Die Critical Mass – Fahrrad-Politik ohne Führung? 

Die Critical Mass – Fahrrad-Politik ohne Führung? 

Berlin Kreuzberg. Im Schnitt 9841 Radelnde überqueren täglich die Oberbaumbrücke. Hintereinander. Doch was passiert, wenn sie sich alle treffen? Jeden letzten Freitag im Monat radeln bei der ‘Critical Mass’ zahlreiche Zweiräder als Einheit durch Berlin. Wir finden heraus, wie mit bloßem Radfahren die Infrastruktur einer Stadt verändert werden soll und wieso das ohne klare Führung am besten funktioniert.

Von Alícia Camacho, Moritz Nehlich und Nikola Tietze

Freitagabend am Görlitzer Park, Berlin Kreuzberg. Noch ist es eine lose Gruppe von fünf Personen verschiedenen Alters, die in variierender Ausrüstung neben ihren Fahrrädern stehen. Eine Frau verteilt fleißig Flyer, auf denen für bevorstehende Treffen der ‚Critical Mass Berlin‘ geworben werden — Treffen wie die heutige Ansammlung. Im Park weichen Familien, die letzte Sonnenstrahlen genießen wollten, langsam den Jugendlichen. Die Ansammlung wächst mit Anbrechen des Abends immer weiter, kleine Grüppchen bilden sich. Hier ein paar Frauen um die 40 ins Gespräch über Schul-Politik vertieft, dort Studierende, die das anstehende Wochenende planen. Sie werden von der Ankunft eines weiteren Radlers unterbrochen: Ein junger Mann, Mitte 20, sportlich, locker, braungebrannt. Auf seinem Rad montiert ist eine Musikanlage, mit bunten Lichterketten umhangen, die im Abendlicht das Flair einer Sommerparty an der Spree verbreiten. Das Rad scheint wie eine Ansage: Das ist keine Demo. Das ist eine Party!

Party oder Demonstration?

Eine Demonstration muss in Deutschland bis 48 Stunden vor Stattfinden offiziell bei den Behörden angemeldet werden, so schreibt es Paragraf 14 des Versammlungsgesetzes vor. Eine Critical Mass, das machen alle Beteiligten oft und gerne klar, ist aber keine Demonstration: Stattdessen treffen sich die Teilnehmenden nur regelmäßig für gemeinsame Fahrradtouren durch Berlin, bei der sie nach Regeln der Straßenverkehrsordnung fahren. Diese Fahrten funktionieren im geschlossenen Block: Ab 15 Radfahrenden dürfen die individuellen Zweiräder im Verbund fahren und somit als geschlossene Masse auch die Fahrbahnen nutzen, die sonst den motorisierten Verkehrsteilnehmenden vorbehalten sind. Dass dabei einige Autofahrende, die sonst wenig Konkurrenz auf ‚ihrer‘ Straße in Kauf nehmen müssen, stark verlangsamt werden, ergibt sich von selbst. Von Seiten der Critical Mass wird dieser Aspekt clever umschifft: Man wolle nicht „anderen Verkehrsteilnehmern das Recht auf die Teilnahme am Straßenverkehr (…) verweigern“, so das inoffizielle Online-Lexikon der Bewegung. Stattdessen soll nur die Masse der Fahrenden zusammenbleiben und bei der Tour durch die verschiedenen Stadtteile Spaß haben — ungezwungen, ohne Agenda, basisdemokratisch. Aber kann eine Bewegung auf diese Art sozialen Wandel und politische Ziele durchsetzen?

“Kümmerer” statt Organisatoren

Dem Sonnenuntergang entgegen. Manche der Fahrradtouren gehen über fünf Stunden bis tief in die Nacht. Foto: Finn Wilke

Denn ganz ohne Wort- und Radführende geht es auch bei der Critical Mass nicht. Offizielle Kanäle wie die Website, mehrere Twitter-Accounts und das Lexikon bieten Anlaufstellen für Interessierte. Auf Anfrage heißt es aber von allen: “Wir organisieren nicht, wir informieren nur”. Fast schon automatisch wird jeder Eindruck von Organisationsstruktur abgestritten. Trotzdem kommt die Radfahrer-Bewegung nicht ganz ohne Planung aus. Termine werden festgelegt, Flyer gedruckt, Musik für die Fahrten organisiert. Diese Dezentralität spricht auch Mit-Radelnde, wie Matilda Müller (Name geändert) an. Sie sieht die fehlenden Führungsfiguren als Stärke: „Ich glaub es würde sogar schwieriger werden wenn es eine gäbe; dann müsste man sich wieder zu dieser Person positionieren, Stellung nehmen. So ist es ein gemeinsames Ziel, was auch keiner weiteren Führung, zumindest zu diesem Punkt der Bewegung, bedarf. Es geht ja nur darum, zu organisieren wann und wie man losfährt und Polizeischutz zu organisieren.” Die Arbeit hierfür findet vor allem im Hintergrund statt. Stefan Taschner, Mitglied des Berliner Senats für Bündnis 90/Die Grünen, half seinerzeit in München, die dortige Critical Mass „wiederzubeleben”. Für ihn ist die Critical Mass ohne klare Hierarchie attraktiver für Beteiligte und Interessierte, denn jede(r) sei ein „Mosaikstein” der Bewegung, so Taschner. Auch er gibt jedoch zu: „Ohne Kümmerer geht es nicht.”

Die Critical Mass ist identitätsstiftend

Von Kümmerern ist in Kreuzberg trotz allem wenig zu sehen. Etwas verspätet, wie jede gute Party, rollt die Masse der Fahrräder los. Durch Kreuzberg geht es mit zahlreichen Wendungen auf den durchaus noch befahrenen Straßen, stets als zusammenhängender Block von Radelnden, stets auf den Straßen, die sonst ausschließlich Autos nutzen. Anders als bei gewöhnlichen Demonstrationen gibt es aber weder Führungsfiguren mit Megafon, noch pathetischen Reden und auch keine vorgegebene Route. Ab und zu tun sich zwar ‘Kümmerer’ hervor, wenn etwa eine Kreuzung von einzelnen Radelnden abgeschirmt wird, damit die Masse ungehindert durchfahren kann. Aber insgesamt gehen die einzelnen Personen in der Gruppe auf, verschwinden in dem bunt zusammengewürfelten Radfahr-Verbund. In diesem ‘in der Masse untergehen’, und ‘Teil eines Größeren werden’ sehen Gleichgesinnte wie Stefan Taschner die Relevanz der Critical Mass. Andere Fahrten, wie die Sternfahrt oder Großdemonstrationen, hätten zwar mehr mediale Wirksamkeit, aber die Critical Mass könne sehr identitätsstiftend sein – im Sinne von “Wir sind nicht allein, wir haben alle dieses Problem”, so Taschner im Interview. Eine Teilnehmerin der Fahrt stimmt ihm zu. Sie sieht die Solidarisierung als essentiell an: “Man muss sichtbar sein. Man muss zeigen: Wir sind viele, wir gehören auch zum Verkehr!”

Kritik von Seiten des ADAC

Doch nicht alle bewerten die Radfahrer-Masse so positiv. Jörg Becker vom ADAC Berlin-Brandenburg sieht die Bewegung kontraproduktiv für den Alltag im Straßenverkehr: Der Protest belaste das ohnehin schon angespannte Verhältnis zwischen Auto- und Radfahrenden und sei „für das Klima im Dialog nicht wirklich befruchtend”. Besonders würden Veranstaltungen wie die Critical Mass Berufspendelnde treffen, die keine Alternative zum PKW als Fortbewegungsmittel hätten. Durch die unzureichende Anbindung des Berliner Umlands seien viele Arbeitnehmende darauf angewiesen zur nächstgelegenen Bahnstation oder den kompletten Weg mit dem Auto zu bestreiten. Wie die gegebene Infrastruktur unter Verkehrsteilnehmenden aufgeteilt werden soll, ist dabei der Hauptstreitpunkt – besonders bezogen auf die zukünftige Gestaltung dieses Verhältnisses.

Problemfall Berliner Infrastruktur

Einigkeit herrscht vor allem in einem Punkt: Die Verkehrsinfrastruktur in Berlin ist ein Problem. Die Gefahr, von einem rechts abbiegenden Fahrzeug mitgenommen zu werden und der mangelnde Respekt aller Verkehrsteilnehmenden untereinander machen die Fortbewegung in der Innenstadt nicht einfach. Schlechte Kommunikation zwischen Auto- und Radfahrenden, sowie allen, die zu Fuß unterwegs sind, trägt zum schlechten Klima bei: “Wenn man jeden Tag zwei bis drei Stunden mit dem Fahrrad fährt, hat man so viele Möglichkeiten drauf zu gehen”, berichtet eine Mitfahrende der Critical Mass. Eines der Ziele der Bewegung ist auch, den Fahrradverkehr generell zu stärken und eine nachhaltige, kindgerechte und weniger umweltbelastende Stadt zu schaffen. “Das größte Problem ist einfach die absolut ungerechte Raumverteilung in einer vor allem autogerechten Stadt“, bringt es eine andere Teilnehmerin auf den Punkt. 

Schluss mit der Drängelei. Das neue Mobilitätsgesetz soll die Infrastruktur für Fahrräder verbessern. Foto: PixaBay, Volker Schnaebele

Mobilitätsgesetz soll Abhilfe schaffen

All dies ändern soll das Berliner Mobilitätsgesetz. Es soll ein umfassendes Konzept für die Verkehrsstruktur in Berlin schaffen, für Busse und Bahnen, Autos und LKWs, Fahrräder und Laufende. Die fehlende Radverkehrsinfrastruktur soll dabei genauso angegangen werden wie der Ausbau des Schienennetzes und zusätzlicher Parkplätze – auch für Räder. Am 28. Juni wurde das Gesetz nach langer Verhandlungsphase vom Berliner Senat verabschiedet. Der ADAC kritisierte zwar die fehlende Berücksichtigung von Autos im Konzept, doch mit dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in den Außenbezirken soll der neue Fokus auf Radfahrende nicht den Pendelnden zur Last fallen. Berlin ist mit dem Gesetz Vorreiter in der Gleichberechtigung von Rad und Auto.

Die Critical Mass fährt weiter

Die Critical Mass scheint damit einen eindeutigen Sieg errungen zu haben. Das Mobilitätsgesetz war zwar nie eine konkrete Forderung der Bewegung, die generell keine Forderungen stellt, doch die Position der Radfahrenden ist gestärkt. Auch wenn es laut einer Mitarbeiterin des Bezirksparlaments Tempelhof Schöneberg noch dauern wird bis sich etwas tut: “Im Radverkehr sind die Stellen geschaffen, aber die muss man erstmal besetzen.” Die Fahrt in Kreuzberg geht nach vielen Stunden langsam zu Ende. Die Straßen werden immer leerer, der Berufsverkehr legt sich. Und auch die Stimmung ist ruhiger und entspannter, klingt langsam aus. Im goldenen Licht der untergehenden Sonne radelt die Gruppe dem Brandenburger Tor entgegen. Langsam zerstreut sich die Masse. Trotz aller Entwicklungen steht fest: In einem Monat finden sich wieder Radfahrende zusammen, um gemeinsam durch Berlin zu touren. Die Critical Mass hat schließlich keine Organisation – und kein Ende.


Alícia Camacho studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist jetzt im sechsten Semester und will Recherchejournalistin werden.



Moritz Nehlich studiert Filmwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität im vierten Semester. Nach dem Studium zieht es ihn zum Kulturjournalismus oder in die akademische Arbeit.



Nikola Tietze studiert Sozial- und Kulturanthropologie und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im vierten Semester. Sie fährt in ihrer Freizeit viel mit dem Rad durch Berlin und möchte Stadtgeschichten festhalten.