Virtual Reality – Die Zukunft einer neuen Erzählsprache?

Virtual Reality – Die Zukunft einer neuen Erzählsprache?

Virtual Reality schafft es, anders als jedes andere Medium zuvor, einen Zuschauer tatsächlich an den Ort der Handlung zu versetzen. Er kann seinen Blick frei um 360 Grad drehen, und ist so von seinem Jetzt und Hier in einen völlig anderen Ort gehoben. Schon seit vielen Jahren in den Köpfen der Menschen, ist Virtual Reality (VR) nun durch die rasante Bereitstellung der technisch nötigen Rahmenbedingungen, u.a. der Aufnahme und Wiedergabe-Devices, im Begriff, ein Massenmedium zu werden. Und weil man zum Abspielen nicht zwingend ein kostspieliges Headset benötigt, sondern auch das eigene Smartphone in Verbindung mit einem günstigen Cardboard (ein „Schaukasten“ aus Karton) benutzen kann, hat VR das Potential, zum nächsten Leitmedium zu werden. Doch gibt es auch Gegenstimmen die vor Vereinzelung und Isolation warnen. Ein Interview mit dem jungen Filmemacher Jerry Hoffmann.

Von Giannina Erfany-Far

Sie waren gerade für eine längere Zeit in Los Angeles und haben sich dort intensiv mit VR beschäftigt. Sehen Sie einen Unterschied im Umgang von VR in Deutschland im Gegensatz zum fortschrittlichen Kalifornien?

Also grundsätzlich ist das Thema VR eins, was in LA viel umfassender in der Masse reflektiert wird. Gerade die Filmfestivals aber auch größere Konzerne wie Facebook, Google – die in Silicon Valley oder in San Francisco ihren Sitz haben- sind viel weiter vorne und bedienen sich dessen schon seit fünf Jahren. Und wie es immer der Fall ist, übernimmt Deutschland oder Europa einfach das was aus Amerika, kommt. Dort sind die Menschen diesbezüglich viel weiter, offener und es werden viel mehr Gelder reingesteckt. Das dauert hier noch ein wenig.

So ganz neu ist VR als Medium dennoch nicht.

Stimmt! VR gibt es eigentlich seit den Neunzigern. Beziehungsweise noch aus der Zeit Orwell, Bücherverbrennung und Star Track. Das Konzept VR gibt es schon seit über 50 Jahren. Aber erst seit 20 Jahren besteht die reale Möglichkeit, dass es überhaupt technisch umsetzbar ist. Und erst seit es die Smartphones gibt und die technischen Neuerungen da sind, könnte es passieren, dass VR zu einem Massenmedium wird. Jeder trägt dieses Device praktisch schon mit sich rum und kann damit VR angucken. Deswegen ist es nichts Neues, aber jetzt gibt es zum ersten Mal die reale Chance, dass eine allgemeine Verbreitung stattfindet.

Jerry Hoffmann, 27, lebt in Berlin

Jerry Hoffmann, 27, lebt in Berlin

Fälschlicherweise wird VR oft mit dem technischen Mittel – 3D verglichen.

Ja, doch ist es etwas komplett anderes. Es gibt einen sehr bedeutenden Vertreter aus der VR Welt, Chris Milk, der glaubt, dass es das letzte Medium sein wird. Weil es eine komplett andere Art kreiert, eine Geschichte zu erzählen. Wohingegen 3D eher einen Zusatz bietet zu der Sehgewohnheit, die wir eh schon haben. Also, der Sprung von schwarz-weiß zu Farbe zum Beispiel war ein wahnsinnig großer und trotzdem hat er das Medium nicht verändert. Im Gegensatz zum Sprung vom Kino zum Fernseher, der plötzlich die Leinwand nach Hause brachte und jedem zugänglich machte. Mit VR haben wir wieder einen kompletten Mediensprung. Mich persönlich regt der Vergleich mit 3D immer sehr auf, weil ich 3D immer abgewertet habe und nicht als Bereicherung gesehen habe und es nur für sehr bedingte Filme sinnvoll ist, dass man die in 3D guckt. Außerdem hat uns die 3D Technik nie überzeugt. Erstens ist es nie ein Massenmedium geworden und zweitens wurde es nie so umgesetzt, dass du denkst: Wow! Der Pfeil von Aragon fliegt jetzt wirklich an mir vorbei.

Wir verabreden uns, um ins Theater zu gehen, auf ein Konzert, ins Kino usw. Miteinander erleben, in Gesellschaft von anderen Menschen, spielt eine wesentliche Rolle bei dem Rezipieren. Viele Gegner und Kritiker sehen VR als möglichen Grund für den endgültigen Tod des Kinos und einer vollkommen Isolation der Menschen. Ist diese Angst berechtigt?

