„Es gab ein Heim mitten im Wald“

„Es gab ein Heim mitten im Wald“

In Deutschland Fuß zu fassen, ist für alle Geflüchteten schwierig. Am schwersten dürfte es jedoch für Kinder und Jugendliche sein, die ohne Eltern oder andere Angehörige, die Flucht hinter sich gebracht haben. Cem Gömüsay, Koordinator der Initiative „Charlottenburg hilft“, spricht im Interview über die Bemühungen um unbegleitete minderjährige Geflüchtete und die bürokratischen Hürden, die es zu überwinden gilt.

Von Helena Keuper

Cem Gömüsay, Koordinator der Initiative „Charlottenburg hilft“. Bild: Helena Keuper.

Das Charlottenburger Stadtteilzentrum Nehringstraße erinnert entfernt an eine große Kindertagesstätte. Auf den ersten Blick ist ein langer Flur mit Topfpflanzen und einer etwas in die Jahre gekommenen Polstergarnitur zu sehen, eine große Küche, links ein Raum mit einem langen Tisch, Bildern an den Wänden und einem Schild an der offenen Tür: ‚Bitte nicht stören – hier wird gelernt‘. Von irgendwoher sind Kinderstimmen zu hören, ansonsten ist es ruhig.

Cem Gömüsay, studierter Kulturwissenschaftler und seit zwei Jahren Leiter des Statteilzentrums, hat im Zuge des langen Sommers der Migration zusammen mit anderen ein Projekt zur Unterstützung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter ins Leben gerufen. Die Idee: Freiwillige begleiten in Eins-zu-eins-Verhältnissen die Jugendlichen, verbringen Zeit mit ihnen, helfen beim Ankommen in Berlin.

Wann und wie ist das Patenprojekt entstanden?

Das war im September 2015. Wir haben damals festgestellt, dass es mitten im Grunewald ein Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gab. Das wurde nicht bekannt gemacht, wir haben das auch nur um fünf Ecken gehört. Um dieses Heim wurde sich überhaupt nicht gekümmert. Als ‚Charlottenburg hilft‘ – und als Stadtteilzentrum – haben wir uns dessen dann angenommen, verschiedene Aktivitäten organisiert, Kleiderspenden, Spieleabende.

Und wir hatten diese Idee von der Begleitung eins zu eins. Da haben wir angefangen, ein bisschen zu vermitteln. Am Anfang ging es vor allem um Freiwillige für die Schulsuche, denn das hat damals nicht so richtig geklappt. Viele der Jugendlichen waren damals schon seit ein paar Monaten hier, hatten aber noch keinen Schulplatz. So ist die Idee für das Patenprojekt entstanden, denn wir haben gesehen: Wenn jemand dahintersteht bei der Schulsuche und bei der Schulverwaltung ein bisschen Druck macht, dann funktioniert das auch.

Wie war die Situation der Jugendlichen damals? Wurde sich in irgendeiner Weise um sie gekümmert?

Gekümmert wurde sich da überhaupt nicht, auch nicht vom Senat. Das war für uns wirklich unbegreiflich. Diese Notunterkünfte für Jugendliche, die gibt es offiziell gar nicht. Normalerweise kommen jugendliche Flüchtlinge in eine Clearingstelle. Da geht es dann darum, zu klären, wo sie herkommen, welche Schulbildung sie haben, wie es ihnen psychisch geht. Dann werden sie an ganz normale, stationäre Jugendeinrichtungen weitervermittelt. Bevor das hätte passieren können, kamen die meisten aber schon in große Notunterkünfte, weil es nicht genug Clearingstellen und Plätze in stationären Jugendeinrichtungen gab. Das heißt: Alles, was die Jugendlichen hatten, war Essen und ein Dach überm Kopf. Das war’s. Für normale Unterkünfte gab es Verträge mit dem Senat, hier nicht. Das heißt, es gab auch keine Vorgaben beispielsweise dafür, wie viele Sozialpädagogen es in solchen Einrichtungen geben muss. Die Jugendlichen sind da mehr oder weniger sich selbst überlassen worden. Da war gar nichts.

Was sind die besonderen Herausforderungen, vor denen geflüchtete Jugendliche stehen?

Zunächst sind viele natürlich hochtraumatisiert. Sie kommen allein hier an, haben keine Bezugsperson, werden von einer Notunterkunft in die nächste transferiert. Das Erste, was sie brauchen, ist also Kontakt, Bezugspersonen. Der nächste wichtige Punkt ist natürlich die Schule. Die Jugendlichen wollen schnell weitermachen, in die Schule gehen, Deutsch lernen, Freunde finden. Die Mehrheit ist, wenn sie hier ankommt, ein Jahr unterwegs gewesen und hat ein Jahr lang keine Schule, keine Strukturen gehabt. Wir haben damals die Jugendlichen zum Beispiel an Sportvereine vermittelt. Sie möchten hier teilhaben, ein zumindest ansatzweise normales Leben führen.

