlagen als auch die eigene Ideologie immer wieder zu problematisieren und zur Disposititon stellen zu müssen. Instrumentelle Rationalität läßt sich ferner routinisieren und institutionalisieren, während der "herrschaftsfreie Diskurs" sich immer wieder neu generieren, d.h. gegen Interessenlagen durchsetzen muß. Instrumentelle Rationalität ist mit weniger Angst und Unsicherheit verbunden, hat handgreiflichere Erfolge und wird nicht durch partikularistische Interessenlagen demotiviert.
Habermas´ These ist, daß dieser einseitige Rationalisierungsprozeß und die damit verbundene immer größere Ausweitung und Hegemonie des "Systems" der materiellen Reproduktion dazu geführt habe, daß der "fundamentale Vergesellschaftungsmechanismus sprachlicher Verständigung auf systemische Mechanismen umgepolt worden" sei (II 462), d.h. daß die Interaktionen und Verständigungsprozesse, aus denen sich die Werte, die Solidarität und das Weltverständnis der Lebenswelt reproduzieren, immer weniger bestimmt werden durch die Verständigungsleistungen ihrer Angehörigen und immer mehr von den anonymen, eigengesetzlichen, mediengesteuerten Reglungsprozessen der materiellen Reproduktion. Darin sieht er eine Zersetzung der Eigengesetzlichkeit der symbolischen Reproduktion: ihre Unterwerfung und Ausbeutung durch das "System". Dieses Geschehen macht er für die "Lebensweltpathologien" verantwortlich, die seit gut anderthalb Jahrhunderten in Soziologie und Literatur immer genauer zu artikulieren und zu begreifen versucht werden. Die Verrechtlichung und Bürokratisierung ist dabei nur eine Form der Kolonialisierung.
Zur Illustration möchte ich kurz den gesellschaftskritischen Hintergrund in Erinnerung rufen, den Habermas bei seiner Argumentation im Sinn hat. Dafür möchte ich ad hoc fünf verschiedene Arten von kolonialisierungsspezifischen Entfremdungsmechanismen unterscheiden:
- Suggestion
Das bekannteste und bereits gut dokumentierte Phänomen der Lebensweltkolonialisierung
ist die Konsumgesellschaft: die systemischen Zwänge einer kapitalistisch
strukturierten materiellen Reproduktion nutzen antropologische Bedürfnisse
und Prozesse aus, indem sie sie werbetechnisch in Schlüsselreize umsetzen
und zur Stimulation der Nachfrage umfunktionalisieren (z.B. Geltungsbedürfnisse
(vor allem hinsichtlich sexueller Konkurrenzfähigkeit); Gesundheits-
und Sauberkeitsbedürfnisse; die Dynamik der Rudelbildung von Halbwüchsigen
("Peer-groups") und ihr entwicklungsnotwendiges Abgrenzungsbedürfnis
von der Generation der Eltern; und schließlich diffuse Sehnsüchte
und Wünsche wie die nach Einheit mit der Natur, Freiheit und Unabhängigkeit,
ewiger Jugend usw.). Diese Instrumentalisierung der menschlichen Bedürftigkeit
zur Nachfragesteigerung wirkt als Manipulation auf die symbolische
Reproduktion zurück, auf die Werte und Denkinhalte der Einzelnen.
Hier wird die Möglichkeit der Kultur, in Prozessen selbstbestimmter
Gestaltung neue Bedürfnisinterpretationen und Verhaltensweisen zu
entwickeln, eingeschränkt, um nicht zu sagen stillgestellt.
Die Ambivalenz von Authentizität und marktinduzierter Affektivität läßt sich beispielhaft an Phänomenen wie der Rockmusik ablesen. Auf der einen Seite kann ihr - entgegen der entschiedenen Ignoranz von Bildungssnobs wie Adorno - durchaus zugestanden werden, eine prinzipiell produktive Lebensäußerung zu sein (Menschen fangen einfach an, so oder ähnlich Musik zu machen und zu tanzen, wenn sie Gelegenheit haben). Andererseits geht es Menschen, die nicht in diesen Kulturbereich einsozialsiert wurden und deshalb über eine gewisse Distanz verfügen, beim Erleben solcher Musik meist so, daß sie eine gewisse Abgeschmacktheit empfinden, die von der gemachten Effekthaftigkeit und Charismatisierung ausgeht.
- Konditionierung
Durch die Zwänge der materiellen Reproduktion werden bestimmte
Verhaltensweisen "belohnt", andere "bestraft". Neue Lebensformen, wie z.B.
die Kleinfamilie, das ungebundene Singeldasein usw., entstehen auf diese
Weise ohne daß irgentjemand sich dafür bewußt entschieden
hätte, d.h. ohne daß sie Ergebnis einer bedürfnisinterpretierenden
und wertgenerierenden Selbstbesinnung wären.
- Reduktion
Bürokratisierungsprozesse, wie die des Kurzschließens des
Bildungssystems mit dem Beschäftigungssystem (II 545) sind Vorgänge,
die die Selbstgestaltung der symbolischen Reproduktion in erster Linie
äußerlich
hemmen: wenn z.B. in Schule und Studium die Kreativität der Lehrer
und die Entfaltungsmöglichkeiten der Schüler stillgestellt werden
durch ridige curriculare Bindungen und Regelstudienzeiten, die die "Lehrjahre"
um "Bildung" im emphatischen Sinne beschneiden und zu einer aufs rein Technische
reduzierten Version des jeweiligen Berufes verkürzen.
Durch Konditionierung und Reduktion kann langfristig ein weiterer Mechanismus entstehen:
- emergente Suggestionsbildung
Wenn z.B. durch Reduktion das umfassendere und reflektierte Verständnis
eines Berufes allmählich aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein
schwindet und die entsprechend differenziertere Berufspraxis verlorengeht,
suggerieren die so entstandenen gesellschaftlichen Lebensvollzüge,
als gebe es auch nichts sinn- und wertvolleres als die Sorge um den reibungslosen
Ablauf des vorgefertigten Berufslebens und des entsprechenden erholungsdienlichen
Freizeitausgleichs. Das Verständnis davon, was "Beruf" und "Leben"
heißt, wandelt sich.
So z.B. beim Wandel des Arztbildes: Es verschwinden der Aspekt naturwissenschaftlicher Faszination, der die ärztliche Praxis immer auch unter dem Gesichtspunkt der Erweiterung der Erkenntnis des Lebendigen sieht und der Aspekt des Helfens aus Betroffenheit über menschliches Leid. Beide wecken Ambitionen, die eine Trennung von Berufsleben und Leben verwischen. An deren Stelle entsteht das Selbstverständnis eines hochwertigen Dienstleistungsunternehmens, bei dem es um Warenaustausch geht, und Engagement für die Güte der eigenen Arbeit zur "Qualitätssicherung" wird: einem Instrument zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit. Das führt zu einer klaren Trennung von beruflichen Aktivitäten und Freizeitausgleich. Die Folge davon ist, daß die ärztlichen Leistungen tendenziell auf die Erfüllung der akademischen Standards reduziert werden. Wir werden sehen, wie solche Suggestionsbildungen als Nebenfolgen der Bürokratisierung auf deren Anliegen kontraproduktiv zurückwirken.
- Konfusion
Die Mediatisierung kann aber auch
unmittelbar in Verständigungsprozesse
eingreifen und diese zersetzen. Das läßt sich an einem Beispiel
des Warenfetischismus in seiner ausgeprägtesten Form veranschaulichen:
an der Tätigkeit eines Versicherungsvertreters:
Ein Versicherungsvertreter verdient sein Geld auf Provisionsbasis: er muß dafür sorgen, möglichst viele Kunden zu versichern. Dabei kann er manipulierend vorgehen und irrationale Sicherheitsbedürfnisse ausnutzen. In diesem Fall hat er eine erfolgsorientierte Einstellung eingenommen. Vielleicht ensteht ihm dadurch ein moralischer Konflikt, aber die Fronten sind klar. Anders sieht es aus, wenn er keine erfolgsorientierte Einstellung zu seinem Kunden einnehmen will, wenn er rechtschaffenen Charakters ist, und sich als "Berater" versteht. Dann gerät er in Orientierungsschwierigkeiten: Mit seiner Ehrlichkeit und Nettigkeit erzeugt er Vertrauen, das seine Kunden zum Geschäftsabschluß motivieren und ihm zusätzlich über Empfehlung neue Geschäftskontakte einbringen kann. (Bspw. kann er mit plausiblen Argumenten von bestimmten Versicherungen abraten und wird dadurch als uneigennützig gelten.) Seine Ehrlichkeit kann daher auch Mittel zu größerem Erfolg sein. Deshalb kann er nie sicher sein, ob seine vorgebliche Verständigungsorientiertheit nicht in Wirklichkeit von ihm selbst instrumentalisiert wird, ob seine Redlichkeit nicht zur vertrauensbildenden und werbewirksamen Pose wird. (Da den Versicherungen ihre Sinnhaftigkeit nicht immer ins Gesicht geschrieben steht, wird er z.B. oft nicht wissen, bei welchen Verträgen es nun tatsächlich redlich wäre, zu- oder abzuraten.) Die Warenform erzeugt eine Befangenheit: die Anbieter können nicht mehr entscheiden, ob es ihnen um den Gebrauchswert oder den Tauschwert geht, ob sie zu dem Menschen, der ihnen als Kunde gegenübersteht eine kooperative Einstellung haben oder eine erfolgsorientierte. Sie werden schließlich auch im privaten Bereich nicht mehr wissen, was an ihrem augenscheinlich redlichen und netten Verhalten Pose ist und was echt: sie haben ihre Redlichkeit prostituiert, sie sind von sich selbst entfremdet. Es wird extern belohnt, was seinen Lohn nur in sich selber tragen kann.Die Anteile der Entremdung, der auf die vom Wirtschaftssystem gesteuerte Expansion der Konsummentalität und der Degradierung der Arbeit zum "Job" (II 493f) sowie die vom politischen System gesteuerte "Segmentierung der Wählerrolle" (II 506ff) zurückgehen, sowie das Argument der "Pazifierung des Klassenkonflikts" (vergl. II 510f und 530; v. Ferber 28) werden von Habermas nicht weiter verfolgt. Er konzentriert sich auf Prozesse der Verrechtlichung und hier hat er vor allem die Sozialpolitik im Auge.
(4) Die paradoxen Effekte der Bürokratie
Können paradoxe Effekte der Bürokratisierung des Sozialen
dadurch entstehen, daß die Bürokratie mit anonymen, eigengesetzlichen,
mediengesteuerten Reglungsprozessen in die Lebenswelt eindringt, um dort
die Ergebnisse kommunikativ sich vollziehender Prozesse gemeinsamer Situationsdefinitionen,
solidarischer Lastenverteilung und interaktiver Persönlichkeitsentwicklung
so kalkulierbar wie die Leistungen einer Maschine machen zu wollen?
Die Paradoxien der Bürokratisierung sieht Habermas in einer "Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug" (II 531). Diese Effekte seien zwangsläufig mit der Verrechtlichung verbunden, d.h. "die negativen Effekte... stellen sich nicht als Nebenwirkungen ein, sie ergeben sich aus der Struktur der Verrechtlichung selber" (ebd.). Die Entfremdungseffekte wären daher nicht Folge ungeschickter, unausgereifter oder ungerechter gesetzlicher Bestimmungen oder verwaltungstechnischer Verfahren sondern wären per se verbunden mit der bürokratischen Erfassung von Bereichen der Lebenswelt d.h. durch kein Dazulernen, durch keine Reformen der Bürokratie abzubauen oder zu vermeiden. Aus dem Text von Habermas lassen sich, soweit ich sehe, drei Formen von paradoxen Bürokratisierungsfolgen herauslesen:
(4.1) Paradoxien von Operationalisierung und Objektivierung
Die Institutionen der sozialen Sicherung versteht Habermas als eine
"Verrechtlichung von Lebensrisiken", die einen "bemerkenswerten Preis in
Form von umstrukturierenden Eingriffen in die Lebenswelt der Berechtigten"
erfordere. "Diese Kosten entstehen durch den bürokratischen Vollzug
und die monetäre Einlösung der sozialrechtlichen Ansprüche.
Aus der Struktur des bürgerlichen Rechts ergibt sich die Notwendigkeit,
die sozial-staatlichen Verbürgungen als individuelle Rechtsansprüche
für genau spezifizierte allgemeine Tatbestände zu formulieren"
(II 531). Von dieser Spezifizierung gehe ein erheblicher Zwang zur "Umdefinition
von Alltagssituationen" aus (II 532): "Die regelungsbedürftige, in
den Kontext einer Lebensgeschichte und einer konkreten Lebensform eingebettete
Situation muß einer gewalttätigen Abstraktion unterworfen werden,
nicht allein weil sie rechtlich subsumiert werden muß, sondern damit
sie administrativ bearbeitet werden kann. Die leistenden Bürokratien
müssen dabei stark selektiv verfahren und die sozialen Notlagen auswählen,
die sich unter den rechtlich fingierten Ausgleichstatbeständen mit
Mitteln einer legal verfahrenden bürokratischen Herrschaft überhaupt
erfassen lassen" (ebd.). Das führe zu belastenden Konsequenzen "für
das Selbstverständnis des Betroffenen und für seine Beziehungen
zum Ehepartner, zu Freunden, Nachbarn usw..." (ebd.).
Wie können uns diese Ausführungen beim Verständnis von Frau Müllers Problem helfen? Frau Müller und eventuell ihr Sozialarbeiter können bei dem zuständigen Sachbearbeiter und dessen Vorgesetzten nicht auf der Basis einer gemeinsamen Definition des realen Problems etwas geltend machen, sondern nur auf rechtlicher Basis. Der lebensweltliche Modus, solidarische Hilfe abzurufen, indem man seine Notsituation und seine Befindlichkeit schildert, greift hier völlig ins Leere. Anstatt dessen muß man namhaft machen, was man von dem, was einem von Rechts wegen zusteht, nicht hat - denn was von dem realen Problem in die rechtlichen Bestimmungen nicht hineinpaßt wird vom Amt rücksichtslos ignoriert, völlig unabhängig davon, wie verständnisvoll die Beamten sind. Wir können von einer "Entmächtigung guter Gründe" sprechen. Früher waren es (überpointiert ausgedrückt) mitleidige reiche Damen, die Armenspeisungen einrichteten. Heute ist die Wohlfahrt eine öffentliche Aufgabe, man will die Versorgung kalkulierbar machen: ob Bedürftige Unterstützung finden und inwieweit sie Unterstützung finden soll nicht mehr von den Größe des Herzens und der Geldbeutel wohlhabender Damen abhängig gemacht werden (Freiheitsverbürgung). Und die Kalkulierbarkeit der Versorgung kann nunmal nur gewährleistet werden durch die Kalkulierbarkeit der versorgungsleistenden Institutionen. Und für die Planbarkeit und Gerechtigkeit der Verteilung ist Operationalisierung und Objektivierung notwendig: die genaue Spezifizierung der Klientenansprüche (Definition von Notlagen, ihre Beobachtbarkeit und Begreifbarkeit für die Institution) und der Bedingungen, unter denen ihnen diese entstehen (Meßbarkeit und Nachweisbarkeit der Notlagen). Die gesellschaftliche Solidarität ist an Formalismen delegiert worden - sie wird nicht mehr dezentral vollzogen, an den Problemfronten selbst (in Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft). Das kann in Einzelfällen zu kontraproduktiven Effekten führen - aber wieso soll es zu Entfremdungserscheinungen führen, zu einer Zersetzung der symbolischen Reproduktion, zu Beschädigungen von Solidaritäten und Identitäten (Freiheitsentzug)?
Habermas beruft sich zur Stützung seiner These u.a. auf die Studie Ch.v.Ferbers. V.Ferber versuchte darin die "Borniertheit" (v.Ferber 72) der sozialstaatlichen Institutionen dingfest zu machen: Die Art und Weise, wie den Institutionen die Abwicklung ihrer Aufgaben überlassen werde, müsse zwangsläufig zu "Fiktionen" über die (soziale) Wirklichkeit führen und zu dem entsprechenden Verfehlen des tatsächlichen Bedarfs. Die sozialpolitischen Institutionen würden "nur die Begriffe des Rechts und der Volkswirtshaftslehre als Ereignis bewertende und Erfahrung konstituierende Schemata" zulassen (v.Ferber 70). Dadurch würden die Grenzen des sozialpolitisch jeweils Möglichen abgesteckt, Grenzen der Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungsfähigkeit für Existenzprobleme: die existentielle Lage von Personen könne nur nach rechtlichen und volkswirtschaftlichen Kriterien definiert werden. "Eine Transformation in die Symbolsprache der Sozialverwaltung und die ihr folgende Entscheidung, die sich dann auf die mit der Ermittlung produzierten Merkmale stützt", zwinge in jedem Einzelfall zu einem Kompromiß. Das bedeute, "daß die Symbolsprache der sozialpolitischen Institutionen die soziale Notlage, die Hilfsbedürftigkeit zu einem Produkt der Sozialgesetzgebung machen, ja, daß der Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung mehr nach den juristisch geschaffenen Tatbeständen sich ausrichtet als nach den Bedürfnissen individueller Not." (v.Ferber 75). So werde "unter bewußter Ausklammerung des gesellschaftlichen Aspekts allein die mögliche Verteilung zukünftigen vermehrten Volkseinkommens diskutiert" (v.Ferber 10). Alle nicht-monetären Quellen des sozial-ökonomischen Status würden vernachlässigt, mit der Konsequenz, daß die Sozialleistungen an der Lebensführung der Einzelnen vorbeigingen und die sozialpolitische Debatte systematisch zu Mißverständnissen führe (v.Ferber 19). Als Beispiel, an denen der Leistungsmangel der Verwaltungssprache sowie der verbleibenden Handlungsbedarf abgelesen werden können und Anhaltspunkte für Veränderungen sichtbar werden untersucht v.Ferber u.a. die Altersversorgung: Die rein ökonomische Umdefinition des Alterns sei ein "fingierter" Tatbestand, der zu einem "Auseinanderfallen von physischen Überlebenschancen und soziokultureller Zukunftsperspektive" (v.Ferber 97ff) führe. Das Altern werde nicht als soziokultureller Prozeß verstanden, der sozialpolitisch beeinflußbar sei (v.Ferber 101), sondern als rein biologischer Prozeß begriffen. Selbst da, wo Alterungsprozesse von individuellem Verhalten abhingen (Rauchen, Überfütterung, Bewegungsarmut; v.Ferber 110f) würden die soziokulturellen Faktoren übersehen, die ein solches Verhalten wahrscheinlicher machten als ein weniger selbstdestruktives. Auch die Medizin sei für die Soziogenese der Alterskrankheiten blind. Das habe zur Folge, daß das Alter schließlich als ein defizienter Modus verstanden würde, als ein "Nicht-Mehr", ein "Vorbei", eine Verschleißerscheinung, die zum Ausscheiden aus der Marktaktivität führe. Zweifellos hat v.Ferber recht: es ist verfehlt, die soziokulturellen Faktoren des Alterns auszublenden. ("Was ist gesellschaftsunabhängige biologische Manifestation?" v.Ferber 111). Der Altersabbau ist auch abhängig vom Bestehen oder Nicht-Bestehen eines erlebbaren Lebenssinns in Form sozialer Kontakte und Ausrichtung der Existenz über das eigene Leben hinaus (Bedeutsamkeit für die, die einen überleben werden). Auch die Gleichsetzung mit beruflicher Leistung und produktiver Leistung überhaupt, wie es der Defizienzbegriff des Alters nahelegt, ist verfehlt (v.Ferber 105). (Darin zeigt sich deutlich das selektive Muster gesellschaftlicher Rationalisierung, der Primat der funktionalistischen Vernunft: am Menschen wird nur das wahrgenommen, was meßbar relevante Wirkungen für die materielle Reproduktion erbringt.) Aber worauf v.Ferber aufmerksam macht, ist grade nicht, daß der Rechtstatbestand der Berentung als Rechtstatbestand zwangsläufig zu den genannten oder anderen Entfremdungserscheinungen führen muß, und deshalb auch durch keine "Nachbesserung" entpathogenisiert werden kann. V.Ferber betont vielmehr, daß die Alterungsprozesse einer Gesellschaft sozialpolitisch beeinflußbar seien. Eine pathogene Umstrukturierung entstehe durch die Berentung nur, wenn die dadurch bewirkten Veränderungen durch keine komplementären sozialen Umstrukturierungen abgefangen würden. Hier kann man also einen Handlungsbedarf für sozialpolitische Institutionen sehen, mit dem sie grade einer Pathologisierung des Ausstiegs aus dem Berufsleben entgegenwirken können. Wir haben es hier noch nicht mit einem Paradox zu tun, daß der Bürokratie selbst anhaftet, sondern nur mit einem kontraproduktiven Effekt, der sich aus der Ignoranz des Systems ergibt, der aber deshalb auch durch weitere Differenzierung abbaubar ist. In diesem, gewissermaßen "nicht-malignen" Sinne könnte Bürokratie vielleicht als sinnvolle Skelettbildung Lebensbereiche strukturieren, die dann mit florierenden kommunikativen Interaktionen ausgefüllt werden können. Wir sind aber auf der Suche nach pathogenen Effekten, die strukturell mit der Bürokratisierung verbunden sind, d.h. mit der Art der Veränderungen, die ein Lebensbereich durch Verrechtlichung erfährt, die also durch keine Reformen zu verhindern sind. Oder um im Bild zu bleiben: wir sind auf der Suche nach einem "malignen" Sinne von Bürokratisierung, indem die Kalzination die Gewebe und Organe der Lebenswelt durchdringt und verknöchert. Gemäß der These von Habermas treten diese "malignen" Effekte in Form von Störungen der Verständigungsprozesse auf. Dort haben wir danach zu suchen. -
Wir können Frau Müllers Fall unter die reduktionsbedingten emergenten Suggestionseffekte subsumieren: als eine Beeinträchtigung, die über die bloße Veränderung der Lebensumstände hinausgeht, indem mit ihr symbolische Folgewirkungen verbunden sind. Der englische Wittgensteinschüler P.Winch prägte für die soziale Faktizität der Ideen den Begriff der "Innerlichkeit sozialer Beziehungen" (Winch 1974). Er geht davon aus
... daß die sozialen Beziehungen zwischen Menschen und den in den Handlungen der Menschen verkörperten Ideen in Wahrheit dieselbe Sache seien..."( Winch 154). Winch bringt ein Beispiel aus einem sozialpädagogischen Standartwerk seiner Zeit: "...eine Sozialfürsorgerin sei verpflichtet, zu ihrem Klienten eine Freundschaftsbeziehung herzustellen, dürfe jedoch nie vergessen, daß sie in erster Linie gegenüber der Politik der Institution, bei der sie angestellt ist, eine Verpflichtung trage. Das ist nun aber eine Herabwürdigung des Begriffs der Freundschaft, wie er bisher verstanden worden ist und der diese Art geteilter Loyalität, um nicht zu sagen Doppelzüngigkeit ausschloß" (Winch 156).In einer Gesellschaft, in der das beschriebene Verhalten unter Freunden üblich würde, würde die Idee der Freundschaft sich wandeln und entweder würde gleichzeitig eine neue Idee d.h. ein neues Wort entstehen, dessen Bedeutung etwas von dem ehemaligen Charakter von Freundschaft bewahrte, oder es würde eine bestimmte Haltung, die Menschen gegeneinander einnehmen können, aussterben: "Freunde" wären etwas ganz anderes, als ehedem darunter verstanden wurde. Zwischen Sprache und Verhalten besteht ein Zusammenhang: in einer Kultur kommt nur vor, was in ihrer Sprache vorkommt. Neues Verhalten, neuartige Bedürfnis-interpretationen sind immer auch Spracherneuerungen. Wir müssen daher davon ausgehen, daß die Art und Weise wie in den sozialpolitischen Debatten geredet wird, das Vokabular, daß sie entwickeln und das, was sie nicht entwickeln, auch auf das gesellschaftliche Vokabular zurückwirkt: Was für Frau Müller ein existentielles Problem ist, gilt ihren Nachbarn vermutlich nur als "Hobbie" und es hätte sie empört, wenn sie erfahren hätten, daß ihre Steuergelder an Frau Müllers Hunde verfüttert werden. Das selektive Muster der gesellschaftlichen Rationalisierung führt zu einer Selektivität des Vokabulars für menschliche Notlagen und damit auch zu einer Verarmung ("Selektivitätssteigerung") sozialer Wahrnehmung und Beziehungen. Die Verständigung wird gestört durch semantische Löschungen in der Sprache, die gewissermaßen eine "Taubheit" für bestimmte Bedeutungsnuancen bewirken. Die Folge davon sind mehr oder weniger subtile Formen von Ignoranz.
Verdeutlichen können wir uns die "Innerlichkeit sozialer Beziehungen" auch an der Todesstrafe: welche Auffassung vom Wert des menschlichen Leben muß in einer Gesellschaft herrschen, die Menschen hinrichtet. Und was sind die Folgen, wenn sogar nicht mal mehr davor zurückgeschreckt wird, das Lebensrecht antastbar zu machen?
Aber diese über v.Ferbers Argumentation hinausgehende allgemeine Kulturkritik bleibt unbefriedigend: zum einen behandelt sie sehr subtile gesellschaftlich-kulturelle Vorgänge, deren Relevanz kaum die tägliche berufliche Praxis erreicht; zum anderen, erzeugt sie "nur" Evidenzen, denen immer auch Evidenzen entgegengestellt werden können. So könnte unserer Analyse z.B. die These erwidert werden, daß es vielleicht verschiedene Diskurskontexte gebe, deren jeder seine eigene Sprache habe, so daß es sich nicht ausschließe, in dem einen als angemessene und akzeptale Beschränkung im Rahmen des Ressourcenmanagements zu thematisieren, was in dem anderen als konstitutiver Bestandteil des Lebenssinns gelte. Nachweise für gesellschaftliche Phänomene von Sprach- und Beziehungsverlust, die mit diskutablem Anspruch auf Objektivität auftreten könnten, stelle ich mir sehr schwierig vor: der traditionelle Begriff der Freundschaft z.B. müßte operationalisiert werden - etwa mit dem Parameter: Stabilität über längere Zeiten der Abwesenheit - und dann mit dem, was heute als Freundschaft praktiziert wird, verglichen werden. Und was hätten wir dann gewonnen? Wir hätten allenfalls eine Veränderung festgestellt, die von den einen als Verlust, von anderen als Wandel gewertet würde. Das zeigt nur, wie wenig es hier - wie überhaupt - auf Überzeugungen ankommt. Wie in den Naturwissenschaften ist dagegen zu fragen, ob uns eine Analyse instand setzt, etwas zu tun, was wir vorher, ohne sie, nicht tun konnten. Denn unsere Frage war ja, was wir aus der Analyse von Bürokratie und Verwaltung gewinnen für die Standortbestimmung der Sozialarbeit und für ihre Praxis, sofern sie in Bürokratie und Verwaltung eingebunden ist und mit ihr zu tun hat. Die Naturwissenschaft konstruiert die von ihren Theorien und Berechnungen vorausgesagten Effekte. Gelingt es, einen solchen Effekt zu erzeugen - z.B. mit einer eigens dafür entwickelten Anlage ein Teilchen nachzuweisen, dessen Existenz bislang nur postuliert wurde - sind nicht nur die Theorien bestätigt - das ist das Wenigste - sondern die technischen Möglichkeiten sind erweitert. Warum nicht kritische Theorien der Gesellschaft ähnlich auffassen? Wir können die kritischen Theorien benutzen, um die Probleme konkreter Interaktionen besser zu verstehen. Ich werde in meiner praktischen Arbeit den Gedanken weiter verfolgen, daß reduktionsbedingte Sprachverluste als systematische Kommunikationsverzerrer in Erscheinung treten können; z.B. wenn einem alten Menschen unterstellt wird, langweilig - weil: alt - zu sein, und der Mensch, der solches erfährt nun seinerseits zu unterstellen beginnt, daß ihm mit solcher Unterstellung begegnet wird... Oder im Beispiel von Frau Müller: Sie spürt, wie wichtig die Hunde für sie sind, und wie wichtig sie für die Hunde ist und wie "unmenschlich" aber auch wie schädlich es wäre, wenn ihr Bedürfnis, die Hunde zu halten, nicht akzeptiert wird. Und deshalb glaubt sie, bestimmte Ansprüche zu besitzen, weil ihr und den Tieren sonst Leid und Unrecht angetan würde. Aber von ihrer Familie wird sie deshalb für krank gehalten, weil ihrem Glauben im Sozialgesetzbuch nichts entspricht, d.h., weil sie in einer eingebildeten illusionären Realität lebe. Aber eine Illusion ist allenfalls ihre Naivität, daß mit ihrer Notlage sachlich angemessen umgegangen werden müsse - ihre eigene Definition ihrer Notlage ist völlig real. Sie für krank zu halten, weil sie als Notlage definiert, was das Gesetzbuch nicht als Notlage definiert ist selbst illusionär und wird selbst zu einem krankheitsverschlimmernden Faktor, wenn es zu einer Unterstellung wird, die den gesamten Interaktionsstil prägt. - Und daran, an der Entstehung dieser Illusion, ist die Bürokratie - wenn auch auf sehr indirekt-subtile Weise - mitbeteiligt.
Natürlich könnte man hier einwenden, daß die Menschen noch nicht reif sind für die Bürokratie, daß sie sich z.B. noch nicht auf die Vervielfältigung von Diskurskontexten verstehen - aber das liefe auf einen ähnlichen Zynismus hinaus, wie Getreide gentechnisch zu verändern, damit es die Schädlingsbekämpfungsmittel erträgt, die man verkaufen will.
Es gilt, in jedem Einzelfall zu untersuchen, wieviel Definitionsmacht der Sprache der Bürokratie von Betroffenen und Angehörigen beigemessen wird bzw. wieviel Definitionsmacht sie besitzt, weil ein Sinn für das von ihr (noch) nicht erfaßte sich noch nicht entwickelt hat (kraft Ungeübtheit der Wahrnehmung für die Bedeutung von Wirklichkeitsbereichen, für die die Alltagssprache noch keine Worte hat). Das Muster der Verzerrung dabei ist jedesmal: "Es kommt in der Welt der anerkannten Tatsachen nicht vor, daher kann es auch nur Spielerei sein - für jeden gesunden Menschen." (Zum Überlebensinventar des Menschen gehört die Denkneigung: "Real ist nur, was man essen kann". Sie ist deshalb an sich produktiv. Die Tragik ist nur, daß sie in Gesellschaften und Familien immer wieder zu gravierenden Mißverständnissen der Situation führt, die krisenhaften Realitätsverlust heraufbeschwören können.) Man könnte in diesem Zusammenhang von einem umgekehrten naturalistischen Fehlschluß reden: hier wird nicht aus dem Sein ein Sollen abgeleitet - wie z.B. die sozialdarwinistische Wertung, das Starke, weil durchsetzungsfähig, sei wert und das Schwache unwert - sondern aus dem Sollen, den rechtlichen Bestimmungen, ein Sein: was das Recht nicht nennt, kann auch nicht wichtig sein. Auch die Veränderungen, die v.Ferber im Auge hatte, beseitigen die Entfremdung nicht, sondern differenzieren sie bloß: Für die Alten ist inzwischen viel getan worden, aber sie kommen aus ihrer "Objektstellung" (II 544) nicht heraus: sie sind immer noch Menschen, für die etwas getan werden muß. Die Verwaltung integriert Kosten für Ergotherapeuten und Sozialpädagogen in die Tagessätze, die alten Menschen werden aktiviert und es wird ihrer Isolation entgegengewirkt. Aber grade das nährt die Illusion ihrer Unselbständigkeit und Hinfälligkeit, da die Notwendigkeit, daß etwas für sie getan werden muß an ihnen festgemacht wird. Daß es die gesellschaftlich bedingten Lebensumstände sind, die es wahrscheinlich machen, daß ältere Mensche Probleme bekommen, wird übersehen. Die Umstände gelten als völlig normal, weil sie sich so schleichend entwickelt haben. (Ein mittelalterlicher Mensch würde darüber ganz anders denken.) Und weil die Umstände normal scheinen, glaubt man, daß es nur an den Menschen liegen kann, daß sie Probleme haben. Indem die Bürokratie immer mehr Lebensbereiche der Alten erfaßt, (war es früher nur die medizinische Versorgung, so sind es mittlerweile auch die Aktivitäten und die sozialen Beziehungen) suggeriert sie, daß die auf diese Weise immer größer werdende Betreuungsbedürftigkeit ein Merkmal des Alters sei und erschwert die Erkenntnis, daß es ein Merkmal der gesellschaftlich bedingten Umstände des Alterns ist.
Ähnlich verhält es sich auch mit der psychosozialen Versorgung von Arbeitslosen: Arbeitslosigkeit erscheint darin eher wie eine Krankheit, wie eine Schwäche. Sie suggeriert, es mit Menschen zu tun zu haben, die nicht für sich selber sorgen können, die "vergammeln", wenn man sich nicht um sie kümmert. Pointiert wird diese Suggestion in einem Sozialarbeiterwitz entlarvt: Zwei Menschen treffen sich in einem Arbeitslosenzentrum. Der eine: "Guten Tag, ich bin der Sozialarbeiter für die Arbeitslosen." Der andere: "Und ich bin arbeitsloser Sozialarbeiter". Wir schaffen Lebenssinnsurrogate für alle, die aus der Sphäre der Produktion herausfallen und wegen der Fragmentierung der sozialen Beziehungen in kein Gemeinschaftsleben mehr eingebunden sind, in das sie sich einbringen können.
An diesen Beispielen läßt sich Habermas Kolonialisierungsthese veranschaulichen: Es entstehen Effekte emergenter Suggestion, weil Verwaltung entweder sich zur Vollzugsgehilfin einer gesellschaftlichen Sprachlosigkeit macht (wie im Falle des Alters) oder weil sie (durch die Verrechtlichung) Interaktionsformen, die noch unmittelbar vom Prinzip des besseren Arguments getragen werden, ersetzt, durch formal organisierte juristische Vorgänge. - Die Frage wäre, ob nicht doch Reformen möglich wären, die solche Entfremdungseffekte unterbinden: andere Möglichkeiten, wie die Sozialverwaltung den Menschen und sein "Wohl" erfaßt. Ein kontraproduktiver Faktor der sich abzeichnet ist ja die "Objektstellung" der Verwalteten. Sie müßte aufgebrochen werden. Es würde also darum gehen, die Idee der kooperativen Problembewältigung zu konkretisieren z.B in Form einer Art "Konferenz", in der mit dem Betroffenen zusammen neue Lösungen für veränderte Situationen gefunden werden. So könnte für "Sonderwünsche" bspw. mit dem Betroffenen zusammen ausgehandelt werden, daß er dafür ein paar Stunden gemeinnützige Tätigkeit verrichtet. Das würde eine Situation schaffen, die sich von der gegenwärtigen Praxis grundlegend unterscheidet: jetzt bekommt der Betroffene einen Bescheid, und wenn er mehr Geld braucht als bewilligt, ist es seiner eigenen Initiative und seinem eigenen Glück überlassen, sich das dafür notwendige Geld zu beschaffen - die Betroffenen werden mit ihren "Restproblemen" alleingelassen und damit zählen diese Probleme nicht mehr als existentiell sondern nur noch als akzidentell: Probleme des Lebensstils ("Hobbie"). Durch ihre Beteili-gung an der Hilfeplanung würde diese Ignoranz aufgehoben. Die "guten Gründe" würden rehabilitiert, individuelle Bedürfnislagen würden wieder etwas zählen, weil man sie geltend machen könnte, die "lebensweltlichen" Argumente von Betroffenen hätten wieder eine Faktizität.
(4.2) Paradoxien der "Verordnung" von sozialen Hilfen
Habermas spricht in diesem Zusammenhang von "Therapeutokratie", aber
aus dem Text geht nicht ganz klar hervor, was er meint. Im Sinn hat er
vermutlich die Psychiatrie- und Therapiekritik der siebziger Jahre, die
die "Verunselbständigung" entdeckt hatte die von sozialen Hilfen ausgehen
kann. Sie ist heute zum Allgemeingut wenigstens des proffessionellen Denkens
geworden, wenn auch ihre Umsetzung: die Arbeit mit der Selbstbestimmung
und den Ressourcen der Betroffenen, meist an den Stellenschlüsseln
scheitert.
Instruktiv ist die Frage, inwieweit Psychotherapien von Rechts wegen verordnet werden, und sinnvoll verordnet werden können. Tatsächlich ist es ja so, daß es z.B. Betriebsvereinbarungen gibt, nach denen Mitarbeiter mit Suchtproblemen ihrer Kündigung nur dadurch vorbeugen können, daß sie sich einer Entwöhnungstherapie unterziehen. Im Familien- und Jugendrecht wären ähnliche Verordnungen denkbar: daß Elternteile mit problematischen Verhaltensweisen ihren beanspruchten Rechtsstatus oder -titel (z.B betreffs Sorge- oder Besuchsrecht) nur erwerbern oder erhalten können, wenn sie sich psychotherapeutischen Maßnahmen oder verhaltenstherapeutischen Trainings unterziehen. Solche "Verordnungen" sind solange unproblematisch, solange es ihnen ausschließlich darauf ankommt, daß sich das Verhalten ändert und das Ergebnis der Therapie auch auf der Ebene des in Frage stehenden Verhaltens hinreichend überprüft werden kann. Dann wird nämlich genaugenommen keine Therapie verordnet sondern eine Chance gegeben, eine ultimativ angemahnte Verhaltensänderung auch vollziehen zu können: Wenn es ein Kollege mit Alkoholproblemen nach der "Verordnung" der Therapie schafft, auch ohne Therapie sein Verhalten zu ändern, also abstinent zu leben oder nicht mehr so zu trinken, daß er auffällig wird, dann darf ihm kein Nachteil entstehen, wenn er sich weigert, die Therapie anzutreten. Anders läge der Fall, wenn die Abwendung der Kündigung nur durch ein Gutachten der Fachklinik erreicht werden könnte, das einen "erfolgreichen" Abschluß der Therapie bescheinigt. Dann käme es zu Konfusionsproblemen: Authentizität würde extern belohnt und damit verunmöglicht. - Im Familien- und Jugendrecht könnte eher als bei den Betriebsvereinbarungen die Gefahr bestehen, daß es zu solchen Grenzüberschreitungen kommt, weil dort das in Frage stehende Verhalten nicht so leicht überprüft werden kann: Reicht es für das Kindeswohl, wenn ein jähzorniger Vater keine offenen Zornesausbrüche mehr hat? Und selbst das könnte man kaum überprüfen, wenn er alleinerziehend wäre. Es könnte daher die Versuchung entstehen, Therapien mit Zertifikat einzuführen, die eine Vertrauenswürdigkeit zu- oder absprechen. Damit wäre eine ultimative Kolonialisierung der Lebenswelt erreicht: die Vertrauensbeziehung von Therapeut und Klient würde bürokratisch erfaßt und instrumentalisiert. Gefährlich nahe sind wir dieser Grenzüberschreitung schon in der Praxis der Kostenbewilligung für sozial- oder psychotherapeutische Maßnahmen, wo die Finanzierung der Fort- oder Weiterführung der Maßnahmen von einem Gutachten abhängig gemacht wird. Nur weil es keine unabhängigen Kontrollen gibt und die Therapeuten im Prinzip schreiben können, was sie wollen, ist die Situation nicht gravierend. Trotzdem wäre es eine Untersuchung wert, inwieweit es in diesem Sinne seitens der Patienten schon soetwas wie "therapiekonformes" Verhalten gibt. - Dieses Konfusionsproblem ist schon lange Thema in der Entwöhnungstherapie von Drogenabhängigen und alkoholabhängigen Straftätern, die wählen können, ob sie sich lieber den Forderungen der Therapeuten anpassen oder zurück in den Strafvollzug gehen: wie muß das die therapeutische Beziehung prägen, wenn Therapeuten die Macht haben, kraft ihrer Eigenschaft als "Gutachter" über die Therapiemotivation ihrer Patienten, darüber zu entscheiden, ob sie in den "Knast" zurückmüssen oder nicht (vergl. Noeres 1996).
Auf Seiten des Therapeutenverhaltens gibt es bereits bedenklich Tendenzen zu einer "Kolonialisierung". Ihre Quelle sind die Kostenträger, die die bereits objektivistische Haltung zur Medizin (als gewissermaßen "Sanitätstechnologie") auf die Psychotherapie übertragen: sie zwingen die Psychotherapie, ihre Effektivität nachzuweisen. Mit diesem Zwang zur technisch-naturwissenschaftlichen Selbstthematisierung der Psychotherapie setzten die Kostenträger einen Prozeß in Gang, der notwendig zu einem instrumentell-zersetzten Selbstverständnis dieser Disziplin führen muß. Ist schon die Instrumentalisierung von Psychotherapie überhaupt problematisch, weil sie notwendigerweise in isolierte Techniken zerlegt, was nur als ein integraler Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden kann, so wird spätestens bei der Frage nach der Beziehung zwischen Therapeut und Klient eine lebensweltliche Integrität gefährdet. In der Darstellung eines Therapieverfahrens finden sich z.B. folgende Sätze: Eines der Ziele des Erstgesprächs sei, "dem Klienten Wertschätzung und Wärme entgegenbringen [sic!], damit dieser sich traut, seine Einstellungen und Gefühle offen zu äußern" (Arend (1994) 111; Hervorhebung von mir). "Dieser Beziehungsprozeß bildet gleichsam die Basis für die angestrebten Veränderungen, wobei sich der Therapeut vor allem auf die ... als effektiv aufgezeigten Therapeutenvariablen stützt" (a.a.O. 112). (Die Unterscheidung zwischen "Technik" und "Haltung" (vergl. ebd.) ist m.E. nur eine der Technifizierung "innere" Unterscheidung, was man am Attribut der "Effektivität" ablesen kann. Es verhält sich damit etwa so, wie manche handwerklichen Techniken nicht effektiv ausgeführt werden können, wenn der Lehrling nicht eine bestimmte Körper- oder Handhaltung gelernt hat.) Mit Hilfe von statistischen Untersuchungen variierter "Therapeutenhaltungen" wird versucht, die "effektiveren" Haltungen dem Klienten gegenüber zu identifizieren (vergl. Biermann-Ratjen et al.(1989) 40ff). Daß dabei die Beziehung aufgebrochen und in "Haltungen" zerlegt wird, ist das wenigste. - Hier müssen notwendig Konfusionseffekte auftreten: die Haltung (z.B. Wertschätzung) wird eingenommen, weil sie effektiv ist, aber sie soll auch authentisch sein, weil sie nur dann wirklich effektiv sein kann. Der Therapeut wird nicht mehr unterscheiden können, ob er wirklich aus menschlicher Anteilnahme und Solidarität wertschätzend ist oder um dem Auftrag und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Verständnis von Professionalität gerecht zu werden. (Genaugenommen handelt sich also um ein "Kooperation" von Effekten der Konfusion und der emergenten Suggestion.)
So sehr diese Instrumentalisierung auch einen fruchtbaren mythenreduzierenden Reflexionsprozeß innerhalb vor allem tiefenpsychologischer Schulen in Gang zu setzen vermag, so sehr entsteht hier eine typisch instrumentalistische Verkürzung: daß Psychotherapie immer auch ein Bildungsprozeß ist, und daß es von einem existentiellen Standpunkt aus gesehen wichtiger sein kann, einem von einer störenden Symptomatik beeinträchtigten Leben einen Sinn zu geben, als ein sinnleeres Leben symptomfreier zu führen, kann von einem technisch-rationalen Standpunkt überhaupt nicht begriffen werden.
Diese Fälle und Fiktionen machen deutlich, daß kommunikative Leistungen nicht instrumentalisierbar sind ohne ihre spezifische Leistungsfähigkeit zu verlieren.
(4.3) Paradoxien der Verrechtlichung lebensweltlicher Interaktionszusammenhänge
Habermas beschreibt noch eine weitere Form von Kolonialisierung, die
direkt in die Sphäre der symbolischen Reproduktion eingreift. Er geht
davon aus, daß die Umstellung der Bereiche der symbolischen Reproduktion
auf Steuerungsmedien, die Form einer "Angleichung an formal organisierte
Handlungsbereiche" annehmen muß, d.h. daß kommunikativ konstituierte
Handlungsbereiche wie Schule und Familie für bürokratische Eingriffe
und gerichtliche Kontrollen geöffnet werden mittels "hochgradiger
Differenzierung von Einzeltatbeständen, Ausnahmen und Rechtsfolgen"
(II 541). Wurden die sozialen Beziehungen, aus denen sie bestehen, früher
durch Verständigungsprozesse erzeugt, verändert und reproduziert,
so treten an ihre Stelle heute mehr und mehr Beziehungen, die rechtlich
konstituiert sind, so daß die Verständigungsprozesse durch Reglungsprozesse
ersetzt werden und die Beteiligten von einer verständigungsorientierten
auf eine erfolgsorientiert-strategische Einstellung zueinander umstellen
können. Solidarität wird dadurch irrelevant. Und die Verkümmerung
der Prozesse, in denen Solidarität erzeugt und erhalten wird, wirkt
auch zurück auf die Entwicklung und Erhaltung von persönlicher
Identität, die sich ja in Auseinandersetzungen vollziehen. Habermas
versucht das an den Beispielen Schule und Familie zu konkretisieren.
(4.3.1) Thema Kindeswohl
S.Simitis et al. (1979) untersuchten in einer Studie die Auswirkungen
der Verrechtlichung am Beispiel des elterlichen Sorgerechts. Ihr Ergebnis
war, daß die richterlichen Einschätzungen der Situation der
Kinder sich vorwiegend an deren materieller Versorgung orientierten, weniger
an seelischen Faktoren (Simitis 34). Habermas Auswertung dieses Ergebnisses
scheint mir etwas konfus. Er versucht darin die Störungen zu erkennen,
die die Umstellung von kommunikativ strukturierten Handlungsbereichen auf
Steuerungsmedien verursachen. Die Studie kommt aber insofern zu einem anderen
Ergebnis, als sie belegt, daß die Mißstände der richterlichen
Spruchpraxis grade darauf zurückgingen, daß die Richter die
gesetzlichen Möglichkeiten ihrer Verfahren nicht in vollem Umfange
ausgeschöpft hatten, z.B. was die Einbeziehung von Gutachten angeht
(Simitis 38) - und sie konstatiert sogar eine Tendenz zur Besserung (Simitis
34). (In einem neueren Artikel konstatiert eine der damaligen Mitarbeiterinnen
jedoch, daß die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten,
die das Jugendrecht zur Verfügung stellt und dem, was davon in der
Praxis genutzt wird größer ist denn je (Zenz 1998)). Ferner
zeichnen sich in der Studie eine ganze Reihe von Verbesserungsvorschlägen
ab, die von den Autoren dann auch expliziert werden: z.B. die bessere Ausbildung
der Sozialarbeiter in den Jugendämtern um qualifiziertere Berichte
zu liefern (Simitis 36); Regelungen zur effektiveren Zusammenarbeit der
beteiligten Einrichtungen; die Ermöglichung eines intensiveren Kontakts
der Richter mit den Kindern (Simitis 38ff); zusätzliche Qualifzierung
der Richter um die Informationen über die seelische Verfassung der
Kinder angemessener einschätzen zu können (Simitis 40) sowie
schließlich Maßnahmen zur "Entjustizialisierung" der Konflikte
(Simitis 39). Offensichtlich sind die Mißstände, in denen Habermas
die zwangsläufigen Folgen von Verrechtlichung überhaupt
sehen will, eher eine Folge davon, daß die Verrechtlichung dieses
Bereichs und ihre Handhabung einfach noch nicht ausgereift sind. Habermas
gesteht zwar zu, daß - zumindest in bestimmten gesellschaftlichen
Handlungsbereichen - die Mediatisierung entschärft werden könne
(II 544 u.546f). Er hält aber trotzdem an seiner Kritik fest, ist
also offensichtlich der Meinung, daß die Verrechtlichung prinzipiell,
also selbst im Idealfall der Ausnutzung aller Möglichkeiten zur Feineinstellung,
immer noch "dilemmatische Strukturen" (II 542) erzeugen müsse. Er
denkt dabei an eine "Ersetzung des Richters durch den Therapeuten" (II
544), durch die die Bürger nicht aus ihrer "Objektstellung", aus ihrer
Rolle des "Verfahrensunterworfenen" (II 543) befreit würden: Erziehung
würde sich unter staatlicher Aufsicht vollziehen, die Eltern seien
einer staatlichen Behörde rechenschaftspflichtig. Mir ist jedoch nicht
klar, ob ein kategorieller Unterschied darin besteht, ob jemand bei Erziehung
seiner Kinder einer Gemeinschaft freier Menschen auf einer einsamen Insel
oder einem Jugendamt gegenüber rechenschaftspflichtig ist. In beiden
Fällen könnte einer Familie mit einem unkonventionellen auffälligen
Erziehungsstil in die innerfamiliären Interaktionsprozesse zu unrecht
eingegriffen werden: im einen Falle durch die Ignoranz eines Richters im
anderen durch das Unverständnis der Mitdörfler, das sich zu mobbingähnlichen
Effekten auswachsen kann. Die Frage in diesem Zusammenhang wäre, ob
es durch die Zuschreibungen von Gerichten und Ämtern - z.B. daß
Frau X eine Mutter sei, die das Wohl ihrer Kinder nicht gewährleisten
könne - in einem grundsätzlich anderen Sinne zu Verzerrungen
der Wirklichkeit kommen kann, als bei inner-lebensweltlich entstehenden
Kommunikationsverzerrungen (z.B.Mobbing). - Was dafür sprechen könnte
ist der Umstand, daß die gerichtlichen Verfahren den Anspruch stellen,
die bestmögliche Objektivierung von Urteilen und Einschätzungen
zu gewährleisten - also mit Aura größerer Wahrheitsfähigkeit
behaftet sind (emergente Suggestion).
Ein wenig näher kommen wir Habermas Intuition am Beispiel der Besuchsrechtsstreitigkeiten. Hier geht es um die rechtliche Regelung von Interaktionen: "In ¼ der durch Gerichtsbeschluß beendeten Verfahren wurde für den Fall der Zuwiderhandlung eine Ordnungsstrafe angedroht, in 29% wurden die Eltern ausdrücklich darauf hingewiesen, jeder habe sich einer Beeinflussung des Kindes gegen den anderen zu enthalten" (Simitis 113f). Die Interaktionsunfähigkeit von Geschiedenen kann soweit gehen, daß die Kinder im Rahmen der Besuchsrechtsregelungen vom Gerichtsvollzieher abgeholt werden! Hier scheint die Interaktion mit den eigenen Kindern zu einer Art Rechtsgut geworden zu sein, das man einklagen kann; etwas, auf das man einen eigentumsartigen Anspruch haben kann, als ob es sich um ein dingliches Gut handle. Problematisch würde es vollends, wenn die Wünsche der Kinder nichts mehr zählten, mit dem Hinweis darauf, daß sie beeinflußbar seien und noch nicht wissen und entscheiden könnten, was ihnen wirklich gut tue; und wenn dann mit Hilfe so windiger Indizien wie psychologischer Tests die Schädlichkeit oder Unschädlichkeit der Besuche des vom Sorgerecht ausgeschlossenen Elternteils zur Entscheidungsgrundlage gemacht würden. Hier würden Kinder zur "Verfügungsmasse". - Anhand solcher Szenarien wird die Übergriffigkeit vorstellbar, die in der Verrechtlichung, die sich auf sozialer Bereiche bezieht, angelegt ist.
(4.3.2) Thema schulische Sozialisation
Die Bedeutung formaler Qualifikationen für den mittlerweile weitgehend
durchbürokratisierten Ausbildungs- und Beschäftigungssektor hat
Rückwirkungen auf die schulische Sozialisation: sie wird "in ein Mosaik
von anfechtbaren Verwaltungsakten zerlegt" (II 545). Mit Hilfe von Curricula
soll Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse ermöglicht werden,
gleichzeitig sollen die Zensurentscheidungen der Lehrer deren Subjektivität
enthoben, kontrollierbar und anfechtbar gemacht sowie der Einsatz disziplinarischer
Maßnahmen innerhalb der pädagogischen Prozesse erschwert werden.
Wenn wir die Position der symbolischen Reproduktion an dieser Stelle ganz
stark machen, könnten wir - neben dem Verlust der Gestaltungsfreiheit
der Lehrer durch die curricularen Standardisierungen - folgende "Pathologisierung"
herausarbeiten: Das Lehrer-Schüler Verhältnis repräsentiert
eine zentrale aber konfliktreiche Art von sozialer Beziehung: das Verhältnis
zur Autorität (im Sinne von "Autorität-Sein"). In der
schulischen Sozialisation haben die Heranwachsenden die Möglichkeit,
durch Prozesse von Identifikation und Abgrenzung eine reife und erwachsene
Weise zu entwickeln, Autorität zu begegnen. Dieser Aspekt des Lehrer-Schüler
Verhältnisses wird jedoch nivelliert, wenn die Beziehungsspannung
zwischen Schülern und Lehrern, die nach einer kommunikativen
Lösung drängt, mit Hilfe des Mediums Recht reguliert wird, wenn
Schüler und Lehrer sich nur noch gegenübertreten als formal gleichberechtigte
Rechtssubjekte, die nur noch an der erfolgreichen Vertretung ihrer Interessen
interessiert sind (um die Mißstände auszuschließen, die
sich aus dem "Autorität-Haben" erfahrungsgemäß oft
ergeben haben). "Die durch Justiz und Verwaltung kontrollierte Schule verwandelt
sich unter der Hand in eine Anstalt der Daseinsfürsorge, die Schulbildung
wie eine soziale Leistung organisiert und verteilt" (II 546). Die Chance,
daß die schulische Sozialisation frei von der traditionellen autoritären
Mentalität endlich die entwicklungspsychologisch fruchtbaren
Seiten ihres Konfliktpotentials entbinden kann, wird geschmählert.
Abgesehen davon, daß diese Darstellung einer nicht-mediatisierten
schulischen Sozialisation etwas romantisch erscheint (und in machen Ohren
vielleicht sogar zynisch klingen mag), vermag sie uns aber zumindest zu
verdeutlichen, wo wir zu suchen haben: soziale Beziehungen werden ausgehölt,
wenn sie derart rechtlich definiert werden können, daß für
die in ihnen auftretenden Konflikte formale Regulationen zur Verfügung
stehen, so daß die Beteiligten "als Rechtssubjekte... einander in
objektivierender, erfolgsorientierter Einstellung" gegenübertreten
(II 542).
In beiden Fällen (Besuchsrecht, Schulrecht) sind zusätzlich indirekte, subtile Entfremdungseffekte vorstellbar: Durch die Möglichkeit, Konflikte mit Hilfe von Rechtsmedien auszutragen, könnte es gewissermaßen zu einer Atrophie der Konfliktfähigkeit kommen, zur Bildung der Gewohnheit strategische Einstellungen einzunehmen sowie zum Schein der Antiquiertheit verständigungsorientierter Einstellungen (nach dem Muster illusionärer Desillusioniertheit, z.B.: "Glaubst du wirklich, dein Gegner würde das honorieren").
(5) Die Struktur der Verrechtlichung
Habermas fragt sich, anhand welcher Kriterien man die freiheitsverbürgenden
von den freiheitsentziehenden Wirkungen der Verrechtlichung unterscheiden
könne, welche Komponenten des Rechts für das eine und welche
für das andere verantwortlich seien (II 534ff). Er bringt an dieser
Stelle den Unterschied zwischen Recht als Institution und Recht als Medium
ins Spiel. Zum Verständnis des Unterschiedes können wir eine
Unterscheidung des Philosophen John Searle heranziehen (Searle (1983) 54f):
den Unterschied zwischen regulativen und konstitutiven Regeln. Regulative
Regeln sind z.B. Tischsitten. Sie regeln die Tätigkeit des Speisens
- aber sie erschaffen sie nicht. Konstitutive Regeln sind z.B. Spielregeln:
sie erschaffen Handlungsweisen, die es zuvor noch nicht gab - gewissermaßen
"nicht-natürliche" Handlungen. Ähnlich in der Sphäre des
Rechts: Die Möglichkeit jemanden zu verprügeln besteht völlig
unabhängig von Regelungen, die wir ersonnen haben. Die Möglichkeit,
sich arbeitslos zu melden wird dagegen erst durch rechtliche Regelungen
konstituiert.
Als Rechtsinstitution schafft Recht keine neuen Handlungsmöglichkeiten,
sondern normiert nur die bestehenden, z.B. indem es Körperverletzung
unter Strafe stellt. Rechtsinstitutionen werden nach dem Begründungsprinzip
erzeugt: Sie sind legitimatorisch in der Lebenswelt verwurzelt, sie müssen
sich ihren Maßstäben fügen. Recht als Medium schafft
neue Handlungsmöglichkeiten, so wie es Spielregeln tun. Es wir nach
dem Satzungsprinzip erzeugt, d.h. es ist "von der Begründungsproblematik
entlastet und allein über formell korrekte Verfahren mit dem inhaltlich
legitimationsbedürftigen Rechtskorpus verbunden" (ebd.). Die Entfremdungseffekte
sind Habermas zufolge nur dem Steuerungsmedium Recht geschuldet,
sofern es über die "formal organisierten Handlungsbereiche" des Wirtschafts-
und Verwaltungsrechts, in denen es entstand, hinausgeht und über Sozial-
Familien- und Schulrecht in Bereiche der Lebenswelt eindringt (II 538).
Denn durch die Abkoppelung von der Begründungsproblematik werden in
der Lebenswelt Strukturen geschaffen, ohne auf ihre Belange Rücksicht
zu nehmen, sozusagen ohne sie zu fragen. Die Verfahrenskriterien genügen
allein der funktionalen Vernunft des Verwaltungssystems. Dieser Prozeß
der medialen Verrechtlichung ist Habermas zufolge aber zwangsläufig,
weil "die Rechtsinstitutionen, die sozialen Ausgleich verbürgen, nur
über ein als Medium genutztes Sozialrecht wirksam werden" (II 539).
Den Grund dieser Zwangsläufigkeit erklärt Habermas nicht, aber
er gibt einen Hinweis: daß sie mit dem Unterschied von Freiheits-
und Teilhaberrechten zusammenhängen könnte (II 534f). Was er
dort am Beispiel des Wahlrechts streift, kann auch für die Problematik
des Sozialrechts ausgeführt werden: Die Freiheitsrechte sind regulative
Regeln, indem sie einen Katalog strafwürdiger Handlungen aufstellen
(und damit einen Bereich privater Willkür ausgrenzen) (ebd.). Der
Wert, der die Bildung dieser Regulativa motivierte: daß die Integrität
des Einzelnen unantastbar sei, verlangt aber auch Teilhaberrechte: daß
niemand neben einem Satten verhungern soll. (Der Wert den wir menschlichem
Leben beimessen, verlangt nicht nur, etwas zu unterlassen, sondern auch,
etwas zu tun.) Die Grundbestimmungen des Sozialgesetzbuches sind daher
auch Rechtsinstitutionen: die "Führung eines Lebens zu ermöglichen,
das der Würde des Menschen entspricht" (§1,2 BSHG). Das ändert
sich aber da, wo die Hilfeverpflichtung konkretisiert werden soll: mit
der bereits erwähnten Notwendigkeit, festzuschreiben, was eine hilfsbedürftige
Notlage sei, wie der Betroffene sie nachzuweisen habe wieviel ihm dann
zustehe und von wem die Hilfe zu erbringen sei. An diesen Stellen werden
die rechtlichen Bestimmungen gewissermaßen zu "Spielregeln". Aber
Habermas zeigt damit nur, daß "die Aspekte des Freiheitsentzugs nicht
aus der Form von Teilhaberrechten, sondern lediglich aus der bürokratischen
Art und Weise ihrer Implementierung" ableitbar seien. Er hat damit
noch kein Kriterium angegeben, woran formal Rechtsinstitutionen
von Rechtsmedien zu unterscheiden sind. Er schlägt als "Test" lediglich
vor, die Frage nach dem Legitimationsmodus zu stellen: ob Verfahren oder
Begründung. In diesem Zusammenhang geht er aber dann nicht weiter
darauf ein, was es bedeutet, daß durch die Möglichkeit zur Rechtsklage
immer eine zumindest virtuelle Begründbarkeit gegeben ist.
(So z.B. im Falle der Reglung, daß mit einem Anspruch auf Arbeitslosengeld
und -hilfe nur eine ehrenamtliche Tätigkeit von 15 Stunden zu vereinbaren
sei, die gegen die Klage verschiedener Verbände von der Institution
mit dem Argument verteidigt wird, daß andernfalls die Vermittlungsfähigkeit
nicht gewährleistet sei, und damit de facto aus Mitteln der Bundesanstalt
für Arbeit eine Stelle finanziert würde.) Auch bei der Beantwortung
der wichtigsten, weil grundsätzlichen Frage in diesem Zusammenhang
helfen seine Ausführungen nicht weiter:
warum bestimmte Probleme
bei der Organisation der sozialen Versorgung zur Mediatisierung geführt
haben - und inwieweit es alternative Möglichkeiten geben könnte,
d.h. inwieweit die mediatisierungsbedingte Kolonialisierung tatsächlich
zwangsläufig
mit dem modernen Sozialstaat verbunden ist oder aufgrund historischer Bedingungen
und Interessenlagen nur der "leichtere Weg" war.
(6) Zusammenfassung
Was kann die Sozialarbeit von dem Kolonialisierungsbegriff lernen?
Wie kann sie Kolonialisierungseffekte verhindern, neutralisieren, unterlaufen?
Diese Auswertung der von Habermas ausgearbeiteten Begrifflichkeit für
die Sozialarbeit kann nicht pauschal, sondern nur von den "Praktikern"
der verschiedenen sozialarbeiterischen Arbeitsfelder geleistet werden:
es bedarf dazu der konkreten Erfahrungen mit den jeweiligen Problembereichen.
Einige der angesprochenen Probleme werden auch längst ohne die habermassche
Konzeptualisierung diskutiert: die Formen verzerrter Kommunikation, denen
durch eine recourssenorientierte und wertschätzende Einstellung begegnet
werden kann, die sich immer schon für das "Recht" scheinbar defizienter
oder gestörter Denk- und Verhaltensweisen interessiert, sowie die
Konfusionsprobleme im Maßregelvollzug. (Hier ist es z.B eine Frage,
die nur die mit dieser Aufgabenstellung Erfahrene beantworten können,
ob es sinnvoll ist, einem Patienten vorab zu sagen, daß er im Rahmen
der Hausordnung sein kann, wie er will, ohne zurück in den Strafvollzug
geschickt zu werden (Neutralisierung des Belohnungseffekts). An dieser
Stelle wird auch deutlich, daß psychosoziale Arbeit, die Kolonialisierungsfolgen
vermeiden will, in Konflikt mit ihren Auftraggebern geraten kann.) Wahrscheinlich
führt der Begriff der Kolonialisierung aber auch in diesen Bereichen
zu einer besseren Orientierung. Abschließend zeichne ich die Argumentationslinie
noch mal kurz nach und stelle die springenden Punkte heraus:
Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt Solidarität. Solidarität
reproduziert sich durch Interaktionen, die über das Prinzip des besseren
Arguments vollzogen werden. Wird dieses Prinzip systematisch ignoriert,
indem Interaktionsbereiche - z.B. die Abrufung von Solidarleistungen -
mediatisiert werden, kann das nicht folgenlos bleiben: es entstehen Motivationskrisen
an den Austauschgrenzen von Lebenswelt und Verwaltung und es treten Entfremdungseffekte
innerhalb der Lebenswelt auf. Diese äußern sich als verzerrte
Kommunikation, wo die Sprache durch die bürokratisch gesetzten Faktizitäten
sich verändert, und als Konfusion sowie Zersetzung von Vertrauen und
Kooperationsbereitschaft innerhalb der Lebenswelt, wo die Verrechtlichung
genuin kommunikative Leistungen zu instrumentalisieren versucht oder die
Orientierung an individuellen Nutzenkalkülen fördert und auf
diese Weise die sozialen Beziehungen aushölt. Die Paradoxien, für
die es sich zu sensibilisieren gilt, sind von der Art, daß Bürokratie
und Verwaltung Möglichkeiten der Gewährleistung von Wohl schaffen,
und indem sie sie schaffen das zu Gewährleistende gleichzeitig
zersetzen: eine Altenversorgung, die defiziente Modi des Alterns fördert;
eine psychotherapeutische Versorgung, die durch externe Belohnung bzw.
Bestrafung von Patientenverhalten Fragwürdigkeiten in den psychotherapeutischen
Prozeß hineinbringt. Die brennenste Frage in diesem Zusammenhang
ist, inwieweit solche Paradoxien notwendig mit der Schaffung dieser
Möglichkeiten verbunden sind, kraft des Wesens der Verrechtlichung,
und inwieweit sie einfach gesellschaftliche Ambivalenzen spiegeln (so z.B.
Unterstellungen wie: daß Arbeitslose nicht arbeiten wollen); und
ob Verrechtlichung nicht prinzipiell auch paradoxiefrei genutzt werden
kann, z.B. ob damit nicht Rahmen geschaffen werden können, in denen
verständigungsgetragene soziale Beziehungen florieren können.
(Ich denke da etwa an Ideen zur Entanonymisierung und Gemeindebildung in
Stadtteilen, so daß die Lebenswelt informell, aus eigener Kraft,
ihre Probleme lösen kann.) In jedem Fall sind Pauschalurteile über
die Verrechtlichung gefährlich: sie spielen konservativen Politikern
in die Hände, die Rechtfertigungsbedarf für Sozialabbau immer
brauchen können. (So geschehen z.B. mit Schäubles Wort, es gelte,
den Wunsch der Jugend nach Befreiung vom "kollektiven Zwangssystem" der
Rentenversicherung zu unterstützen (A.Fischer).)
Literatur