Notunterkünfte in Berlin: „Da haben wir versagt“

Vor dem Haus D von Moabit hilft e.V. in der Turmstraße

Notunterkünfte in Berlin: „Da haben wir versagt“

Christiane Beckmann von Moabit hilft e.V. kennt sich mit den Herausforderungen aus, die geflüchtete Menschen in Deutschland bewältigen müssen. 15.000 Geflüchtete leben in deutschen Notunterkünften. Der Großteil von ihnen befindet sich in Berlin. In der Hauptstadt sind 13.000 Menschen teilweise seit Monaten in den provisorischen Einrichtungen untergebracht.

Ein Hintergrundbericht von Laura Klose und Annalena Podzun

Bilder von Menschen, die an Grenzen ausharren, in der Hoffnung nach Deutschland einreisen zu können, waren 2015 täglich in den Medien. Für ein neues Leben nahmen Frauen, Männer und Kinder die Flucht vor Verfolgung und Krieg auf sich. Sie suchten Schutz in einem anderen Land. Deutschland nahm im europaweiten Vergleich die meisten geflüchteten Menschen auf. Tausende von ihnen trafen jeden Tag in Deutschland ein. Notunterkünfte und Turnhallen dienten als Unterbringung. Sie sollten eine provisorische Lösung sein. Fast zwei Jahre sind vergangen seitdem Bundeskanzlerin Angela Merkel verlauten ließ: „Wir schaffen das!“ und es scheint, als ob die damit verbundenen Herausforderungen wie Wohnraumbeschaffung und Deutschunterricht für Geflüchtete tatsächlich gelöst seien. Kaum noch wird im Fernsehen über wartende Menschen vor der Erstregistrierung für Geflüchtete berichtet. Die Aufrufe nach Spenden sind seltener geworden. Ob der Schein den Tatsachen entspricht lässt sich nur überprüfen, wenn die Menschen befragt werden, die direkt betroffen sind.

Alte und neue Probleme

„Dass wir 13.000 Menschen in Notunterkünften haben, es keine Qualitätsstandards gibt, das ist einfach falsch. Da haben wir versagt. Also nicht wir persönlich. Da hat unser Senat versagt. Ganz klar“, meint Christiane Beckmann von Moabit hilft e.V. Die Initiative gibt es seit 2013. Die Gründerin ist Diana Henniges, neben Ronja Lange ist sie nun im Vorstand tätig. Sie und die Geschäftsführerin des Vereins Beckmann bezeichnen Moabit hilft e.V. als „politischen Verein“, nicht als „Hilfsverein“. Beckmann und der Verein waren diejenigen, die auf die desolaten Zustände auf dem Gelände des damaligen Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) aufmerksam machten. Moabit hilft e.V. übernahm die Unterstützung der Geflüchteten als der Senat die Versorgung nicht ausreichend sicherstellen konnte. Beckmann erinnert sich, wie „1.500 Menschen auf dem Platz sitzen. Ohne essen, ohne medizinische Versorgung. Babys ohne Windeln, keine Unterkunft, kein gar nichts.“

Die Probleme seien heute nicht mehr die gleichen wie 2015, „aber viele Themen, die spezifisch auf Geflüchtete gehen, sind gesellschaftspolitische Probleme. Die halten uns ja nur den Spiegel vor“, stellt die Vereinsgeschäftsführerin fest. Wohnungen seien knapp, das waren sie allerdings schon vor Jahren. Gesehen habe das nur niemand. Erst als tausende Menschen nach Deutschland flohen, wurde das Problem für jeden sichtbar. In Kinderarzt-Praxen bekäme man keine Termine mehr. An qualifizierten Ärzten habe es in Berlin aber auch schon vor 2015 gemangelt. Akut sei außerdem der Rassismus gegenüber den Geflüchteten. „Racial-Profiling ist hier fast an der Tagesordnung. Auch wie hier in der Turmstraße die Mitarbeiter der BVG mit den Leuten umgehen“, kritisiert Beckmann.

Es geht um die Würde der Menschen

Moabit hilft e.V. verfügt über zwei Standorte. Beckmanns Büro befindet sich in der Turmstraße neben dem Gebäude des ehemaligen LaGeSo. Ein weiterer Standort ist in der Lehrter Straße. Menschen, die Kleidung brauchen, Hilfe bei der Wohnungssuche und Behördengängen benötigen oder ein Problem loswerden möchten, können sich an beiden Standorten Unterstützung holen. In der Lehrter Straße werden außerdem Deutschkurse angeboten. Ein fester Kern von Mitgliedern und dazu 30 bis 40 wechselnde Freiwillige sortieren Kleiderspenden, unterstützen Bedürftige bei Amtsgängen und unterstützen die Geflüchteten beim Ankommen in Berlin. Die Kleiderspende sei ein Knotenpunkt, bei dem sich leicht Kontakt zwischen Freiwilligen und Bedürftigen aufbauen lässt. Laut Beckmann sind 60 bis 70 Prozent der Belegschaft selbst Geflüchtete. Diese können sich nicht nur sehr gut in die Lage der anderen Neuankommenden hineinversetzen, sondern sprechen auch die gleiche Sprache. „Es geht darum, dass die Menschen, die hier hereinkommen, auch mit Würde empfangen werden!”

„Ein unabhängiger Ort”

Besonders wichtig sei es für Moabit hilft e.V., unabhängig zu bleiben. Deshalb ließen sie sich nicht über öffentliche Träger finanzieren, sondern sicherten die Existenz des politischen Vereins ausschließlich über private Spenden, erklärt Beckmann. „Es ist ein etablierter Ort. Es ist wichtig, dass dieser Standort hier bleibt. Einerseits, weil er bekannt ist und dann gibt es auf der anderen Seite auch den integrativen Charakter, dadurch, dass bei uns jeder mitmachen kann. Es haben so viele Leute bei uns Deutsch gelernt.“

Gemeinsam lernen

Deutsch lernen können Geflüchtete auch in der Neuen Nachbarschaft/Moabit in der Beusselstraße. Die Bürgerinitiative engagiert sich für Flüchtlinge und ein soziales Miteinander. Ihr Angebot finanziert die Neue Nachbarschaft durch Spenden und den Umsatz der dazugehörigen Bar. Jeden Montag, Dienstag und Mittwoch findet um 18:00 ein sogenannter Deutschstammtisch statt. Deutsch-Muttersprachler*innen üben mit Menschen, die ihre Deutschkenntnisse verbessern wollen und unterhalten sich auf Deutsch. Für viele Geflüchtete ist das die einzige Gelegenheit, mit Deutschen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen. Wenn sie in einer Notunterkunft wohnen, sind sie unter sich, im Deutschunterricht auch.

Vor dem Eingang von Neue Nachbarschaft/Moabit

„Die Deutschen sind verschlossen“

Nezar, ein Geflüchteter aus Syrien, beklagt, dass er kaum Kontakt zu Deutschen habe, obwohl er mit seiner Familie in einer privaten Wohnung wohne und alle Nachbarn Deutsche seien: „Die Deutschen sind verschlossen“. Wer zum Deutschstammtisch kommt, möchte seine Deutschkenntnisse verbessern und oft auch eine Arbeitsstelle in Deutschland finden. Die Geschichten und Hintergründe der Teilnehmer*innen sind unterschiedlich, doch sie haben eines gemeinsam: Ihre Ausbildungen und Studienabschlüsse werden in Deutschland häufig nicht anerkannt. Für die betroffenen Menschen bedeutet das, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen.

Ohne handfeste Ergebnisse kann nicht von Verbesserung gesprochen werden

Seit der letzten Wahl im Abgeordnetenhaus kann Beckmann von Moabit hilft e.V. eine verbesserte Kommunikation mit den zuständigen Landespolitikern feststellen. „Aber wir können erst von einer Verbesserung sprechen, wenn auch wirklich irgendein Resultat erfüllt ist“, meint sie. Ihre Sorge gilt vor allem der Zukunft: „Was passiert mit Ungarn, was passiert mit Bulgarien? Was passiert denn jetzt in der EU? Wie positionieren wir uns denn jetzt eigentlich? Wie geht es denn weiter mit dem Mittelmeer? Wir haben es ja alles ’nur so ruhig‘, weil wir alle Grenzen zu gemacht haben.“

Wie es in fünf Jahren aussehen wird, weiß heute niemand. Für Beckmann steht fest, dass bei einer erneuten Flüchtlingswelle, z.B. durch eine Grenzöffnung von Präsident Erdoğan in der Türkei, die Situation in Berlin genauso wäre wie vorher. Deshalb sind Initiativen wie Moabit hilft e.V. und die Neue Nachbarschaft wichtig, weil sie dort handeln, wo der Staat versagt hat, und einen Teil zur Verbesserung der Situation der Menschen beitragen.


Annalena Podzun ist Studentin an der Freien Universität Berlin. Sie studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft im 4. Semester. Seit ihrem ersten Semester engagiert sie sich bei Draufsicht TV, einem Filmteam, das entwicklungspolitische Themen in Kurzvideos präsentiert. Sie lebt in Moabit, eine U-Bahnstation entfernt vom ehemaligen Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), direkt neben einer Notunterkunft für Geflüchtete: Die aktuelle Situation von geflüchteten Menschen zu dokumentieren, ist ihr auch deshalb besonders wichtig.


Laura Klose studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Spanische Philologie im 3. und 5. Semester an der Freien Universität Berlin. Sie lebt in Moabit.