Als ihr das Patenprogramm dann aufgebaut habt: wie war die Resonanz?

Am Anfang hat das wirklich sehr, sehr gut geklappt. Das hatte eine Vorlaufzeit von drei, vier Monaten. Da haben wir ausprobiert, uns überlegt, wie wir das machen wollen und wie es am besten läuft. Dann haben wir Finanzierung von der Partnerschaft für Demokratie in Charlottenburg bekommen, erst für ein halbes, letztlich für ein ganzes Jahr. Wir haben uns dann überlegt, wie wir das Projekt aufbauen, und im Wesentlichen funktioniert es folgendermaßen: Es gibt einmal im Monat einen Infotreff für Interessierte, also potenzielle Paten, die mehr über das Programm erfahren wollen. Dann einmal im Monat einen Patenstammtisch, also eine Veranstaltung nur für die Paten, auf der sie sich austauschen können. Und es gibt im Monat zwei Nachmittage, an denen Interessierte die Jugendlichen kennenlernen können. Das hat sehr gut funktioniert, wir hatten auch immer genug Paten. Seit dem vergangenen Sommer hat das Engagement allerdings stark abgenommen. Es wurde schwieriger und ist immer noch schwierig, Paten zu finden.

Woran liegt das?

Ich weiß es nicht genau. Das Thema ist raus aus den Medien, die Präsenz ist nicht mehr da – daran könnte es liegen. Viele haben sich im letzten Jahr sehr engagiert und viel gemacht, vielleicht sind die auch ein bisschen ausgebrannt, weil sie sich einfach zu viel aufgeladen haben. Viele denken jetzt wahrscheinlich auch: Da funktioniert alles, das große Chaos ist überstanden. Man sieht die Bilder wie vorm LaGeSo (Anm. d. Aut.: Landesamt für Gesundheit und Soziales) nicht mehr, und da denkt man schnell, dass jetzt alles ganz toll funktionieren würde. Der Bedarf ist aber immer noch da. Zu den Kennenlerntreffen kommen weiterhin Jugendliche, und manchmal einfach keine Paten. Das ist dann natürlich eine blöde Situation.

Was sind denn die Aufgaben eines Paten? Was sollte man mitbringen?

Man sollte zumindest volljährig sein, ansonsten ist es aber völlig egal, wie alt man ist. Man sollte Zeit mitbringen und sich bewusst sein, dass man eine verantwortungsvolle Aufgabe eingeht. Verlässlichkeit ist sehr wichtig. Man muss sich an Absprachen halten, und man kann man auch nicht einfach sagen, jetzt habe ich keine Lust mehr. Zumindest am Anfang sollte man sich einmal in der Woche treffen. Wie es dann weitergeht, liegt an den Paten selbst. Wir haben Paten, die treffen sich beinahe täglich mit den Jugendlichen, helfen bei Behördengängen und manchmal sogar beim Asylverfahren. Das Wichtigste ist aber, dass es eine gewisse Regelmäßigkeit gibt.

Einmal ganz allgemein gefragt: was funktioniert sonst gut am Programm, wo gibt es Probleme?

Der Patenstammtisch läuft zum Beispiel sehr gut. Es ist wirklich schön zu sehen, wie die Paten sich untereinander unterstützen. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher zum Sport muss, aber der Pate keine Zeit hat, wird herumtelefoniert, und dann findet sich einer, der das übernimmt.

Probleme – neben der Suche nach Paten – gibt es natürlich mit den Behörden. Da sind die Probleme da und wir als Paten können auch nur wenig machen, außer immer wieder Dinge an die Politik heranzutragen. Es funktioniert viel nicht so, wie es funktionieren sollte. Es gibt vor allem viele Ungleichheiten im System: Die syrischen Jugendlichen sind jetzt beispielsweise zum größten Teil durchs Clearingverfahren durch und auch untergebracht, aber viele afghanische Jugendliche sitzen beispielsweise immer noch in den Notunterkünften. Dahinter steckt auch die Hoffnung, dass sie irgendwann achtzehn werden und noch keinen Asylantrag gestellt haben – denn dann kann man sie zurückschicken. Damit umzugehen, ist sehr frustrierend.

Apropos Behördenfrust: wie funktioniert für euch als Initiative die Zusammenarbeit mit den Bezirks- und Landesbehörden?

Die Zusammenarbeit mit dem Bezirk funktioniert sehr gut. Anfangs gab es Schwierigkeiten mit der Schule, aber das hat sich erledigt: Charlottenburg hat 124 Willkommensklassen eingerichtet und ist damit einer der Bezirke mit den meisten Willkommensklassen. Es gibt kleinere Probleme mit dem Jugendamt, aber das hat auch damit zu tun, dass das Jugendamt selbst unterbesetzt ist – da müsste das Land noch viel regeln. Beispielsweise brauchen wir mehr stationäre Jugendeinrichtungen, und es gibt auch einige Gebäude im Bezirk, die relativ schnell entsprechend umgebaut werden könnten. Da müssen dann allerdings allerhand Vorgaben eingehalten werden, vieles zieht sich und findet letztlich doch nicht statt.

Ein weiteres Problem ist, dass viele der Jugendlichen immer noch keinen persönlichen Vormund, sondern nur einen Amtsvormund haben. Da ist es immer schwer, etwas für die Jugendlichen zu erreichen: Beispielsweise leiten die Amtsvormünder von selbst keine Asylverfahren ein, obwohl viele der Jugendlichen das bräuchten, um vor ihrem achtzehnten Geburtstag einen Asylantrag zu stellen. Probleme gibt es aber auch im wesentlich kleineren Maßstab, ein ganz konkretes Beispiel ist etwa folgendes: Wenn ein Jugendlicher einem Fußballverein beitreten möchte, braucht er einen Spielerpass. Den Spielerpass muss allerdings jemand unterschreiben: der Vormund. Bei Amtsvormündern weiß man allerdings oft nicht, wer oder wo sie sind, und da kann es dann schon zwei Monate dauern, bis man dann die Unterschrift für den Spielerpass hat, und bis dahin kann der Jugendliche dann nicht Fußball spielen. Allerdings gibt es auch dafür schon Projekte, eines nennt sich zum Beispiel ‚Vormundschaft light‘. Das funktioniert so, dass Freiwillige vom Amtsvormund eine Vollmacht ausgestellt bekommen, mit denen sie die Jugendlichen dann zum Beispiel während des Asylverfahrens begleiten und das Verfahren auch selbst einleiten können.

Und was passiert, wenn die Jugendlichen volljährig werden?

Das war noch so ein Problem am Anfang: Niemand wusste, was dann passiert. Es gab ja eine Zeit lang auch Altersschätzungen, da wurde dann sogar das Alter von Jugendlichen geschätzt, die einen Pass hatten.

Das haben wir überstanden, und dann kam es, dass die Ersten achtzehn wurden, und die wurden dann über das ganz normale Easy-Verfahren überall in Deutschland verteilt. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Jugendlicher, ein Kind, kommt hierher, baut vielleicht ein paar soziale Kontakte auf – und wird dann mit achtzehn nach Heidelberg in eine Gemeinschaftsunterkunft verfrachtet. Da haben wir viel mit der Senatsverwaltung für Bildung und Jugend diskutiert, und es hat sich immer noch nicht viel geändert. Es gibt zwar die erweiterte Jugendhilfe – das bedeutet, dass der Schutz bis zum 21. Geburtstag ausgeweitet wird – aber die wird nur sehr selten gewährt. Das hat wahrscheinlich auch finanzielle Gründe, die Jugendämter müssen schließlich auch mit ihren Budgets zurechtkommen. In Berlin ist überall gespart und gespart worden, und jetzt steht man vor den Problemen.

Da wir jetzt über einige Probleme gesprochen haben: Stellen wir uns vor, jemand liest von diesen Problemen und möchte helfen, weiß aber nicht, wie. Wo fängt man an?

Man nimmt Kontakt mit einer der Initiativen auf, es gibt schließlich einige. Das ist ganz einfach. Wenn zum Beispiel jemand mit uns Kontakt aufnimmt, dann führen wir ein Gespräch, erklären, was es so zu tun gibt. Wir bieten beispielsweise Hausaufgabenbetreuung an, Kinderbetreuung, es werden Lesepaten gesucht, dann gibt es natürlich noch das Patenprojekt. Es gibt so viel zu tun.

Und wie geht es mit dem Patenprogramm weiter?

Die Finanzierung ist ausgelaufen. Im Moment machen wir alles ehrenamtlich – auch ich als Leiter des Stadtteilzentrums mache das ehrenamtlich in meiner Freizeit. Das können wir nicht mehr tragen. Wenn wir keine weiteren finanziellen Mittel bekommen, nicht zumindest eine Honorarkraft zur Koordination einstellen, werden wir das Projekt in diesem Umfang nicht fortführen können. Wahrscheinlich werden wir es einstampfen und versuchen, es in geringerem Umfang neu aufzuziehen, vielleicht, indem wir uns einmal im Monat bei einer anderen Veranstaltung mit aufstellen. Gerade jetzt im Moment, wo es sowieso weniger Ehrenamtliche gibt, geht es ansonsten nicht weiter.

Gibt es noch etwas, das du zum Abschluss mitteilen möchtest?

Dass das Programm trotz allem sehr viel Spaß macht. Es ist für beide Seiten eine große Bereicherung: für die Jugendlichen, aber auch für die Paten. Man lernt eine neue Kultur kennen, man kann Wissen vermitteln – die Jugendlichen sind alle sehr offen. Man muss keine Angst haben oder davor zurückschrecken, sich darauf einzulassen: Wenn man mit einem offenen Geist herangeht, ist das etwas ganz Tolles.

Für das Projekt werden weiterhin Freiwillige gesucht. Nähere Informationen unter http://www.charlottenburg-hilft.de/patenschaftsprojekt.


Helena Keuper studiert im fünften Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin.