Grabmale voller Geschichte

Grabmale voller Geschichte

Zehntausende von Gräbern auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee drohen zu zerfallen. Nur wenn dieser Ort es schafft, in die Liste der UNESCO-Weltkulturerbestätten aufgenommen zu werden, könnte genug Geld zusammenkommen, um diese Denkmale deutsch-jüdischer Geschichte zu restaurieren. Ein Dokumentarfilm zeigt nun, wie bedeutend der Friedhof für die vielen Angehörigen der dort bestatteten Toten ist.

Von Irina Philippova

Im Jahre 2015 wird Berlin einen Antrag über die Aufnahme des Jüdischen Friedhofs Weißensee in die UNESCO-Weltkulturerbeliste stellen. 116 000 Grabstellen auf dem 40 Hektar großen Gelände und ein vollständig erhaltenes Totenregister machen den 1880 eingeweihten größten jüdischen Friedhof Europas zu einem historisch einmaligen Ort.

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Grabmonument auf dem Jüdischen Friedhof. (Foto: I. Phillipova)

Der Friedhof spiegelt die Geschichte der Juden in Deutschland und Europa wider. Neben einzigartigen epochalen Bauwerken der Grabmalskunst des 19. und 20. Jahrhunderts befinden sich hier eine Reihe von bedeutenden historischen Ehrengrabanlagen, die Ehrenreihe großer jüdischer Persönlichkeiten, Berlin, ein Ehrenhain für im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gefallene jüdische Frontsoldaten sowie die Gedenkstätte für die sechs Millionen Opfer der Shoah.

Gegenüber prächtigen Mausoleen aus der Zeit des Klassizismus’ und der Neuen Sachlichkeit stehen hier traditionelle schlichte Sandsteinstelen. Es gibt Grabmale, die von solch bekannten Architekten wie Walter Gropius entworfen wurden. Einige Gräber wirken bombastisch, andere sehen monumental aus, die Inschriften von vielen sind herzergreifend. Zum Beispiel die ganz einfach hergerichteten, mit Gras überwachsenen Grabstätten der Opfer des Konzentrationslagers Auschwitz. Auf deren Grabsteinen steht die trostlose Inschrift: “Nur Gott weiß warum”.

Heute sehen alle Grabmale trotz dieser Baustilunterschiede fast gleich aus: zugewachsen, eingestürzt, vergessen. Auf dem Friedhof gibt es zurzeit nur 15 Mitarbeiter. Es mangelt auch an Angehörigen, die die Gräber pflegen. Bei einer Aufnahme in die UNESCO-Liste könnte sich die finanzielle Situation verbessern. „In diesem Fall könnten alle Grabmale rekonstruiert werden und die Friedhofsverwaltung würde die Möglichkeit bekommen, mehr Grabpfleger einzustellen“, sagt Hendrik Kosche von der Jüdischen Gemeinde Berlin. Und die deutsch-jüdische Geschichte würde durch den UNESCO-Status auch mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Eigentlich ist die Gemeinde mit dem Erhalt der weitläufigen historischen Anlage mit ihrem parkähnlichen Charakter, den alten Bäumen und vielen kostbaren Bauwerken überfordert. Durch den UNESCO-Status könnten mehr Besucher kommen und höhere Summen an Fördermitteln fließen. Wenn der Friedhof nicht aufgenommen wird, verfallen viele wertvolle steinerne Zeitzeugen. Für sie kennt die Zeit keine Gnade.

Dank der UNESCO-Perspektive floss bereits Geld von Bund und Ländern in die Restaurierung. So konnten die Friedhofsmauer und etwa 100 Grabmale ausgebessert werden. Doch es gibt auf dem Friedhof noch viel zu tun. Die 2,7 Kilometer lange Friedhofsmauer muss saniert werden. Die Kosten dafür betragen laut Kosche 600 000 Euro. Auch sie werden zu großen Teilen von Land und Bund übernommen. Außerdem muss für den UNESCO-Antrag der Friedhof immer wieder Thema von Tagungen, Filmen und Büchern sein. Die wissenschaftliche Aufbereitung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen. Und es müssen mindestens zehn Prozent der restaurierungsbedürftigen Grabmale registriert worden sein. Die Mittel dafür sind in den Landeshaushalt bereits eingestellt worden.

Teil der Aufarbeitung ist der Dokumentarfilm “Im Himmel, unter der Erde” der deutschen Journalistin Britta Wauer. Er gewann bei der Berlinale 2011 den Publikumspreis. Der Film erzählt die Geschichte des Friedhofes aus der Perspektive der Angehörigen, deren Vorfahren auf dem Friedhof ruhen. Er zeigt, was dem Friedhofsbesucher beim Sonntagsspaziergang verborgen bleibt: die Geschichten hinter den Grabsteinen.

“Es war nicht meine Idee, mich mit dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee zu befassen“, erzählt Wauer. „Gabriel Heim, der damalige Fernsehdirektor des Rundfunks Berlin-Brandenburg, sprach mich im Jahr 2006 an, ob ich mir vorstellen könnte, einen Dokumentarfilm über diesen besonderen Ort zu drehen. Ich war alles andere als begeistert. Ein Film über einen Friedhof ? Wer soll sich so etwas anschauen?”

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Restaurierungsbedürftig (Foto: I. Phillipova)

Aber dann veröffentlichte Wauer einen Artikel in der Zeitschrift Aktuell, die für ehemalige Berliner herausgegeben wird, die während des Nationalsozialismus emigrierten. Sie wollte damit Familienangehörige von den Verstorbenen finden, die in Weißensee bestattet sind und war völlig überrascht, dass sie innerhalb weniger Wochen fast 250 Zuschriften bekam – aus aller Welt. “Irgendwann hatte ich in dieser Zeit das Gefühl, dass es nicht so verkehrt sein könnte, über einen Friedhofsfilm nachzudenken, wenn schon ein kleiner Artikel zu diesem Thema so viele Emotionen weckt”, so Wauer.

Leider erzählt der Film aus Zeitgründen nicht alle zugeschickten Geschichten. Eine handelt von Harry Kindermann, dessen Vater auf dem Friedhof vor dem Zweiten Weltkrieg als Maurer gearbeitet und seinen Sohn oft zur Arbeit mitgenommen hatte. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde der vierzehnjährige Harry zur Zwangsarbeit verpflichtet. Während dieser Arbeiten verliebte sich der Junge in seine Mitschülerin, die, wie auch seine Großeltern, später nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Harry Kindermann überlebte den Krieg und zog aus Berlin weg.

Doch die fast 70 Geschichten, die nicht im Film erzählt werden konnten, sind im Bildband „Der Jüdische Friedhof Weißensee. Momente der Geschichte“ zusammengetragen, der im be.bra Verlag erschienen ist. In diesem Band sind den historischen Aufnahmen von Grabsteinen und Totengräbern aus Archiven und Privatbesitz aktuelle Fotos der Filmfotografin Amélie Losier gegenübergestellt.

Laut Regisseurin Britta Wauer ist das Interesse am Friedhof sehr hoch. „Es gibt viele erzählenswerte Geschichten und nicht nur einzelne Gräber, für die sich die Menschen interessieren. In zwei Wochen fliege ich beispielsweise nach Südafrika, um den Film beim Encounters Festival in Cape Town und Johannesburg zu präsentieren. Es gibt inzwischen untertitelte Fassungen in Russisch, Französisch, Englisch, Chinesisch, Spanisch, Portugiesisch.“ Im Juni wurde „Im Himmel, unter der Erde“ auch in der ARD ausgestrahlt.


P1030387Irina Philippova kommt aus Kaliningrad. Sie hat an der Baltischen Föderalen Immanuel Kant-Universität fremdsprachige Philologie mit Schwerpunkt Deutsch studiert. 2012 absolvierte sie die Universität mit einem Master. Seit dem Sommer 2012 arbeitet sie als freie Mitarbeiterin bei den Wirtschaftszeitschriften Nowij Königsberg und Baltijskij Status. Sie schreibt gerne Texte über Kultur, Jugendliche und internationale Beziehungen. Ihr Praktikum hat Irina bei den Potsdamer Neuesten Nachrichten absolviert und dort zum Beispiel über einen Abenteuerpark oder den ungewöhnlich heißen Sommer geschrieben.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ Journalisten International ǀ Sommer 2013