Der Kurfürstenstrich – Besserung durch ein neues Gesetz?

Der Kurfürstenstrich – Besserung durch ein neues Gesetz?

„Mama, was ist das?“, fragt mein 4-jähriger Sohn und zeigt auf ein benutztes Kondom im Sandkasten. Diese Frage könnte hier jedes Kind jedem Elternteil stellen, jeden Tag. Wir wohnen in der Kurfürstenstraße.

Von Luna Gebauer und Marie Alex

Die Kurfürstenstraße ist seit 1885 Zentrum der Straßenprostitution in Berlin. Über hundert Jahre später wurde diese durch das Prostitutionsgesetz von 2001 entkriminalisiert. Die EU-Osterweiterungen 2004 und 2007 haben das Straßenbild verändert, die Frauen kommen seitdem vermehrt aus Ländern wie Ungarn, Bulgarien oder Rumänien. Neben den wenigen Frauen, die bereits seit Jahren hier arbeiten, findet man immer häufiger jene, die nach wenigen Wochen oder Monaten wieder von der Straße verschwinden. Einige fahren zurück in ihr Heimatland, weil sie die Arbeit auf der Straße nicht länger ertragen oder aber vorerst genügend Geld verdient haben. Die Frage, inwiefern menschenhändlerische Strukturen dahinterstecken, drängt sich auf.

Die Anwohnerin Gabriele Hylische erlebte diese Veränderungen mit. Sie berichtet, dass das Milieu früher anders akzeptiert wurde: „Wenn man hierherzieht, weiß man, was einen erwartet. Bis Mitte der 90er Jahre gab es ein gutes Zusammenleben. Erst mit zunehmender Verdichtung der Bebauung und der damit einhergehenden Verdrängung des Vollzugs in Hauseingänge und Kellertreppen haben Anwohner massiv in der Bezirksverordnetenversammlung eingewirkt und wollten ein Sperrgebiet. Die Politik hat die Probleme nicht so mitgekriegt. Sie muss sich erst darauf einstellen, dass das Zusammenleben nicht mehr so gut funktioniert.“

Das neue Prostituiertenschutzgesetz

Am 1. Juli 2017 trat nun das neue Prostituiertenschutzgesetz in Kraft. Es soll den „Sexarbeiterinnen“ einerseits mehr Rechte geben, sie andererseits aber auch mit Pflichten belegen. So müssen sie zwar ein Gewerbe anmelden, können sich aber im Gegenzug kranken- und rentenversichern. Des Weiteren soll besserer Schutz durch Regulierung der Arbeitsbedingungen, zum Beispiel Kondompflicht, geschaffen werden. Der neue rechtliche Rahmen sieht auch eine Beratungs- und Vorsorgepflicht vor.

OLGAs Überblick über die Arbeiterinnen im Kiez. Foto: Luna Gebauer

Wer genau das jedoch wie durchsetzen soll, bleibt offen. Anne Paradies, Sozialarbeiterin beim Frauentreff OLGA, meint dazu: „Fakt ist, es ist nicht klar, wer das Ganze kontrollieren wird, also welche Organisation, ob Polizei, Ordnungsamt oder wer auch immer“.

Der Frauentreff OLGA ist – als Teil des Drogennotdienstes Berlin – die zentrale Anlaufstelle in der Kurfürstenstraße. Seit vielen Jahren begleiten die Mitarbeiterinnen die Frauen im Alltag. Vor Ort gibt es Aufklärungsangebote zu Drogenkonsum und der Arbeit auf dem Strich. OLGA bietet einen sicheren Platz zum Duschen, Schlafen, Essen und sich Austauschen. Auch medizinische Versorgung, Kondomausgabe, Spritzentausch und Sprachmittlerinnen, die unter anderem Hilfe bei bürokratischen Angelegenheiten leisten, sind gegeben. OLGA nimmt sich jedoch nicht nur der Probleme der Prostituierten an, sondern versucht auch, Ansprechpartner für Anwohner und Gewerbetreibende zu sein. Doch diese suchen kaum Austausch, obwohl immer wieder Probleme beklagt werden und auch wiederholt in der Presse Gehör finden. Viele beschweren sich über die Verschmutzung der Straßen und Parks durch Kondome und Spritzen, aber auch über Lärmbelästigung. Sie werfen den Frauen Rücksichtslosigkeit vor, beispielsweise in Form von übertriebener Freizügigkeit und aggressiver Anmachen, auch vor Schulen und Kitas.

„Oft wissen die Frauen nicht, wo sie sind“

Burkhard Bornemann ist seit fünf Jahren Pfarrer der Zwölf-Apostel-Kirche in Schöneberg, welche vor über 25 Jahren die Mittwochs-Initiative e.V. ins Leben rief. Die Initiative bietet wöchentlich eine warme Mahlzeit und ist zugleich Treff- und Beratungspunkt für Frauen aus dem Drogen- und Prostitutionsmilieu. Den Vorwurf der Rücksichtslosigkeit führt Bornemann auf die Unwissenheit der Prostituierten zurück: „Die Frauen selber erzählen […], dass sie oft gar nicht wissen, was das hier für ein Gebiet ist, nämlich dass das hier gar kein Rotlichtviertel ist, sondern ein Wohngebiet. Dass es Kindertagesstätten und Schulen gibt, das nehmen die Frauen oft erst danach wahr.“

Selten wird der Fokus auf die Probleme und Bedürfnisse der Frauen selbst gelegt: körperliche und psychische Gesundheit, fehlende Sicherheit, bei einem Teil auch Drogenkonsum und Obdachlosigkeit. Wenn bestehende Präventions- und Entzugsangebote durch das staatliche Hilfesystem nicht wahrgenommen werden, gehört dies teils auch zur Symptomatik einer Suchterkrankung. Bei ausländischen Frauen liegt es jedoch zumeist an der fehlenden Möglichkeit: Wer in Deutschland nicht behördlich gemeldet ist, kann sich nicht krankenversichern und erhält auch keine Leistungen. Die Hürden zur Anmeldung eines Gewerbes sind beachtlich. Neben den Deutschkenntnissen fehlt den Frauen häufig eine gültige Meldeadresse. Auch kann abhängigen Frauen bei der Anmeldung die Ausweisung drohen. Aus denselben Gründen werden auch die Tests zur Erkennung von Geschlechtskrankheiten vernachlässigt. Solche Tests sind zwar seit dem 1. Juli 2017 vorgeschrieben, doch der Gesetzgeber hat keine Lösungen für die Hindernisse bei der Durchführbarkeit.

Verdrängungsprozesse forcieren das Problem

Ostseite der Zwölf-Apostel-Kirche. Die Nischen werden oft als Vollzugsort genutzt. Foto: Marie Alex

Ob die neuen Vorschriften eine Veränderung zum Positiven bringen werden, ist also mehr als fraglich. Viele Lösungsvorschläge verfehlen ihr Ziel. Die Stadt Berlin verfügte beispielsweise über die Einzäunung bestimmter Flächen, die als Vollzugsorte genutzt wurden. Das führte in der Vergangenheit zu Verdrängungsprozessen und somit zu einer Verlagerung des Problems, zum Teil sogar tiefer in die Wohngebiete hinein.

Forciert wird die Verdrängung auch durch die anhaltende Neubebauung im Zuge der Gentrifizierung. Vermehrte Straßenbeleuchtung und veränderte Verkehrsführungen zur Abwehr von Freiern, die mit dem Auto halten, haben sich ebenfalls als wenig zielführend erwiesen. Dass gezwungener Maßen immer neue abgelegene Plätze gesucht und gefunden werden, verärgert nicht nur die Anwohner, es stellt auch ein weiteres Sicherheitsrisiko für die Frauen dar. Tatsächlich betrifft die Verdrängung nicht nur die Prostituierten, sondern auch die sozialen Träger. So steht der Drogennotdienst, der Träger von OLGA ist, vor einer Mieterhöhung in der Genthiner Straße, die er sich nicht mehr leisten kann. „Die suchen eigentlich was Neues, wollen sogar was käuflich erwerben, um hier bleiben zu können“, so Bornemann.

Die immer wieder diskutierten Sperrzeiten werden weder von OLGA noch von der Mittwochs-Initiative e.V. für praktikabel gehalten. Ähnlich verhält es sich mit der Eröffnung eines Laufhauses. Während sich die Kirchengemeinde seit Langem dafür ausspricht, auch, weil als Vollzugsort oft Nischen des Kirchengebäudes genutzt werden, betrachtet Frau Paradies ein Laufhaus kritisch: „Es gibt Stundenhotels. Und es gibt im LSD (Erotik-Kaufhaus an der Kurfürstenstraße, Anm. d. Redaktion) die Möglichkeit, Kabinen zu mieten. Viele Frauen nutzen das, einige Frauen nutzen es nicht. Die Frage ist ja eher: Warum wird es nicht genutzt?“ Mögliche Antworten seien die unklare Sicherheitslage in solchen Einrichtungen, sowie der Kostenfaktor. Die Preise im Kurfürstenkiez variieren stark, nicht jede Frau hat das Geld, die Miete aufzubringen.

Aufklärung und bezahlbare Krankenversicherung sind wichtiger als ein Gesetz

Projektbroschüren und Präventions-Kit von OLGA. Foto: Luna Gebauer

Die Anwohnerin Gabriele Hulitschke bedauert, dass das Miteinander im Kiez fehlt: „Es gab früher ein Grundverständnis für die Situation [der Frauen]“. Bei den Anwohnern muss das Bewusstsein dafür geschärft werden, aus welchen Beweggründen Prostituierte auf der Straße arbeiten, und dass ein Fehlverhalten ihrerseits oft mit Unwissenheit über die besondere Struktur des Kiezes zusammenhängt. Außerdem sollten sie auch darüber aufgeklärt werden, an welche Organisationen und Ämter sie sich bei Problemen wenden können.

OLGA und die Gemeinde der Zwölf-Apostel-Kirche sind nur zwei Beispiele für ebensolche Gruppen, die als Mediatoren zwischen den Parteien vermitteln. Auf der Seite der Prostituierten erreichen sie durch informierende Gespräche, dass die Frauen dafür sensibilisiert werden, dass es sich eben nicht um einen Rotlichtbezirk, sondern um ein Wohnviertel handelt, in welchem auch Kinder, leben, spielen und zur Schule gehen. Des Weiteren organisiert OLGA regelmäßig ein Projekt zur Sauberhaltung des Kiezes, bei welchem die Frauen, ausgerüstet mit Mülltüte und Handschuhen, durch die Nachbarschaft ziehen. Das sendet ein Zeichen an die Anwohner und die Prostituierten gleichermaßen. Um die Probleme zu lösen, die sich den Frauen bei der Arbeit stellen, sieht Anne Paradies von OLGA die Chance, sich in Deutschland anmelden zu können, als wirksamste Lösung: „Wenn die Frauen hier die Möglichkeit hätten, eine Krankenversicherung zu haben, die nicht 250 € im Monat kostet, bräuchte es dieses Gesetz nicht.“

Das Prostituiertenschutzgesetz wurde entworfen, um die Rechte der Prostituierten zu stärken und um ihr Umfeld sicherer zu machen. In der Kurfürstenstraße bleibt man skeptisch, ob es die gewünschten Änderungen bringen wird. Wenn ich nachher meine Kinder aus der Kita abhole, fragen sie mich vielleicht wieder, was das Aluminiumpapier auf dem Boden ist. Irgendwann fragen sie mich wahrscheinlich auch, was das für Frauen sind, die da auf der Straße laufen. Wir wohnen im Kurfürstenkiez. Da gehört das dazu.


Luna Gebauer studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und AVL im 2. Fachsemester an der FU Berlin.


Marie Alex studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und französische Philologie im 6. Fachsemester an der FU Berlin.