Das kraß schockierende Hörerlebnis als Auslöser des hermeneutischen Arbeitsprozesses
Über das Hör–Stück
nach dem Roman "Ein Kind aus Papier" von Martin Winckler
Gliederung
Einleitung *
Gegenstand der Arbeit und Motivation
Der Gegenstand dieser Arbeit ist eine radiophone Umsetzung / Adaptation eines Romans. Unter dem Pseudonym Martin Winckler erschien 1989 in Frankreich das Buch "La vacation", übersetzbar als "die Entleerung", das aus der Sicht eines Arztes geschrieben ist, der Abtreibungen vornimmt. In Deutschland brachte der Argon Verlag Berlin das Werk 1990 in der Übersetzung von Ilse Strasmann heraus, unter dem Titel "Ein Kind aus Papier". Die Textbearbeitung leisteten Gisela Lerch und Thomas Spring; die 217 Seiten des Textes resultierten in einem etwa 60minütigen Hör–Stück. Der Sender Freies Berlin produzierte zusammen mit dem Saarländischen Rundfunk und dem Norddeutschen Rundfunk 1995 unter der Regie von Ulrich Gerhardt und der Redaktion Renate Jurziks das Feature "Die Abtreibung", das im Spätsommer 1995 ausgestrahlt wurde, als die öffentliche Diskussion um die Fristenlösung sich im Kreis zu drehen begann und mich die Argumente und Positionen langweilten.
Die Motivation für diese Arbeit bildet ein kraß schockierendes Hörerlebnis. Die Ankündigung der Ausstrahlung, eines kleinen Dreizeilers im mickrigen Radioteil einer Fernsehzeitung, erzeugte eine Erwartung, die im Hörerlebnis fallengelassen werden mußte. Die innere Not des Erzählers zwingt ihn zu Akribie in der Beschreibung seiner vielschichtigen Gefühls- und Wahrnehmungswelt und offenbart sich in einem sehr reichen literarischen Text. Der Prozeß des Schreibens ist Teil der kondensierten Erfahrung genau wie der scheinbare Wechsel der Identität beim Überstreifen des weißen Kittels. Die suggestiv–drängende Sprache ist genau und scharf, schneidend und verletzend und dabei schwer von medizinisch–sachlichen Details. Doch die Professionalität des Arztes läßt eigene Konnotationen nicht etwa verschwinden, die Emotionen werden dadurch nur deutlicher. — Er, der Abtreibungsarzt, schreibt keinen Tatsachenbericht, er schreibt einen Roman, schockiert und verstört und mobilisiert den Leser.
Mein Allgemeinwissen über Existenz und der Durchführung von
Schwangerschaftsabbrüchen, ungenaues "Wissen-im-Bekanntsein", wurde
durch Wissen um ihre Beschaffenheit, über ihr genaues Aussehen ergänzt.
Möglich ist eine Erweiterung des Wissens, das im negativen Sinne mit
Vorurteilen oder dumpfen Ahnungen besetzt ist, nicht durch eine Aufgabe
derselben, sondern durch das Ausräumen der Mißverständnisse
in der Wahrnehmung der Gegenwart. Dabei werden die Vorurteile als bisher
angewandte Erfahrungskategorien nicht aufgegeben, sondern ihr Einfluß
auf die gegenwärtige Wahrnehmung wird unter Kontrolle gebracht. "Ein
Kind aus Papier" leistet die Erweiterung bisheriger Kategorien in der Darstellung
eines Themas mit fortgeschrittenen literarischen und ästhetischen
Mitteln. Die Möglichkeit für das Erkennen dessen, daß sich
etwas Neues verspricht, will ich hier nicht diskutieren, sondern vielmehr,
was der Text eigentlich ist und was der Text eigentlich sagt. Das Verstehenwollen
motiviert die Betrachtung des Textes wie der zugrunde liegenden Begriffsdefinitionen
von "Text" und "Verstehen" selbst und ist so Folge des Aufnehmens der Weltoffenheit
im hermeneutischen Prozesses.
Lebenserfahrung als unsichere Bürgschaft ästhetischer Kohärenz
Das "Kind aus Papier" ist das Buch eines französischen Arztes, der unter Pseudonym seine Erfahrungen als Abtreibungsarzt niederschreibt. Der schreibende Arzt oder der ärztliche Schriftsteller instrumentalisiert sich selbst als außerliterarische Person, indem er eben darauf verweist, daß er Arzt ist. Er sagt "Schreiben heißt, etwas in sich zu töten, um weiterleben zu können" und daß er diesen Text schreiben mußte, um diese Tätigkeit weiterführen zu können. Er bezeichnet Abtreibungen als Tötungen und sagt von sich, daß "diese Tätigkeit" ihn nicht definiere. Er versteht sich selbst mehr als Schriftsteller denn als Arzt, und hat lange schon geschrieben, bevor er anfing, als Arzt zu praktizieren und weiße Kittel zu tragen.