Wir sind im Zeitalter der Digitalisierung. Es wird eh alles digitalisiert. Ich glaube, man muss sehen, wo die Zwischenräume sind und die Chancen, dass man sich verbindet. Als das Internet hochkam, gab es auch wahnsinnig viele Kritiker. Ich glaube, es ist eine reale Möglichkeit, dass wir uns in Gesellschaften isolieren. Das hat aber glaube ich nichts mit VR zu tun, sondern es fing mit den Smartphones an. Das ist der Umgang mit der Welt. Ich glaube daran müssen wir arbeiten. Es gibt eine ganz große Not für jeden Menschen sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Bei VR gibt es die Möglichkeit über lange Distanzen und einer Einfühlung einen Kontakt herzustellen, den es bei anderen Medien nicht gibt. Insofern ist es eine reale Angst und ich glaube der muss man bei diesem Medium begegnen. Trotzdem ist es Schwachsinn zu sagen: Jetzt kommt ein Medium und das macht uns alle zu Matrix Wesen die nichts mehr mit der Außenwelt zu tun haben! Das ist für mich eine rein hypothetische Angst, da das bei allen anderen Medien vorher auch nicht der Fall war.

Wie sieht der praktische Vorgang des Rezipierens beim VR aus? Muss ich das geeignete, Equipment dafür besitzen? Kann ich es jederzeit überall anschauen?

So wie es bisher gedacht ist, setzt man eine Brille auf, kann damit in 360 Grad rumgucken und hat somit ein singuläres Erlebnis. Das entfremdet einen erstmal von dem gewohnten Kinoerlebnis. Doch gibt es auch Neuerungen, bei denen man auch gemeinsam etwas gucken kann. Zwei Leute die eine Brille aufhaben und sich zum Beispiel darin sehen. Das geht auch in die Richtung Augemented Reality. Man setzt eine Brille auf- das war damals auch mit Google Glasses der Fall- die einen Mehrwert gibt zu dem, was ich eh sehe. Da ist keine Entfremdung mehr der Fall. Das ist ein realer Faktor.

Wer dient als Zielgruppe? Anscheinend nur technisch versierte Menschen der westlichen Gesellschaft. Ältere Generationen werden automatisch ausgeschlossen.

Wahrscheinlich die gleiche Zielgruppe, die ein Smartphone besitzt. Ich glaube, dass sind heutzutage sehr, sehr viele! Es ist klar, dass in unterentwickelten Ländern oder in Ländern in denen das Smartphone noch nicht angekommen ist, eine Neuerung wie VR keinen Sinn macht. Trotzdem ist die Zielgruppe erstmal undefiniert, weil noch gar nicht klar ist, wohin das Medium geht und es gleichzeitig für so viele Bereiche möglich ist. Gerade VR klingt nach: Wir sitzen alleine in einem Kämmerchen und gucken uns mit Brillen Sachen an! Aber es ist ja heutzutage, wie gesagt bei Medien wie Facebook und Youtube möglich, dass man auch ohne Brille, 360 Grad guckt und das erneuert unsere Sehgewohnheit. Es gibt ja auch 360 Grad Fotos, oder es gibt Möglichkeiten, dass du mit deinem Handy, ohne dass du eine Brille aufhast, in 360 Grad rumguckst. Insofern verändert es einfach unser Leben.

Sie sind ja aufstrebender Filmregisseur. Was begeistert Sie persönlich an VR? Was für neue Möglichkeiten ergeben sich in der Erzählweise?

Ich habe ja noch keine Langspielfilme gemacht. Mit VR bin ich das erste Mal in LA in Kontakt getreten und hab gemerkt, dass es was mit mir macht. Im Sinne von: Ich erfahre etwas, was ich vorher noch nie erfahren habe. Das ist wie eine Begeisterung, die man nicht genau definieren kann. Es war reine Intuition. Dann hat es angefangen, dass ich intensiv darüber nachgedacht habe, was es alles bewirken könnte. Zwar fällt es wieder in die Kritik der Abkopplung von der Welt, doch das Erleben mit VR ist viel immersiver! Man taucht in etwas ein, was vorher noch nie möglich war. Wenn man in einem Kinosaal sitzt, gibt es errechnete Werte, dass man auf einer Leinwand, sagen wir 5×10 Metern, mit den Augen von A nach B guckt. Diese Fluktuation haben wir. Hier, bei 360 Grad, ist diese Bewegung natürlich größer. Doch ist es etwas anderes, wenn ich in einem Kinosessel sitze und die Leinwand vor mir Grenzen hat. VR ist zum Beispiel eine große Chance für Menschen die nicht reisen können, oder Menschen die Erlebnisse machen möchten, aber nicht machen können. Da bist du plötzlich, wie in einer Traumwelt. Ich glaube, dass die nächsten 50 Jahre entscheiden werden, inwiefern sich das Medium wirklich durchschlägt und was damit noch alles möglich ist. Aber ich habe das Gefühl, dass wir erst am absoluten Anfang sind von dem, was man damit schaffen kann. Auch in Richtung Empathie ist es sehr spannend zu beobachten. Ein Freund von mir in LA hat damit gearbeitet, dass man sich als jemand anderes erkennt. Man guckt in den Spiegel und sieht zum Beispiel eine übergewichtige schwarze Frau oder einen kleinen Jungen. Man denkt also, man ist die andere Person und taucht da komplett ein. Durch solch ein Erlebnis wird man automatisch emphatischer. Ich habe Dokumentarfilme und Kurzfilme gesehen, wo ich danach weinen musste. Natürlich ist es trotzdem eine Spielfläche. Dir wird etwas projiziert und dein Kopf wird ausgetrickst. Bisher funktioniert das Medium jedoch nur als Kurzfilmmedium, einfach weil die Reflexionen so dicht am Auge sind, dass es irgendwann anstrengend wird.

Nun sind Sie wieder nach Berlin zurückgezogen. Vermutlich mit großen Ambitionen im Gepäck, VR in den deutschen Filmmarkt zu bringen. Wie sehen die Chancen aus? Besteht ein Interesse von Seiten der Sender, Produzenten, Förderungen? Ist der deutschen Filmlandschaft VR überhaupt schon ein Begriff?

Grundsätzlich war ich positiv sehr überrascht. Man fühlt sich wie bei einer Peak von einer absoluten Revolution. Und es ist ja immer sehr schön, wenn man als Filmemacher, als Künstler, das Gefühl hat, man bringt der Welt etwas wirklich Neues. Gerade große Sender und Produzenten sind dem neuen Medium sehr offen und investieren schon wahnsinnig viel Geld, Ressourcen und Zeit. Es gibt mehrere Filmfestivals auf der Welt, wie Tribeca, Sundance, South by Southwest etc., die schon einzelne VR- Sektionen führen. Die Berlinale hat letztes Jahr einen ganzen Open Space kreiert, wo man unterschiedliche Werke angucken konnte und gemeinsam darüber sprechen konnte. Cannes hat auch schon Interesse dafür gemeldet. Die Oscars haben dieses Jahr zum ersten Mal den roten Teppich in VR aufgenommen. Man merkt also, dass es gerade in der Filmwelt sehr stark angenommen wird und das Medium dadurch massentauglicher wird und nicht nur für die Tech-Welt ein Begriff bleibt. Man muss dazu sagen, dass es abseits des Films wahnsinnig viele andere Branchen gibt. Mich persönlich interessiert nur der Film- Der Spielfilm, das Narrative, der Dokumentarfilm. Alles womit mir eine Geschichte erzählt wird. Es gibt aber, wie gesagt, auch viele andere Bereiche, wie der Immobilienmarkt. Dort kann zum Bespiel ein wohlhabender Mensch seine Villa schon betreten bevor er sie gekauft hat. Dadurch muss er nicht mehr extra für die Besichtigung rüber fliegen. Es gibt ganz viele Branchen, in denen so etwas möglich ist und auch schon längst rein investiert wird. Aber so ist es nun mal im Technologiezeitalter- Alle wollen gerne schnell auf diesen Zug springen! Die Firmen mit dem größten monetären Volumen heutzutage sind eben die in der digitalisierten Welt. Von Microsoft über Apple, Facebook, Amazon etc. Ich glaube tatsächlich, dass das Medium gesellschaftlich gesehen wahnsinnig viele Möglichkeiten bietet. Und da hab ich bisher nicht so viele gesehen. Aber die Menschen, die dieser Punkt interessiert, sind sehr euphorisch. So wie ich!

Vielen Dank!

Titelbild: ‚Woman Using a Samsung VR Headset at SXSW‘ von Nan Palmero / CC BY 2.0 


Giannina Erfany-Far studiert Filmwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im 4. Semester an der Freien Universität in Berlin. 


2017-07-06T12:18:01+02:00 Kategorien: Kunst + Können, Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , , |