Kulinarisch spannend, rechtlich fragwürdig: Die Thaiwiese zwischen Kult und Kommerz

Kulinarisch spannend, rechtlich fragwürdig: Die Thaiwiese zwischen Kult und Kommerz

Den Wilmersdorfer Preußenpark kennt außer seinen Anwohnern kaum jemand, doch als „Thaiwiese“ erfreut er sich großer Beliebtheit über die Grenzen des Bezirks hinaus. Von April bis Oktober wird hier authentisch thailändisches Essen verkauft – ein Stück Bangkok im Herzen Berlins. Aber: eigentlich dürfte überhaupt nichts verkauft werden. Eine Reportage über ein Kuriosum.

Von Fenja Meyer, Shalin Baier und Helena Keuper

Ich wurde vom Thaipark überrascht. Ohne Vorwarnung wurde ich vom gutbürgerlichen Wilmersdorf mitten in das bunte Treiben eines Straßenmarktes in Bangkok katapultiert. Ich wohne in der Nähe des Preußenparks und hatte vorher noch nie von der Thaiwiese gehört. Durch Zufall bin ich an einem Samstag im Sommer am Park vorbeigeradelt und habe mich über die vielen Sonnenschirme und Menschen gewundert.

Aus Neugier schaue ich mir das Treiben näher an. Ich finde mich wieder zwischen schier endlosen Reihen von auf dem Boden sitzenden asiatischen Frauen, die alle eifrig ihre Köstlichkeiten zubereiten. Viele exotische Zutaten, große Holzmörser, Gasbrenner mit heißem Frittierfett – alles um sie herum in greifbarer Nähe aufgebaut. Ich lasse mich treiben, in der Nase Gerüche aus fernen Ländern und die Augen fasziniert von dem Spektakel im sonst so bürgerlichen Wilmersdorf. Deutschland scheint auf einmal ganz weit weg.

„Wollen wir uns etwas zu essen holen?“ – die Frage meiner Begleitung holt mich zurück aus meiner Trance. Natürlich wollen wir. Nur die Entscheidung ist bei der großen Auswahl gar nicht so leicht. Alles sieht für mich interessant und lecker aus. Letztendlich entscheiden wir uns für einen grünen Papayasalat und verschiedene frittierte Köstlichkeiten aus Gemüse, Fleisch und Fisch. Für beides zahlen wir jeweils etwa 4 €. Das Essen ist wirklich außergewöhnlich lecker. Zurecht wird gesagt, dass man hier authentisch thailändisches Essen bekommt.

Die Wiese des Preußenparks ist voll von Menschen, die auf bunten Decken ein riesengroßes Picknick mit asiatischen Essen, brasilianischen Caipirinhas und kaltem Bier veranstalten. Die Anwesenden sind bunt gemischt, auffällig viele Hipster und Touristen, die man in Wilmersdorf sonst seltener antrifft. Es sieht eher so aus, als wäre man in Friedrichshain oder Kreuzberg. Anscheinend ist die Thaiwiese auch außerhalb des Bezirks sehr bekannt und beliebt.

Die meisten Essensverkäufer sind Frauen aus Thailand, außerdem sieht man vereinzelt Brasilianer, die Caipirinhas verkaufen. Neben dem Essen kann man sich eine professionelle thailändische Massage gönnen oder spirituellen Rat bei einem buddhistischen Mönch einholen.

Wie kann sein, was nicht sein darf?

So sehr wir diesen Kurztrip nach Thailand genießen, tauchen doch die ersten Fragen in unseren Köpfen auf. Wie ist so etwas im sonst so gradlinigen Deutschland möglich? Ein Markt, auf dem Essen verkauft wird, ohne Kontrollen, Hygienevorschriften und Steuereinnahmen? Wir beginnen zu recherchieren und nehmen Kontakt zu Politikern und Juristen auf, um mehr zu erfahren. Professor Helmut Phillip Aust, der an der Freien Universität Berlin öffentliches Recht lehrt, steht uns Rede und Antwort. Er zieht interessante Vergleiche.

Eine unserer Fragen ist, ob es ökonomische Auswirkungen hat, wenn das Thairestaurant Gewerbeabgaben und Steuern zahlt, aber man stattdessen auch einfach auf den Wiesen verkaufen kann. Professor Aust vergleicht es mit airbnb: Hotels sind den deutschen Gesetzen und Abgaberegelungen unterworfen, während der private Anbieter durch die Umgehung dieser Regelungen Profit machen kann. Hier hat die Stadt Konsequenzen gezogen und den Betrieb nicht angemeldeter Ferienwohnungen verboten. Wäre dann nicht auch ein Verbot des Essensverkaufs auf der Thaiwiese ein Zeichen stringenten Handelns?

Ein solches Verbot ist nicht das Ziel des CDU-Politikers Stefan Evers, der für Charlottenburg-Wilmersdorf im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Dennoch sei die Thaiwiese so, wie sie im Moment ist, problematisch: „Einerseits gibt es im Preußenpark eine sogenannte Parkordnung, die vor Jahren in einer vorbildlichen partizipativen Art und Weise unter Einbeziehung der Anwohner festgelegt wurde.“, erklärt er. Eine Nutzung des Parks wie etwa für die Thaiwiese ist damit eigentlich seit Jahren ausgeschlossen – doch wer im Sommer am Preußenpark unterwegs ist, kann sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass die Thaiwiese nicht nur immer noch stattfindet, sondern weiter wächst. Dass hiermit die Parkordnung – und damit der Wille der Anwohner – übergangen werde, ist für Evers ein entscheidendes Problem: „Der Wert von Bürgerbeteiligung muss sich auch daran messen lassen, dass das Ergebnis Verbindlichkeit entfaltet.“

Absprachen und Mittelsmänner

Im Rahmen der Thaiwiese finden seit einigen Jahren Absprachen mit den Verkäufern und Verkäuferinnen statt, etwa kümmern sie sich um die Müllentsorgung und halten den Park sauber. Auf diese Weise, erklärt Evers, findet eine Art Legitimierung statt, die es nicht geben dürfte – da es Ansprechpartner gibt, die es nicht geben dürfte. Dass diese Absprachen für den Park und seine Anwohner jedoch auch Vorteile haben, ist offensichtlich. Die Verkäufer und Verkäuferinnen sorgen nicht nur für Sauberkeit, sondern auch für ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle.

Gerald Mattern, Mitglied der BVV (Bezirksverordnetenversammlung) Charlottenburg-Wilmersdorf, holt weiter aus. Nicht nur die Thailänder nutzen den Park: „Wir haben das Drogenproblem, das überhaupt nicht in die Thai-Community reinstrahlt, sondern eindeutig arabisch geprägt ist. Wir haben das Trinkerproblem, das rein deutsch geprägt ist. Alle drei Gruppen verkehren im Park.“

Und die Thailänder, erklärt Mattern weiter, kümmern sich um die Einhaltung gewisser Regeln. Er schildert eine Szene, die er selbst im Preußenpark beobachtet hat: „Wenn die da Feierabend machen, wirklich alles sauber in Tüten verpacken, fährt einer mit einem Wägelchen rum, sammelt alles ein, die Wiese sieht hinterher aus wie geleckt. Was ich allerdings auch gesehen habe, ist, dass dann andere Gruppen kamen, die mit diesen Tüten Fußball gespielt haben, den Dreck wieder verteilt haben auf der Wiese. Halbe Stunde später kam der Thai und hat die Tüten wieder gepackt.“

Über eine offizielle Regulierung der Thaiwiese müsse jedoch zunächst einmal verhandelt werden – möglichst mithilfe der thailändischen Botschaft. Auch einen eventuellen Ortswechsel schließt Evers nicht aus. Ein weiteres Problem sieht er in den nicht angemeldeten Gewerbetätigkeiten: Für den Essensverkauf gebe es weder Gewerbeanmeldungen, noch Gewerbeerlaubnisse. Abgesehen davon, dass so der Bezirk keinerlei Wertschöpfung aus dem Essensverkauf ziehen könne, präsentiere sich in Konsequenz ein weiteres Problem: In Deutschland gibt es strenge Vorschriften zur Lebensmittelhygiene, die sogar noch über dem EU-Standard liegen. Wo es aber kein Gewerbe gibt, führt Evers aus, könne auch die Einhaltung dieser Vorschriften nicht überprüft werden.

Lebensmittelhygiene: Gesetze und gesunder Menschenverstand

Was wäre also, wenn ich die leckeren Speisen genieße und mir dabei eine Lebensmittelvergiftung zuziehe? Kann ich sogar so weit gehen und den Bezirk verklagen, der hinsichtlich der geltenden Hygiene- und Gesundheitsvorschriften beide Augen zudrückt? Professor Aust betrachtet dies nicht als ausgeschlossen, aber auch nicht als erstrebenswert: Es sei Berlin-typisch, möglichst größe Freiheit von Regulierung haben zu wollen und sich zugleich aufzuregen, wenn doch etwas passiert. Erfolgsversprechender sei es, zivilrechtlich gegen den konkreten Essensverkäufer vorgehen zu können, sofern eine Anschrift bekannt ist. Im Endeffekt appelliert Aust an individuelle Verantwortung und den gesunden Menschenverstand: Jemand, der bei 30 Grad im Schatten auf einer Wiese zubereitete Speisen verzehrt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass die Zubereitungsbedingungen nicht denen eines Restaurants entsprechen. Zwar sollte der Staat ein bestimmtes Interesse an der Regulierung des Angebotes haben, immer und überall kann er jedoch auch nicht prüfen und einschreiten. „Wenn im Kindergarten meiner Kinder ein Sommerfest stattfindet und alle Eltern Speisen mitbringen, muss die Bezirksverwaltung dann einschreiten und Regulierungen für die Speisen treffen? Viel eher muss jeder für sich entscheiden, was er zu sich nimmt.“

Die Frage nach den hygienischen Bedingungen scheint jedoch über die Grenzen des Preußenparks hinauszureichen. Mattern erklärt, dass diejenigen, die im Preußenpark Gerichte zum Verkauf anbieten, bisweilen als Zwischenhändler aufträten: Es würden nicht mehr nur Gerichte auf der Wiese verkauft, sondern im größeren Stil vorbereitet und dann an die örtliche Gastronomie weiterveräußert. Er äußert seine Sorge plastisch: „Wenn ich mir vorstelle, dass ich damit rechnen muss, dass ich selbst in einem arrivierten Lokal, im Zweifelsfall irgendwo im Bereich der Kantstraße, die gleichen Spieße treffe, die vorher schon vier Stunden in der Sonne geschmort sind…“

Für das Familiäre, gegen die Kommerzialisierung: eine Zukunftsvision

Wie, stellt sich da die Frage, sieht dann eine Idealvorstellung der Thaiwiese aus Sicht der Politik aus? Abschaffen will sie niemand. Evers‘ Hauptproblem ist die ungleiche Behandlung der verschiedenen Gastronomen: Jeder andere müsse Regeln einhalten, Abgaben zahlen und sich Kontrollen stellen – nur nicht die Verkäufer und Verkäuferinnen im Preußenpark. Wenn man es dem einen erlaube, erklärt er, müsse es auch dem anderen gestattet sein. Jeder Gastronom, erklärt er, könnte seine Produkte deutlich günstiger anbieten, müsste er sich nicht um bestimmte Vorschriften kümmern.

Angesprochen auf seine Vorstellung davon, wie die Thaiwiese einmal aussehen soll, erklärt Evers zunächst, dass Geld fließen müsse – und dass vor allem Parks und andere Grünflächen in Berlin chronisch unterfinanziert seien. Mit einer neuen Parkordnung allein sei es daher nicht getan: Es müsse Geld in die Hand genommen und der Park grundsätzlich umstrukturiert werden, auch eine Verlegung von Wasser- und Stromleitungen sei eine Möglichkeit. Einen Idealzustand werde man damit zwar nie erreichen, aber den erreiche auch kein Floh- oder Wochenmarkt. Dass sich das Phänomen nicht regulieren lasse, weil der Versuch, es zu regulieren, es beenden würde, will Evers nicht gelten lassen.

