Heiligensee: Sechs Millionen Euro für ein Flüchtlingsheim ohne Flüchtlinge

Heiligensee: Sechs Millionen Euro für ein Flüchtlingsheim ohne Flüchtlinge

Seit anderthalb Jahren steht das explizit für Flüchtlinge gemietete Tetra Pak-Gelände in Heiligensee leer. 1100 Flüchtlinge sollten hier für dreieinhalb Jahre untergebracht werden, doch bisher wohnt niemand in der alten Fabrik. Trotzdem kostet das Gelände den Staat laut rbb jeden Monat 158.576 Euro.

Von Marie Steffens und Kübra Baysal

Von der Straße aus, leicht versteckt zwischen grünen Bäumen, lässt sich das Fabrikgebäude erkennen. Die Wände grau, der einzige Farbklecks sind die blauen Fensterrahmen, das blaue Security-Haus und der breite, sehr dominante Zaun. Er verhindert das Eintreten unerwünschter Besucher. Nur angemeldeten Gästen gewährt der Pförtner Einlass. Von der Seite kann man einen kleinen Blick auf das übrige Gelände erhaschen. Weitere Gebäude und ein relativ großer Hof kommen zum Vorschein. Wohnlich sieht das Gelände allerdings nicht aus. Es ist ein Fabrikgelände, ein Ort, an dem Gerätschaften und Maschinen lagern. Am Rande Berlins, fernab von belebten Straßen.

Es handelt sich um das ehemalige Tetra-Pak Gelände in Heiligensee. Dieses wurde im Dezember 2015 von der landeseigenen Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) für dreieinhalb Jahre angemietet. Laut Berliner Zeitung liegen die Mietkosten des Geländes bei insgesamt 6,4 Millionen Euro. Aufgrund des maroden Zustandes der Sanitär- und Heizungsanlagen erklärte der Bezirksbürgermeister Reinickendorfs, Frank Balzer, das Industriegelände schon bei der ersten Begehung für eine menschenunwürdige Unterbringung. Trotzdem sollten hier 1100 Flüchtlinge untergebracht werden. Bisher steht das Gebäude allerdings immer noch leer.

Die genaueren Gründe hierfür versuchte der AFD-Politiker Karsten Woldeit durch eine Befragung vor dem Hauptausschuss herausfinden. Auch der CDU-Abgeordnete für Heiligensee, Stephan Schmidt, stellte einen Antrag zur Einsicht der Akten. Dieser gestaltete sich allerdings problematischer als gedacht. Erst wurde der Termin abgesagt, dann fehlte der Schlüssel zum Raum. „Gibt es da was zu verbergen?“, fragte sich Schmidt. Aber er blieb dran und konnte schließlich Einsicht nehmen.

Antrag von Stephan Schmidt (CDU) zur Akteneinsicht. Foto: Stephan Schmidt

Von Anfang an zum Scheitern verurteilt?

Laut Schmidt sei das Projekt von Anfang an nicht wirtschaftlich gewesen. Doch die Senatorin für Integration und Soziales, Elke Breitenbach, versichert, dass das Gelände von der BIM im Auftrag des LAGeSo (heute LAF) auf Wirtschaftlichkeit geprüft wurde: „Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Mietvertrages und unter der Berücksichtigung der für die Herrichtung notwendigen Investitionen und der Unterbringung von bis zu 1.000 Geflüchteten war die Anmietung als wirtschaftlich anzusehen.“

Die Kosten und auch die Dauer der Umbauarbeiten wurden anfangs falsch eingeschätzt. Die tatsächliche Höhe der aufzuwendenden Kosten stand erst Mitte 2016 fest. Zu diesem Zeitpunkt war das Gelände aber schon angemietet. Zunächst war man laut Stephan Schmidt von Kosten von 1,8 Mio. Euro ausgegangen, später dann von 2,5 Mio. Euro. Auch die Dauer der Sanierungsarbeiten verschob sich von 4 bis 6 Wochen auf 4 bis 6 Monate. Vieles davon war schon bei der ersten Begehung deutlich geworden: die Heizungen ließen sich nicht auf über 5 Grad erhitzen, es gab zu wenige Sanitäranlagen und der Brandschutz war auch nicht gewährleistet. All dies kritisierte das Bezirksamt Reinickendorf und verweigerte die Genehmigung.

Wer ist verantwortlich?

Die BIM mietete das Gelände trotzdem: „Und wir haben dann nie mehr davon gehört. Wir haben nur gehört das irgendwann Ende 2015 ein Mietvertrag unterschrieben wurde“, so Balzer. Auch die Bauaufsicht habe die Mängel thematisiert, sich dann aber aus allem herausgehalten. „Ich denke da liegt der Fehler. Die BIM hat nicht ordnungsgemäß geprüft. Sie hat den Fehler gemacht, dass sie dem Vermieter geglaubt hat oder an die Sache blauäugig rangegangen ist“, so Frank Balzer. Karsten Woldeit versteht diesen Vorgang nicht. Wenn die Leute vor Ort mit genauen Informationen von einer Unterbringung von Flüchtlingen abraten, dann sollte man diesen vertrauen.

Der blaue Zaun verhindert das Eintreten unerwünschter Gäste. Foto: Marie Steffens

Vieles ist falsch gelaufen

„Gab es keine Alternativen?“, fragte Schmidt bei der Anhörung. Das konnte die Senatorin nicht beantworten. Es seien auch andere Gebäude geprüft worden. Wieso wurden dann gerade das Tetra-Pak Gelände so übereilt angemietet? Hinrich Westerkamp (Bündnis90/Die Grünen) sieht die schnelle Anmietung der Situation geschuldet. „Zu dem Zeitpunkt waren alle davon ausgegangen, dass mehr Unterbringungsplätze nötig waren. Sonst hätte man sowas sicherlich nicht gemacht“.

Die Senatorin bestätigt das: „Im Herbst/Winter 2015 hat der damalige Senat aufgrund des hohen Zugangs an geflüchteten Menschen beinahe im Tagesrhythmus Anmietungen von Flächen/Objekten vorgenommen, um Flüchtlinge unterzubringen und Obdachlosigkeit zu verhindern“. Trotzdem sollte auch in einer Notsituation kalkuliert und überlegt werden, so Karsten Woldeit. Vor allem weil die Gelder aus dem Landeshaushalt bezahlt wurden. Auch Schmidt findet: „Vieles rund um die Anmietung des ehemaligen Tetra-Pak Geländes in Heiligensee ist falsch gelaufen. Nicht alle Fehler lassen sich durch die besonders zugespitzte Situation während der sogenannten Flüchtlingskrise Ende 2015 erklären“.

„Mir fehlt das Wie, Wo und Wann“

Schmidt kritisiert vor allem die Kommunikation mit den Bürgern. „Dieses Hin und Her verunsichert die Nachbarn im Umfeld der geplanten Einrichtung”. Das Projekt hätte den Bürgern transparenter präsentiert werden müssen. Einige Anwohner Heiligensees hatten Sorgen und Ängste geäußert. Nun liegt anscheinend doch kein Grund für die Sorge der Bürger mehr vor: das Tetra-Pak Gelände wird laut dem LAF kein Flüchtlingsheim mehr werden.

Neue Pläne?

Nachdem die Zahlen der ankommenden Flüchtlinge sanken, war der Bedarf an derartig großen Unterkünften nicht mehr gegeben und der Senat hat von den Umbaumaßnahmen Abstand genommen. Das Problem dabei: „Für das Objekt Hennigsdorfer Straße besteht kein Sonderkündigungsrecht“. Warum? Man habe versucht ein Sonderkündigungsrecht auszuhandeln, doch „bei dem zunehmend angespannten Gewerbemietmarkt ist das – auch außerhalb der Flüchtlingsunterbringung – häufig nicht verhandelbar“, so Breitenbach. Schmidt behauptet dagegen der Senat habe freiwillig auf das Sonderkündigungsrecht verzichtet. Wahrscheinlich aufgrund von Druck seitens des Vermieters, Capital Bay, welcher damit drohte die Verhandlungen platzen zu lassen, so Schmidt. Keine Ausstiegsklausel in den Vertrag aufzunehmen sei seiner Meinung nach fahrlässig gewesen.

Was wird aus dem Tetra-Pak-Gelände? Foto: Marie Steffens

Die Zukunft des Geländes bleibt ungewiss

Derzeit wird ein Teil des Objekts vom LAF als Lagerhalle für Einrichtungsgegenstände (Tische, Stühle, Geschirrpakete etc.) genutzt, um es nicht leer stehen zu lassen. Was wird danach aus dem Gelände? Eine neue Wohnsiedlung? Dies sieht zumindest der Bündnis 90/Die Grünen Politiker Hinrich Westerkamp als Möglichkeit. Der Vermieter wolle seinen Informationen nach das Gelände anders nutzen. Dabei könnten aber auch Probleme entstehen: „Die Frage ist, ob es dort zu irgendwelchen Absprachen kommt, die nicht im Sinne der Bürger und der Bevölkerung sein können“.

Ob sich der Vermieter auf Verhandlungen tatsächlich einlassen wird und unter welchen Bedingungen ist fraglich. Die Aufklärung der Umstände geht nun schleppend voran. Eine Klage der Staatsanwaltschaft gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf Untreue liegt laut Schmidt schon vor und wird derzeit geprüft. Viele Fragen bleiben offen, wie zum Beispiel warum der Mietvertrag über drei Jahre und vier Monate abgeschlossen wurde anstatt der üblichen zwei Jahre. Insgesamt ist die Zukunft des Geländes ungewiss.


Marie Steffens wurde 1997 in Berlin geboren. Sie studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politik an der Freien Universität Berlin. Sie will Journalistin werden und über politische und gesellschaftliche Entwicklungen in aller Welt berichten.


Kübra Baysal studiert im 5. Semester Publizistik- und
Kommunikationswissenschaft und Politik an der Freien Universität Berlin.