„Demokratie muss von unten wachsen.“

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„Demokratie muss von unten wachsen.“

Thilo Urchs, Fraktionsvorsitzender der Linken in der Bürgerverordenetenversammlung von Berlin-Mitte und Mitglied im Ausschuss für Transparenz und Bürgerbeteiligung, äußert sich zum Bündnis „Wahlrecht für Alle“, Politikdesinteresse und dem Grundsatz demokratischer Strukturen.

Herr Urchs, ist Ihnen das Bündnis „Wahlrecht für Alle“ bekannt?

Thilo Urchs: Ich kenne die Forderungen, dass alle in Berlin lebenden Menschen die Möglichkeit haben, an der Wahl teilzunehmen.

Ja, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Wie stehen Sie dazu?

Positiv, positiv. Alles, was irgendwie Richtung Ausbau und Mitwirkung demokratischer Art geht, unterstütze ich.

In Kapitel 7 Ihres Wahlprogrammes steht, dass Sie das Kommunalwahlrecht auch für Nicht-EU-Bürger einführen wollen. Soll auch das Wahlrecht für EU-Mitglieder über Kommunalgrenzen hinweg ausgeweitet werden?

Naja, so ein Wahlprogramm ist sozusagen eine Aufgabenstellung für die nächste Wahlperiode, für fünf Jahre. Da muss man natürlich sehen, wie weit man dabei Verbündete findet und wie das in den anderen Parteien aussieht und wo dort Schnittmengen sind. Es wäre natürlich erst mal ein Schritt in die richtige Richtung, und ansonsten sind wir natürlich dafür, dass dann auch für EU-Bürger das Wahlrecht auf Landesebene gültig und angestrebt wird.

Und für Bürger aus Drittstaaten?

Finde ich genauso. Also auch da muss man sich natürlich überlegen unter welchen Bedingungen, aber prinzipiell natürlich.

Welche Bedingungen müssten konkret erfüllt werden?

Es müsste der Lebensmittelpunkt hier sein, also nicht irgendwie eine Zweitwohnung und den Lebensmittelpunkt woanders. Ich denke auch der Mensch müsste hier gemeldet sein, hier drei Monate wohnen und dann sollte man darüber nachdenken, wie er in das Melderegister reinkommt und dann auch an der Wahl teilnehmen kann.

Gravierende Auswirkungen auf Herrschaft

Also drei Monate würden reichen an Aufenthalt?

Ich würde mich jetzt auch auf eine Diskussion einlassen, wenn Sie mir schlüssig begründen können warum es sechs Monate oder auch zwölf Monate sein sollten. Aber ich denke mal, wenn jemand sagt, er habe hier seinen Lebensmittelpunkt, dann sollte er auch die Möglichkeit haben, sich hier an den demokratischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen.

Sollte auch die Staatsbürgerschaft angenommen werden?

Ist für mich jetzt nicht das Thema. Wer das gerne annehmen möchte, kann das von mir aus, aber auch da gibt es unterschiedliche Gründe, warum das einigen Leuten erschwert wird und ich denke, davon sollte es nicht abhängig gemacht werden.

Welche Auswirkungen würde das „Wahlrecht für Alle“ haben?

Das hätte gravierende Auswirkungen. Aber ich glaube eine parlamentarische Demokratie funktioniert so, wie sie funktioniert und da schaut man auch bewusst oder unbewusst immer, wie wirkt sich das eigentlich auf die Herrschaft aus. Und wenn man nun völlig neue Wählergruppen mit in den Bereich des Gesichtsfeldes kommen, hätten die auch eine wesentlich höhere Möglichkeit, die eigenen Interessen ins Parlament zu tragen, Ansprechpartner in den entsprechenden Parteien zu finden und verstärkt ihre Positionen zu thematisieren.

Das klingt erstmal sehr positiv, könnte sich das auch ins Negative umschlagen?

Naja, wir leben in einer Demokratie. Und wenn sich dadurch bestimmte Mehrheitsverhältnisse und Mehrheitsverhältnisse für bestimmte Positionen verändern, muss die Politik darüber nachdenken, was sie macht. Aber ich würde deswegen nicht das demokratische Prinzip in Frage stellen.

Soll das Wahlrecht auch für Asylbewerber umgesetzt werden?

Das kommt auf den Status an. Wenn sie die Aufenthaltsgenehmigung haben, selbstverständlich. Wenn sie den Aufenthaltsstatus haben und dann auch Perspektiven, sollten sie natürlich auch die Möglichkeit haben, hier mitzuwählen. Das wäre vermutlich auch eine Möglichkeit, wie die Politik sich wesentlich engagierter um deren Belange kümmern könnte.

Genügend Deutsche wissen nicht, was sie da abstimmen

Ich habe mich mit einem Geflüchteten aus Syrien unterhalten, der zur Wahlrechtdebatte anmerkte „Wir kennen Demokratie nicht.“ Sollte es sowas wie Demokratietraining geben?

So wie es auch für die Deutschen ist. Die kriegen das in der Schule mit und lernen, wie Demokratie funktioniert und wie die Beteiligungsmöglichkeiten sind. Und so sollte das auch für alle anderen sein, die herkommen. Ich halte es schon für normal, wenn man an einer Wahl teilnimmt, dass man dann auch eine gewisse Vorstellung davon hat, wie alles funktioniert.

Das würde ich allerdings zu dem dazu zählen, was sie sowieso unterrichtet bekommen, wie das öffentliche Leben geregelt ist und was man kann und was man eher nicht kann. Das gehört dazu und ist nicht explizit ein „Die müssen jetzt alle erstmal einen Grundkurs machen und wenn sie den bestanden haben, kriegen sie das Wahlrecht.“ Darüber würde ich mich nicht verstanden wissen.

Es gibt auch genügend Deutsche, die ziemlich neben der Spur sind und nicht allzu viel wissen darüber, was da eigentlich kommunal oder demokratisch passiert auf den einzelnen Ebenen und auch nicht so richtig wissen, was sie da eigentlich abstimmen.

Im Wahlprogramm steht außerdem, dass Sie das Wahlalter auf 16 Jahren herunterstufen wollen.

Zurzeit ist ja eher das Problem, dass bei den Jüngeren ein gewisses Politikdesinteresse vorherrscht, das man natürlich dadurch ein bisschen beheben könnte, dass man sagt „Was passiert da eigentlich, was habt ihr für Beteiligungsmöglichkeiten, mischt euch ein. Ist euer Land, eure Kommune. Und wenn ihr es nicht macht, dann machen es die Anderen, dann braucht ihr euch nicht zu beschweren.“

Das hat man jetzt gerade beim Brexit gesehen, so, ist ja schön, dass die Jugend so hoch für den Verbleib in der EU gestimmt hat, das ist super, aber, wenn man genau hinguckt, sieht man, dass die Wahlbeteiligung dort auch wesentlich geringer war als bei den Älteren. Da braucht man sich nicht zu beschweren. Man muss sich einmischen. Man muss wissen, worüber man eigentlich redet und was man machen kann. Und dann halte ich das auch für einen guten Vorschlag.

Sehen Sie das auch für Menschen mit Behinderung?

Ja. Natürlich muss man da andere Formen wählen, da hat man dann Wahlprogramme in einfacher Sprache, dass sie auch ins Klare gesetzt werden worum es eigentlich geht. Es hat ja keinen Sinn, dort einen Politikersprech, bei dem man schon als Normalbürger nur nach dreimaligem Durchlesen versteht was da gemeint sein könnte, jemandem vorzulegen, der zum Verstehen möglicherweise nicht in der Lage ist. Aber wenn man dem erläutert was dahintersteht, und auch in einer Form erläutert, dass der das nachvollziehen kann, selbstverständlich.

Demokratie muss von unten wachsen

Was wünschen Sie sich für diese Landtagswahl?

Erstmal natürlich eine hohe Wahlbeteiligung. Und dann wünsche ich mir hohe Unterstützungsrate für die Positionen, die wir vertreten.

Wie kann man eine höhere Wahlbeteiligung erzielen?

Durch Verstärkung der Kompetenzen. Wir haben ja jetzt praktisch zwei Wahlen parallel und das halte ich für einen glücklichen Zustand. Ich würde nicht über die Wahlbeteiligung spekulieren, wenn die Kommunalwahlen einzeln sattfinden würden und nicht parallel zur Landtagswahl. Die wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit erschreckend. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Kompetenzen sehr übersichtlich sind. Und da sind natürlich die Handlungsmöglichkeiten gering. Und wenn ich die Tendenzen sehe, geht die Entwicklung eher dahin, dass die Handlungsspielräume und Kompetenzen von der Kommune weg zur Landesebene verlagert werden. Und das halte ich nicht für gut. Ich bin eher dafür, dass man die Entscheidungsbefugnisse soweit es geht nach unten verschichtet werden. Das wäre aus meiner Sicht der Schlüssel für ein Interesse der Leute und für eine erhöhte Wahlbeteiligung.

Also halten Sie das Kommunalwahlrecht generell für wichtiger.

Naja, ich denke, Demokratie muss von unten wachsen und da setze ich die sozusagen Entscheidungsbefugnisse möglichst tief unten an.

Es gibt ja derzeit gerade von der CDU sehr viel Gegenwind gegen das „Wahlrecht für Alle“, können Sie sich vorstellen, was deren Argumente sind?

Man hat das ja ein bisschen nachvollziehen können in der Diskussion über den Brexit. Dass man sagt, Volksentscheide seien relativ schwer kalkulierbar, da kämen dann so wilde Entscheidungen zustande, die keiner will. Das mag sein, es ist aber nun aus meiner Sicht der falsche Weg, zu versuchen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Wähler einzuschränken und zu behindern. Es müsste mehr mit den Wählern geredet werden. Ansonsten wird das meiner Meinung nach irgendwann dazu führen, dass viele Leute sagen: „Ja macht mal euer Ding, was haben wir eigentlich damit zu tun.“

Wenn die Leute davon überzeugt sind, dass sie mit den verschiedenen Wahlprogrammen keine Möglichkeit haben, ihr Leben zu bestimmen oder zu verändern, dann gehen sie nicht mehr zur Wahl. Das ist natürlich der fatalste Punkt, der erreicht werden könnte.

Das hat etwas sehr bevormundendes.

Das ist so eine gewisse Angst, dass die Leute irgendwas Irrationales machen. Die andere Form ist arbeitsintensiver und da sind ganz viele Sachen, die mit dran hängen. Da hängt die Frage mit dran, was Parteien sind. Sind Parteien nur noch irgendwelche kleinen Strukturen, die in den Parlamenten agieren und ein gewisses kleines Umfeld haben, oder sind das wirklich noch Strukturen, in denen sich die Gesellschaft wiederspiegelt. Und wenn sie das eben im zweiten Falle nicht mehr sind, wird es gefährlich, weil dann die Gefahr besteht, dass sozusagen eine Parallelwelt entsteht. Die Einen sind die normalen Bürger, die aber zunehmend die Verbindung zu diesen Entscheidungsträgern und den Formen verlieren, die letztendlich die Gesetze machen und die Entscheidungen treffen.

Wenn Parteien die Gesellschaft nicht spiegel, bilden sie Parallelwelt

Würden Sie sagen, dass wir auf diesen Punkt schon zusteuern? Ich habe heute erst gelesen, dass nicht nur die Wahlbeteiligung, sondern auch die Parteienmitgliedschaften immer weiter zurückgehen.

Zumindest in der Tendenz. Jetzt kann man fragen, ob die Parteien noch die geeigneten Strukturen sind. Gerade junge Leute binden sich sehr punktuell, man arrangiert sich so zwei, drei Jahre, ist ja auch völlig legitim, habe ich gar nichts dagegen, aber auch dort müsste man fragen, wie kriege ich diese Leute in die parlamentarischen Strukturen rein, dass die dort noch mitspielen. Sonst würde es dazu kommen, dass die handelnden Akteure das Gefühl für die Mehrheitsverhältnisse verlieren.

Ein Beispiel ist Olympia, das war eine sehr typische Sache. Da wurde eine Umfrage des Senats gestartet, da konnte man mitmachen und 125 Fragen beantworten zu „Olympia stärker vernetzt“ und „nachhaltige olympische Spiele“ und so weiter, aber es gab nirgendwo einen Punkt, wo man sagen konnte „Ich bin gegen Olympia.“. Und das hat nichts mehr mit Demokratie zu tun. So kann man das machen und sagen, aber das läuft dann an der eigentlichen Meinung vorbei.

Wäre die Form der direkten Demokratie erstrebenswert?

Ja vielleicht nicht in allen Punkten, ist ja auch ziemlich teuer. Und direkte Demokratie funktioniert auch nur, wenn man den Brexit als Beispiel nimmt, wenn man das Geld, die Zeit und die Kraft in die Hand nimmt, um die Leute darüber in die Kenntnis zu versetzen, worüber sie eigentlich abstimmen. Ansonsten schlägt ziemlich schnell die Stunde der Populisten, die dann klare Ansagen machen, ob sie nun stimmen oder nicht. Aber ich denke trotzdem, dass die Elemente der direkten Demokratie ausgebaut werden sollten.

Titelbild: ‚Wahlbeteiligung‘ von Anna Lena Schiller / CC BY-NC-ND 2.0


Vivien Duntze ist 21 Jahre und studiert an der Freien Universität Berlin Kommunikationswissenschaften, Lateinamerikastudien und Geschichte und Kultur des Vorderen Orients.