Ein weiterer Aspekt, den auch Evers anspricht, ist die Tatsache, dass die Thaiwiese, wie sie heute massenhaft Besucher anzieht, nicht von einem Tag auf den anderen entstanden ist: ursprünglich sei es vor allem darum gegangen, einen Treffpunkt für eine sehr gut vernetzte thailändische Community zu haben. Der Essensverkauf in seinen heutigen Dimensionen kam erst später und allmählich hinzu. Durch diese „Überkommerzialisierung“, wie Evers es beschreibt, sei auch ein Teil des Charmes der Thaiwiese verloren gegangen: das familiäre Beisammensein rücke den Verkaufsaktivitäten gegenüber stark in den Hintergrund. Deswegen, erklärt er, könne es der Thaiwiese auch durchaus zuträglich sein, wieder ein wenig zu schrumpfen: „Wenn man das ein bisschen ordnet und der eine oder andere wegfällt, muss es nicht einmal schädlich sein, weil ich dann auch wieder Flächen frei habe, wo der Rest dieses familiären bunten Treibens, das eigentlich viel mehr die Atmosphäre bestimmt, stattfinden kann. Das sollte schon der Anspruch sein.“

Die Thaiwiese ist auch Lebensgrundlage

Zurück im Preußenpark. Ich komme mit einem Verkäufer ins Gespräch, der seit fünf Jahren hier arbeitet und jedes Jahr aufs Neue bangt, ob die Thaiwiese weiterhin toleriert wird. Natürlich sei hier allen bewusst, dass sie sich mit dem Verkauf von Lebensmitteln im Park im illegalen Bereich bewegen, erklärt er, jedoch sei es auch die Lebensgrundlage für viele von ihnen. Von Anfang April bis Mitte Oktober verkaufen sie hier jedes Wochenende, wenn das Wetter einigermaßen mitspiele. Auch in der Woche seien Viele hier. Die Wintermonate verbrächten sie dann häufig in Thailand bei ihren Familien. Der Verkäufer erzählt mir, dass gelegentlich auch das Ordnungsamt vorbeikomme, im letzten Jahr seien etwa öfter großangelegte Razzien durchgeführt worden. Primär werde dabei jedoch bemängelt, dass die vielen Klappstühle und Sonnenschirme der Verkäufer die Wiese zerstören. Wenn jemand mitbekomme, dass eine Kontrolle kommt, würden lediglich die Sonnenschirme verpackt und dann komme es meist zu keinen Problemen.

Zudem kontrolliere das Ordnungsamt die Papiere der Verkäufer. Sie wollten sichergehen, dass sich niemand unter ihnen illegal in Deutschland aufhält. Ein wenig werde wohl auch auf die Hygiene geachtet, besonders bei rohem und ungekühltem Fisch oder Hähnchen verstehen die Ordnungshüter keinen Spaß. Es habe in der Vergangenheit Beschwerden über das Essen gegeben und es seien auch schon Strafen verhängt worden. Der Verkäufer erklärt jedoch, dass niemand dazu gezwungen werde, hier zu essen: Es habe vielmehr mit Eigenverantwortung und gesunden Menschenverstand zu tun. Auch, sagt er, könnte so ein Park nirgendwo sonst in Deutschland bestehen. Berlin sei die einzige deutsche Stadt, in der so etwas toleriert würde – und auch hier wirklich nur die Thaiwiese.

Ich kehre mit ein paar Snacks zur Decke zurück und genieße weiter die außergewöhnliche Atmosphäre und das gute Essen. Wer weiß, wie lang es die Thaiwiese in dieser Form noch geben wird.

Titelbild: © Natasza Lichocka / natstation.com


Fenja Meyer studiert im fünften Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Portugiesisch an der Freien Universität Berlin.


Shalin Baier studiert im dritten Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin.


Helena Keuper studiert im fünften Semester Publizistik- und  Kommunikationswissenschaft und Englische Philologie an der Freien Universität Berlin.