Wie er dazu kam? "Es war ein wenig der Zufall der Umstände. Als ich mich als Allgemeinmediziner niederließ, wurden in der gynäkologischen Abteilung des nächstgelegenen Krankenhauses Beratungen für Empfängnisverhütung und Familienplanung gemacht. Man hat mir vorgeschlagen, dort zu arbeiten, und da wurde ich dann gefragt ob ich nicht auch Abtreibungen machen könnte, denn es wurde gerade die Stelle eines Abtreibungsarztes frei. Anfangs habe ich nein gesagt. Genau wie Bruno, der Protagonist meines Romans. Nein. Bloß das nicht. Ich weiß nicht, weshalb ich gesagt habe, "bloß das nicht", denn ich hätte genau so gut einfach nein sagen können, nein, das reizt mich nicht. Ich weiß nicht, wann ich mich dafür entschieden habe, das kam so nach und nach. Ich wollte wenigstens wissen, wie es geht, ich wollte immer wissen wie etwas geht. Ich habe zugesehen und irgendwann hat man mich aufgefordert es zu tun und dann habe ich es gelernt und getan." sagt er im Interview. Und weiter: "Was ich zum Ausdruck bringen wollte, hatte nichts mit der Sprache der Medizin, noch mit der eines Tatsachenberichtes zu tun, sondern mit Empfindungen, mit Gefühlen." Dieser Roman ist nicht der erste literarischer Text, den er geschrieben hat, aber der erste größere Text, der veröffentlicht wurde. Der Roman soll den Leser berühren als Text, nicht als Anhängsel eines schreibenden Arztes. Der Mann im Arzt mit den verwirrenden Gefühlen sammelt seine Notizen, der Arzt legt seine professionell kühle Nüchternheit in den autobiographischen Text. Die Authentizität wird durch dichte, emotionslose Sprache unterstrichen und fordert durch eigenwillige Interpunktion, Satzstellung und –umbrüche erhöhte Konzentration. Er erreicht eine Synchronisation mit den Emotionen des Lesers / der Leserin und hebt im gegenwärtigen Erleben jegliche Distanz auf.
Das gewählte Pseudonym bezieht sich auf eine literarische Figur
des von Winckler verehrten George Perec. In "Das Leben als Gebrauchsanweisung"
ist Gaspard Winckler der Vater des totgeborenen Kindes Martin Winckler.
— Der Arzt schreibt also zum Thema Abtreibung einen Roman mit ästhetischem
Anspruch und veröffentlicht ihn unter einem Pseudonym, mit dem in
einem Werk des von ihm bewunderten Schriftstellers ein totgeborenes Kind
bezeichnet wird. Das Wissen darum könnte für die Leseerfahrung
des Texts heikel sein, die Möglichkeit zu ästhetischem Erleben
könnte in Frage gestellt sein. Doch der Text übersteht auch das
unbeschadet.
Der Prozeß des Schreibens als maßgebliche Instanz der Textentstehung
Der Prozeß des Schreibens bildet einen essentiellen Teil der Schilderungen im Roman. Fühlbar wird die Zerrissenheit, die das erzählende Ich erlebt, für vermeintliche Begründungen schreibenden Handelns, bei allmählicher Verfestigung der Rituale des Niederschreibens von Notizen.
Du siehst, du kannst sie fast noch wiederholen, deine Bewegung des Zurückschreckens. Verlangen sie das nicht von mir! Trotzdem, auch wenn dein Gedächtnis sich weigert, die Umstände oder deine Motive wiederherzustellen, du bist eines Tages zum Zusehen gekommen, du hast dich zu lernen bereit erklärt. […]
Aber ob es sich nun um genaue Bilder oder rekonstruierte Erinnerungen handelt, deine Fahrten in die Abteilung haben fast alle eine schriftliche Spur hinterlassen in dem Durcheinander deiner Papiere.
Das ist ganz unmerklich geschehen, das hat sich ganz reibungslos ergeben, wie alle die anderen Handbewegungen: Wenn du die Abtreibung hinter dir hattest, verließest du die Abteilung mit ihren weißen Wänden, den Untersuchungsstuhl mit seinem sauberen Laken, die leeren Ruheräume, in denen die Assistentinnen die Betten machten, das verlassene Wartezimmer und G., die über die abzulegenden Akten gebeugt war. Du kehrtest in deine Landarztpraxis zurück, eine ruhige Arbeitsstätte, wo dann fast nie mehr jemand kam und dich störte, und da du noch immer unter dem Eindruck der vergangenen drei Stunden standest, trotz der zwölf Kilometer Fahrt, trotz eines halben Hörspiels im Autoradio, trotz des Regens oder der strahlenden Sonne (und manchmal des erfreulichen Eindrucks von Ferien, wenn du beim Öffnen der Tür feststelltest, daß dieses Wartezimmer hier leer war) fandest du dich ohne Ziel, benommen, mit einem feuchtem Rücken, mit klebrigen Händen, wie von einem Film überzogen, der jeden Moment erstarren konnte.
Du setztest dich an den Schreibtisch, du nahmst ein Blatt oder ein Heft, zwei oder drei aus einem Rezeptblock gerissene Werbeseiten, und du schriebst.
Notizen, Fetzen: unter einem Datum ein Satz, zehn Worte, um eine Einzelheit festzuhalten, einen Gesichtsausdruck, einen unpassenden Gedanken, hinterher in den Zimmern gehörte Worte.
Ohne es zu wissen, sammeltest du die Spuren deiner Fahrt dorthin, winzige Zeichen dessen, was vorgefallen war, Erinnerungen an das Vibrieren des Geräts, Bemerkungen über die Leibschmerzen von drei oder vier Frauen, das Bild von ein paar blutigen Kompressen unter der zerknitterten Papierunterlage in dem mit einem schwarzen Plastiksack ausgekleideten Abfalleimer.
Du hast dich nie gefragt, weshalb dich das Bedürfnis beherrschte, diese allwöchentlich Erfahrung zu beschreiben. Du sichertest Spuren. Nur waren sie nicht vom gleichen Rang wie die vier Verordnungen und die drei Statistikblätter, die deine Unterschrift trugen.
Nach und nach wurde das ein Teil des Rituals.
Obwohl es im Ablauf jeder Behandlung ein paar Augenblicke des Treibens, der Untätigkeit gab, schriebst du erst, nachdem du die Tür der Abteilung hinter dir geschlossen hattest. […] Früher oder später holtest du deinen Füller heraus, du suchtest eine Unterlage und schriebst. Von deinen dort ausgeführten Handbewegungen übertrugst du die Schatten auf das Hier des Schreibens, auch wenn das Hier nur (und zwar meistens) der Innenraum deines am Straßenrand angehaltenen Wagens war.
Schon war dir das Vergessen unerträglich. Du hieltest den Gedanken nicht aus, daß von diesen wöchentlich drei Stunden nichts überleben sollte, außer den in einem halben Dutzend Gedächtnissen verstreuen Bruchstücken. Du wolltest schreiben, damit nicht alles ausgelöscht würde, sich verflüchtigte in der strahlenden Sonne im leeren Wartezimmer oder angesichts der ungeduldig duldenden, die schwitzend in der feuchten Luft der elektrischen Heizkörper saßen."
Außerdem hast du im Laufe der Worte das fast unhörbare Plätschern von etwas wahrgenommen, das schon lange da ist, sich Tropfen für Tropfen im Schoße eines bisher unbeachteten Raumes gesammelt hat, sich verdichtet hat ohne dein Wissen, bis zu dem Augenblick, wo es sich mitteilte.
Du hast dich der Erkenntnis stellen müssen: dieses Etwas existiert in dir, es wuchert, es wird genährt von dem, was du hörst und tust und siehst, und es offenbart sich endlich deinem Bewußtsein.
Es vibriert, und du weißt nicht genau, was du daraus machen, was du dazu sagen sollst; du weißt nur, daß jede Abtreibung es noch wachsen läßt, daß jedes Gesicht einer Frau erbeben läßt, daß jede Gemütsbewegung, die dich erfüllt, unausweichlich von ihm gefärbt ist.
Von jetzt an ist es, wenn du vor einem Heft, einem Blatt Papier, einer Schreibmaschine sitzt, nicht mehr unmittelbar hinterher. Die Zeit ist gekommen, ans Licht zu bringen, was dich nach und nach erfüllt hat, zu sammeln, was sich außerhalb deiner abgesetzt hat."
Eine angemessene Unterstützung für deine Arbeit war notwendig: schönes Papier, gediegen und mit edler Struktur, auf das nur die richtigen Worte sich niederzulassen wagen würden, auf dem nur echte Empfindungen sich ausdrücken könnten. […] Die Tinte wäre von klarstem Blau. Sie durchnäßte das Papier nicht und ließe sich ohne Mühe löschen – obwohl es dir unwahrscheinlich schiene, daß du was auch immer in deinem Manuskript zu löschen haben würdest.
Die im Laufe der Arbeit sorgfältig numerierten Blätter würden einen stolzen Stapel bilden in dem Maße, wie die Rohfassungen, Vorstufen und Skizzen den Papierkorb füllten oder das Kaminfeuer nährten … oder vielleicht nur schliefen in einem speziell diesem Gebrauch gewidmeten Aktendeckel. Es war, bei genauerer Überlegung, nicht ausgeschlossen, daß deine Rohfassungen später unschätzbaren Wert erlangten."
Donnerstags überläßt du die Praxis einem Jüngeren als du es bist und fährst mit dem Zug bis zur Endstation. […]
Du läufst zu Fuß ein paar Straßen weiter zu einem Vetter und Hagestolz, der von vierzehn bis achtzehn Uhr arbeitet und dir in seiner Abwesenheit seine Junggesellenwohnung und seine Schreibmaschine überläßt. Vor einigen Monaten bei einem Familientreffen hast du deine Mitarbeit bei einer Fachzeitschrift angeführt, um deine wöchentliche Anwesenheit in der Stadt zu begründen. Du hast das Warten auf den Abendzug und die zu schreibenden Artikel zum Vorwand genommen, um zu erklären, wie dankbar du ihm für seine Gefälligkeit wärst. Er ist hocherfreut, dir gefällig sein zu können.
Jeden Donnerstag gegen ein Uhr trinkst du einen Kaffee mit ihm. Er stellt die wenig Fragen. Er erzählt dir von seinen kleinen Nöten. Du mißt ihm den Blutdruck. Von Zeit zu Zeit Schreibst du ihm ein Rezept. Du bist froh, auf diese Weise den Dienst abgelten zu können, den er dir erweist, ohne es zu wissen. Du betest zum Himmel, daß nichts ernsteres als solche Sorgen eines Einzelgängers deine Sachkenntnis beanspruchen.
In regelmäßigen Abständen bringst du ihm ein Exemplar der Zeitschrift mit, in der auf der vorletzten Seite zwei oder drei Besprechungen von einer halben Spalte Länge deine Initialen erscheinen. Er dankt die herzlich. Eines Tages hat er sich betrübt gezeigt darüber, daß du soviel zeit mit der Arbeit verbringst und so wenig veröffentlicht wirst. Du hast mit bescheidener Miene gelächelt."
Als an diesem Abend dein Vetter nach Hause kommt, unterbrichst du dich kaum. Er begrüßt dich, erstaunt, dich noch vorzufinden. Du fährst fort, wie besessen zu tippen.
In letzter Minute packst du schnell deine Sachen ein, sagst kaum auf Wiedersehen, eilst die Treppe hinunter und rennst zum Bahnhof. Du springst in dem Augenblick in dem Zug, in dem er anfährt.
Du läßt dich schwer auf den ersten freien Platz fallen; dein Atem geht stoßweise, deine Beine zittern, der Hals tut dir weh. Du hast Hunger rund Durst. Die anderen Fahrgäste um dich herum lesen die Abendzeitung, stricken, streicheln die in einem Korb eingeschlossene Katze, überzeugen sich dreimal hintereinander, daß sie ihre Fahrkarte entwertet haben, erzählen ihrem Nachbarn den Witz der Woche.
Das weiße Band der Sammelmappe schaut unter der Klappe der Aktentasche heraus. Du stehst auf, du legst die Aktentasche auf die Gepäckablage. Du balancierst zwischen den angewinkelten Knien, um deine Jacke ausziehen zu können. Du legst sie zusammen. Du packst sie auf die Aktentasche. Du überlegst es dir anders, du nimmst die Jacke wieder herunter, du wühlst die Taschen eine nach der anderen durch, bis du dein Portemonnaie gefunden hast, du nimmst es heraus, du packst das Kleidungsstück wieder auf die Gepäckablage.
Du lächelst einfältig den Herrn an, dem du gerade die Zeitung aus der Hand geschlagen hast, und die Dame, deren Fuß du zerquetscht hast. Du verläßt das Abteil, du gehst in Richtung Bar. Als du einen Durchgang passierst, bemerkst du, daß deine Hände von roten und schwarzen Flecken übersät sind."
Nur im Kopf entstehen die Bilder, nur dort leben sie. Die geschriebenen Worte enthalten nichts."
Meine oben gebrauchte Formulierung des Prozesses des Schreibens als maßgebliche Instanz der Textentstehung kann jetzt genauer gefaßt werden. Das Schreiben als Tätigkeit bringt den Text hervor. Der Begriff "Schreiben" enthält das Kritzeln von Notizen wie auch das Be-schreiben des Schreibens. Ohne Schreiben kein Text.
Der Textinhalt wird dabei zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt, und
die ‚Sinngestalt‘ des Textes ist keinesfalls identisch mit dem, ‚was gemeint
ist‘. Aber wie kann ich "das Gemeinte" überhaupt erkennen? Dazu lenke
ich den Blick auf die Konsequenzen der Eigenschaften eines Texts.
Der Status des literarischen Textes
Eine simple Notiz ist kein Text. Sie geht als bloße Spur von Erinnerung in ihrer Wiederkehr auf, wenn ein Rückgriff auf den Zeichenbestand, also auf den Text nötig ist. Wenn keine Erinnerungen das Gedächtnis stützen muß die Notiz fremd und unverständlich bleiben. Die wiederentdeckten Fragmente besitzen eine ihnen eigene Kraft und verlangen darin nach Bearbeitung. In ihnen ist das Ideal des literarischen Texts als Idee angelegt. Dem erzählenden Ich widerfährt genau das, es macht beispielsweise die Erfahrung des allmählichen Schaffens, das mühselig ist, weil das Ent-decken des Ideals ein komplexer Prozeß ohne genaue und präzise Anleitung ist.
Der Anspruch eines schriftlichen Dialogs ist gleich dem des mündlichen Ausdrucks, "beide haben den guten Willen, einander zu verstehen". Das gilt auch in Bezug auf den namenlosen Leser, denn die schriftliche Fixierung entbehrt der selbstverständlichen Korrektur des natürlichen Gesprächs und hat so eine besondere Bedeutung für die Intention des Schreibens. Der Text erhält dadurch zusätzliches Gewicht, daß Schreiben mehr ist "als die bloße Fixierung von Gesagtem". Lesen und Verstehen eines Textes bedeutet, "daß die ‚Kunde‘ auf ihre ursprüngliche Authentizität zurückgeführt wird". Verstehen bedeutet eben nicht, daß einer das, was man ihm sagen will, schon abwenden will, noch bevor es ausgesprochen ist, und etwa "behauptet, er wisse es schon".
Im gegenwärtigen Gespräch ist das Gesagte kein Urteil von logischer Qualität, sondern meint das, was man sagen will und was der andere hören soll. Man kann nicht verstehen ohne verstehen zu wollen, und der Sinn kann nur dann erschlossen werden, wenn man sich als Zuhörer auf den Horizont des anderen einläßt. Das meint Reden wie auch Schweigen, und zur Erfassung des eigentlichen Sinns oder der Echtheit des Ausgesprochenen gehört das, was Heidegger "angstbereite Entschlossenheit" nennt. Das ‚sich einlassen‘ heißt dabei auch, sich auszusetzen. Ich lausche also mit unsicherer Erwartung sowohl auf die Sprache des Textes als auch auf die Sprache meines Gegenüber.
Die Sprachlichkeit von Kommunikation zeigt in diesem Zusammenhang auf die "Undurchdringlichkeit des anderen". Was ist denn Sprache hier? "Brücke, durch die der eine mit dem anderen kommuniziert und über dem fließenden Strome der Andersheit Selbigkeiten aufbaut, oder Schranke, die unsere Selbstaufgabe begrenzt und uns von der Möglichkeit abschrankt, uns selber je ganz auszusprechen und mitzuteilen?" Das vermag ich im Rahmen dieser Arbeit nicht befriedigend zu beantworten, doch festhalten will ich, daß der literarische Text so die genaue Wiederholung fordert und auf künftiges Sprechen vorausblickt. Der literarische Text lädt den Leser zum Verweilen ein und dazu, sich in steigendem Maß auf ihn einzulassen. Dieses "Hörendwerden" bleibt "ein Hören auf etwas, das das Gehörte als die Sinngestalt einer Rede auffaßt". Ich habe vor mir nichts als den Text, mein Wissen um die Entstehung ist marginal, und selbst wenn ich über den Prozeß des Schreibens z.B. durch den Autor Wissen besitze, ordnet sich die Interpretation allein dem Text unter. Der Autor als Sagender verschwindet im gegenwärtigen Lesen.
Der Text als Grundlage der Interpretation
Die kommunikativen Bedingungen, "Vorverständnis, Sinnerwartung und damit allerhand Umstände, die nicht im Text als solchem liegen, spielen ihre Rolle für die Auffassung des Texts". Als erstes ist vorausgesetzt, daß der Text als solches entzifferbar ist, damit das im Text Gesagte verstanden werden kann. Der Text muß lesbar sein. In Anwendung auf das Feature, dem ein literarischer Text zugrunde liegt, ist "das Funktionieren der Sprache eine bloße Vorbedingung" und die akustische Verständlichkeit das einzige, worauf es ankommt.
Das Einzelwort ist als Träger einer Bedeutung Mitträger des Redesinns und ein abstraktes Moment, es tritt nicht als eigenständiger Sinnträger in Erscheinung, geschweige denn in den Vordergrund. Der hohe Komplexitätsgrad des Textes wird hier deutlich, denn wenn ein Wortspiel sich zu Selbständigkeit steigert, sprengt es die Sinnintention der Rede und verlangt nach einer höheren Ebene der Reflexion, nach einem höher reflektierten Sinnbezug. Ein einziger falscher Ton kann die Stimmigkeit und Schönheit schon stören. Die Stimmung und Harmonie kann schon bei der kleinsten Abweichung zerstört sein. "Dabei man kann nicht einmal sagen, was das Angemessene eigentlich gewesen wäre, und doch wissen wir mit voller Gewißheit, was das Unangemessene war". Die Kunst des Übersetzens macht also die Fähigkeit aus, das das Werk in der anderen Sprache dasselbe bleibt. Die bloße Zuordnung von Satzgliedern zu Satzgliedern der entsprechenden Sprache führt zu "Buchstaben ohne Geist".
Jegliche Vorwandhaftigkeit bei der Entschlüsselung beruht auf Erwartung, daß nicht eine wirkliche Mitteilung verbreitet wird, sondern ein dahinterstehendes Interesse. Doch der "Kunstsinn" ist zerstört, wenn der literarische Text auf eine Meinungsäußerung es Autors zurückgeführt wird. Für den Text von Martin Winckler führt dieser Bruch des unausgesprochenen Einverständnisses, das, was bei Habermas Kommunikationsverzerrung heißt, auf einen Beitrag zur Diskussion um die Abtreibung. Der Text wie das Feature sind keine Pamphlete gegen Abtreibung, sondern eine Ergänzung der immer noch heiß geführten Debatten um dieses Thema um die Perspektive des Gynäkologen. Der Verdacht bleibt am Text ohne Schaden.
Dabei ist die Rückführung eines literarischen Textes auf eine Meinungsäußerung des Autors oder Urhebers "eine hilflose Verkennung dessen, was Literatur ist". Jede nachträgliche Interpretation ordnet sich dem Text unter, und genau das macht seine Einzigartigkeit aus. Ein literarischer Text spricht in niemandes Namen, sondern er erhebt sich von sich aus. Der ideale Sprecher eines solchen Textes ist mit dem idealen Leser identisch. Zudem ist das Hinterfragen wenig vielversprechend, denn das literarische Wort an sich ist ‚wahr‘ und zudem "Nähe, Präsenz, nicht von diesem oder jenem, sondern von der Möglichkeit zu allem".
In den vorhergehenden Kapiteln steht natürlich das, was wir sagen, wenn wir hinterher darüber reflektieren. Wir beschreiben die normative Gewalt der Aufführung, sagen ‚wir haben gehört‘ und uns vergegenwärtigt. "Im Vollzug ist es anders. Da ist es ‚richtig da‘, das Bild, das Gedicht" und auch das Feature. Erst hier kann man den Sinn von Kritik verstehen, nämlich das Trennen von Kunstwerk und Unkunst. Kritik heißt niemals behaupten, man wisse es besser als der Künstler. Doch wie es herauskommt können wir nicht sagen, wir können uns nur annähern.
Der "Text" ist in jedem Fall funktionales Endprodukt und wird nicht auf seine Entstehungsgeschichte hin untersucht. Das Gesagte ist vordergründig; die Thematisierung der "Sprachvergessenheit, in die die Rede oder der Text förmlich eingehüllt ist", ist nur bei Nichtgelingen von Verstehen oder Störung der Verständigung erforderlich. Üblicherweise aber sind Syntax und Grammatik für die Verständigung "ein Grenzfall möglicher Betrachtung", und der Rückgriff auf den Wortlaut ausschließlich "durch die Besonderheit der Verständigungssituation motiviert". Alle Anstrengung des Verstehenwollens beginnt also "damit, daß einem etwas, was einem begegnet, befremdlich, herausfordernd, desorientierend entgegentritt".
Innerhalb einer so motivierten literarischen Deutung kann "die aus Worten gebildete Rede nur in dem Sinne wahr oder falsch sein, in dem die in ihr ausgedrückte Meinung über einen Sachverhalt in Frage steht". Doch gerade weil der literarische Text nicht als Aussage über etwas gemeint ist kann der Begriff ‚Wahrheit‘ nicht passen. Denn die Worte stehen hier nicht als Wörter nebeneinander wie im Wörterbuch, das Wort im literarischen Text kann also nicht an dem gemessen werden, auf das es inhaltlich verweist, denn jedes Wort ‚sitzt‘ und ist in gewissem Grade unersetzbar. Trotzdem ist das literarische Wort ‚wahr‘, denn es ist als einziges in der Lage, "immer aufs neue seine Sinnmöglichkeiten auszuspielen", indem es vermag, "dem Entgänglichen Halt zu geben" und die Abstraktheit des Geschriebenseins durch seine Klangwirklichkeit zu überwinden.
Ich verstehe die Worte in der Gesamtheit ihrer Hauptbedeutungen dadurch, daß der Text lesbar ist. Gerade aber die mitspielenden Bedeutungsrelationen fordern die Interpretation. Die wörtliche Bedeutung des Wortes ‚interpres’ meint den, der dazwischenredet und das Befremdende aufhebt, den Interpreten. Seine einzige Funktion ist, "in der Erzielung der Verständigung ganz zu verschwinden"; das bedeutet nicht, daß er im negativen Sinne verschwindet, sondern er geht in die gelungene Kommunikation ein, "so daß die Spannung zwischen dem Horizont des Textes mit dem Horizont des Lesers aufgelöst wird". Die Rede des Interpreten ist nicht Text, sie dient dem Text. Der Text selber verschwindet, indem der Leser / Hörer für das Gesagte eingenommen wird.
Erst dadurch wird das Überwältigende der Kunst sichtbar. Es ist eben nicht der Abbildcharakter, der die Besonderheit ausmacht, sondern etwas Ungreifbares, das jenseits der Form des Werks liegt. Man könnte sagen: "Es kommt heraus", und das ist das, was man Wahrheit nennt. Diese Erfahrung ist nicht die Aufnahme von irgend etwas, sondern Ausdruck der wachsenden Faszination, die ihrerseits Zustimmung fordert. Das Werk "ist eben gelungen und hat seine unbegreifliche Richtigkeit". Es ist darüber hinaus sinnlos zu fragen, was das Werk eigentlich sagt. Das geht über das subjektive Bewußtsein des Schaffenden wie des Aufnehmenden hinaus. Im Schaffen entsteht Kohärenz, die über das gesamte Gebilde hindurch hält und die Worte zu einem Ganzen zusammenbindet, zur Sinngestalt.
Konsequenzen der sprachlichen Natur des Verstehens
Die in der Überschrift getrennten Begriffe für "Verstehen" und für "sprachlich" verbinden sich in der Auffassung allen Verstehens als sprachlich. Was heißt das nun? Stellt jedes Verstehen und Mißverstehen ein sprachliches Geschehen dar? Gilt das für zwischenmenschliche Verständigung wie auch für Außersprachliches? Wie kann das überhaupt sein, daß jedes Verstehen sprachlich ist? Was sind überhaupt die Dinge, die ich verstehen kann? Ich werde im Folgenden noch versuchen, das näher zu erläutern.
Von einem Phänomen, das mir begegnet, kann ich beispielsweise sagen, daß es mir die Sprache verschlägt. Etwas leuchtet im Erleben so sehr ein, daß es allzu einnehmend dasteht. Es ist nicht faßbar, ich bin sprachlos vor Staunen. Im Erleben jedoch faßt der Blick immer mehr, und so bedeutet "sprachlos sein" auch, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Der Ausspruch "Ich bin sprachlos" ist einer, der den Beginn statt das Ende einer langen Kette von Äußerungen markiert! In diesem Moment heißt das Versagen der Sprache, daß ich unheimlich viel sagen möchte, und daß ich in der Lage bin, Ausdruck dafür zu finden.
Daß mich jemand verstehen kann ist eine einfache Folge davon, daß auch das Worten der persönlichen, individuellen Erfahrung in Allgemeinbegriffen geschieht. Erfahrungen können zum Beispiel in der schriftlichen Form eines Buches als Beschreibung von Erfahrung oder als Beschreibung der Beschreibung von Erfahrung Niederschlag finden.
Die notwendige phänomenologische Generalisierung des "Text"–Begriffs
Ich habe schon weiter oben in scheinbar zufälliger Verwendung die Begriffe "Text" und "Feature", "Lesen" und "Hören" gebraucht. Das scheinen zwar verschiedene Gegenstände zu sein, aber mein Ausgangspunkt sind entsprechende Erfahrungen der Auflösung der Grenzen des Mediums im Erleben des durch das Medium Dargebotenen. Filme von Wong Kar-wai zu sehen, Aufführungen von Ken Jacobs beizuwohnen, Otto Rosenberg aus "Das Brennglas" lesen zu hören oder die Video- und Raum–Installation "He Will Weep For You" von Bill Viola zu betreten sind Beispiele für das Verschwinden des Mediums als Medium im Eingehen des Erlebens in das Medium.
Es ist noch etwas anderes in diesen Erfahrungen als das bloße gesprochene Wort im Text, das bloße synchrone Auftreten von Bild und Ton im Film, die bloße Existenz eines gestalteten Raumes um den Rezipienten herum Rauminstallation. Temporäre Schall- und / oder Bildereignisse bzw. das sinnhafte Arrangement von Raum allein stellt nicht weiter dar als sich selbst. Doch was darin herauskommt, teilt sich mir mit, und es ist keineswegs mit der Intention des Sprechers identisch, sondern läßt diese weit hinter sich. Es ist die Potentialität des Andersseins im Sprechen, die über jede Verständigung im Gemeinsamen hinausreicht. Im Gespräch ist es die Präsenz des anderen, die hilft, die eigene Befangenheit aufzulösen, und die Vorurteile aufs Spiel zu setzen und sie dem eigenen Zweifel und dem des anderen auszusetzen statt sie geltend zu machen.
Plötzlich gibt das Gehörte/Gelesene einen Sinn, doch "man eilt nicht ungeduldig und gleichsam unbeirrbar auf das Sinn-Ende zu". Ähnlich kann man eine Schale kalten Wassers unter null Grad kühlen und erst dadurch zum Gefrieren bringen, daß man das Gefäß anstößt. Das schlagartige Umschlagen ist anwendbar auf den Prozeß des Verstehens. Es geht nicht um das Abernten von Information, und man läßt den Text im Lesen und das Feature im Hören nicht hinter sich, sondern man geht in ihn ein. Man ist zwischen den Dingen und harrt bei ihnen aus.
Die "Lese" ist das Finden immer neuer Sinnbezüge, die das Ganze des Werks artikulieren. Am Ende, dringt man beim Erneuten Lesen immer tiefer in das Werk, steht nicht das Gefühl, man hätte alles erfaßt und verstanden, sondern eher die Gewißheit des zirkulären Charakters des Verstehens. Das "Ah, jetzt habe ich verstanden, was du meinst! Damit habe ich noch nicht gesagt, daß du auch recht hast oder recht bekommst!" markiert den Beginn des Miteinanderredens und nicht das Ende. Das Gespräch verändert beide, und ermöglicht das Zurücksinken in die Stille des Selbstverständlichen, dabei aber keinesfalls das Zurückkehren an den Ort, von dem aus man dem anderen im unverwandelten Sinn begegnet.
Die Unausschöpfbarkeit der Sinnbezüge als Sinnüberschuß zeigt auch darauf, daß das Werk nicht aufgeht in der einen Bedeutung, die es gerade für jemanden hat. Die Sinnerwartung beruht auf dem Einsprechen der Kunst in das Selbstverständnis eines jeden als Gegenwärtigkeit. Die Mittel des Sagens sind gegenüber dem Mitgeteilten sekundär, die Einzigartigkeit und Natürlichkeit des Gesagten im Gespräch ist überzeugend und selbstverständlich; so läßt gerade die Gegenwärtigkeit das Werk zur Sprache werden. Der durch das Werk Angesprochene wird vollständig für die Aussage eingenommen, "und verbietet ihm im Grunde, zu einer distanzierten ästhetischen Unterscheidung überzugehen."
Es ist nicht notwendig, zuerst die Gleichzeitigkeit mit dem Autor bzw. dem ursprünglichen Leser herzustellen, und von dort aus seinen geschichtlichen Hintergrund zu rekonstruieren, bevor der Sinn eines Werks vernommen werden kann. Die Betroffenheit vom Sinn des Gesagten rechtfertigt die unbefangene Erfahrung des Textes oder des Werks. Die Begegnung mit dem Eigentlichen als Vertrautheit–mit, als bedenkenswert vertraute Er–fahrung im echten Sinn des Wortes stellt die Aufgabe, die Erfahrung zu bewältigen: "sie in das Ganze der eigenen Weltorientierung und des eigenen Selbstverständnisses zu integrieren."
Es ist nicht der Künstler, der im Werk spricht. Der Sprache der
Kunst kann Ergänzung sein, was der Künstler über das in
einem oder seinem Werk Gesagte hinaus zu sagen hat. Aber die Sprache des
Kunstwerks ist hiervon verschieden. Das symbolhafte an Kunstwerk beruht
auch darauf, das dem menschlichen Auge die "Allbezogenheit des Seins" verborgen
bleibt und der Ent-deckung bedarf. "Denn die Sprache des Kunstwerks hat
die Auszeichnung, daß das einzelne Kunstwerk den Symbolcharakter,
der allem Seienden, hermeneutisch gesehen, zukommt, in sich versammelt
und zur Erscheinung bringt. […] Die Vertrautheit, mit der das Kunstwerk
uns anrührt, ist zugleich auf rätselhafte Weise Erschütterung
und Einsturz des Gewohnten. Es ist nicht nur das ‚Das bist du!‘, das es
in einem freudigen und furchtbaren Schreck aufdeckt – es sagt uns auch:
‚Du mußt dein Leben ändern.‘"