Ein Lächeln als letzte Hoffnung

Ein Lächeln als letzte Hoffnung

Über einhundert Fälle rassistischer Gewalt hat der Verein Reach Out zwischen Januar 2012 und Februar 2013 in Berlin registriert. Die Dunkelziffer liegt aber womöglich vier mal so hoch. Reach Out kümmert sich seit Jahren um die Opfer dieser Vorfälle und hätte es doch am liebsten, wenn niemand auf die Hilfe der Organisation angewiesen wäre.

Von Alla Gavrilova

Die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße ist ein riesiges, prachtvolles Gebäude, in dem Ausstellungen zur jüdischen Geschichte stattfinden. Für Touristen ist sie eine wichtige Sehenswürdigkeit. Aber nicht nur die lange Schlange macht es ihnen schwer, hineinzugehen: Zwei Polizisten in Uniform achten darauf, dass alle Besucher der Synagoge durchsucht werden.

2013-06-07 13.22.43

Maria Portugal* im Büro von Reach Out. (Foto: A. Gavrilova)

Das wirkt merkwürdig auf einfache Menschen, aber nicht auf Opfer von Antisemitismus. In einem multikulturellen Land wie Deutschland wohnen Deutsche, Türken, Israelis, Araber, Russen, Chinesen und noch viele andere Vertreter von verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen. Es scheint, dass es kein Platz für Rassismus hier gibt, aber die Nachrichten darüber bleiben in den Medien sehr aktuell.

Es wird viel diskutiert, wie man solche Situationen verhindern kann, aber dabei vergisst man meistens, wie sich die Opfer fühlen: Jemand, der beleidigt wurde, der Angst hat, abends im Dunkeln mit der U-Bahn nach Hause zu fahren, der nicht nur physisch, sondern auch psychisch verletzt wurde.

Kampf für Menschenrechte

Sonnenlicht. Kreuzberg. Eine unauffällige Tür, die zu einem riesigen Gebäude gehört. Die Treppe im Innern führt in den zweiten Stock. Eine freundliche Frau öffnete dort dem Besucher die Tür. Für jemanden, der das wirklich braucht, ist das Lächeln dieser Frau die letzte Hoffnung. Die Organisation Reach Out hilft Opfern von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Der Besucher kommt in einen Raum, in dem man sich sofort wohl fühlt. Vielleicht wegen des Kaffeegeruchs oder der Arbeitsatmosphäre: mit Tischen voller Papiere und Plakaten an den Wänden sieht das Zimmer noch gemütlicher aus.

Maria Portugal*, Beraterin der Organisation, erzählt von dem Projekt, das 2001 gegründet wurde: Es gibt sechs feste Mitarbeiter und mindestens zwei PraktikantInnen. Das Thema ist Unterstützung, Beratung und Bildungsarbeit gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus. Die Organisation wird im Rahmen des Berliner Programms gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus finanziert. Sie ist die erste Kontaktstelle in Berlin für Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt.

Rechtzeitige Hilfe

Die Mitarbeiter von Reach Out wollen zeigen, dass sie solidarisch mit den Opfern sind. Die Situation in Berlin können sie relativ gut einschätzen, da sie jährlich eine Statistik herausgeben. Demnach gab es von Januar 2012 bis Februar 2013 122 Fälle von rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin. Aber sie gehen von einer großen Dunkelziffer aus.
Maria Portugal erzählt, welche Arten von Hilfe Reach Out anbietet: „Dazu gehört psychosoziale Beratung: Es ist wichtig den Menschen und seine Opfersituation wahrzunehmen. Es ist wichtig zu erkennen, ob die Menschen nach einem Übergriff unter einem Trauma oder einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden“. Außerdem unterstützt Reach Out die Leute beim Gerichtsprozess, begleitet sie zu Behörden, vermittelt Ärzte und erstattet Anzeigen bei der Polizei.

Dem Problem ein Gesicht geben

Maria Portugal erklärt, dass sie viel Öffentlichkeit möchte, um die Bevölkerung über solche Vorfälle zu informieren. Und auch, damit das Rassismus-Problem ein Gesicht bekommt. Darum steht sie immer in Kontakt mit der Presse. Außerdem veröffentlicht die Organisation eine Chronik, die ständig aktualisiert wird. Die Internetseite veröffentlicht Vorfälle, wie jemand beleidigt wurde, ob er verletzt oder nicht verletzt wurde, wem, wo, was passierte. Aber die Klienten möchten zum großen Teil anonym bleiben, wenn es um Presse geht. „Wir haben für das Jahr 2013 sechs Vorfälle mit antisemitischem Hintergrund registriert, aber man darf nicht vergessen, dass nur jeder vierte Fall bekannt wird“, sagt Portugal.

Reach out arbeitet nicht speziell mit Behörden oder bestimmten Institutionen zusammen. Aber die MitarbeiterInnen werden oft über andere Beratungsstellen kontaktiert. „Einer dieser Kooperationspartner erfährt etwas von einem Vorfall und dann empfehlen sie uns weiter, und die Menschen melden sich, sodass wir weiterhelfen können“.

Als das Gespräch zu Ende kommt, erzählt Maria Portugal von ihrem Traum: „Mein Hauptwunsch ist, dass unsere Arbeit nicht mehr notwendig ist, dass diese Probleme nicht mehr existieren. Doch die Zahlen zeigen, dass das Problem nicht gelöst ist. Gut wäre, wenn andere Bundesländer weitere Projekte wie das unsrige finanzieren würden, weil es nicht nur ein Berliner Problem ist“.

* Möchte anonym bleiben. Name von der Redaktion geändert.


P1030407Alla Gavrilova kommt aus Petropawlowsk, einer kleinen Stadt im nördlichen Kasachstan. Von Beruf ist sie Englischlehrerin und unterrichtet im Gymnasium. Aber wenn sie die Möglichkeit hat, schreibt sie Artikel und besucht journalistische Seminare. Alla interessiert sich besonders für Themen wie soziale Probleme, Ausbildung und Migration in Kasachstan. Und sie möchte noch mehr darüber schreiben. In ihrer Freizeit mag sie reisen, lesen, tanzen und singen. Ihr Praktikum hat sie nach Frankfurt/Oder zur Märkischen Oderzeitung geführt.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ  Journalisten International ǀ Sommer 2013