Der Streit um die Zukunft der Volksbühne

Der Streit um die Zukunft der Volksbühne

Intendantenwechsel verlaufen selten reibungslos. Doch dieser immer lauter werdende Widerstand spricht für ein grundlegenderes Unbehagen mit dem Strukturwandel, den der Wechsel auch repräsentiert. Einerseits wird es als Schande betrachtet, dass der Londoner Museumsmacher Chris Dercon 2017 die Volksbühne  übernimmt und der bisherige Intendant Frank Castorf verjagt wird. Andererseits gilt es als Erleichterung, dass sich endlich etwas verändert am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Dercon oder nicht: Das ist hier die Frage.

Von Giannina Erfany-Far

Frank Castorf gilt durch sein legendäres, postdramatisches Theater weltweit als einer der wichtigsten Regisseure des 20. und 21. Jahrhunderts und muss nun, nach 25 Jahren, die Berliner Volksbühne verlassen. Er selbst würde gerne bleiben. Auf die Frage der Zeit, ob er den Abschied selbst beschlossen habe, oder es politischen Druck gab, antwortet Castorf: „Es ist der Wunsch der neuen Berliner Kulturpolitik. Von meiner Seite hätte ich, da ich nie ein Ende finden kann, auch an der Volksbühne keins gefunden.“

Chris Dercon, gebürtiger Belgier und Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London, soll eine neue Ära des Hauses einleiten. Der Wechsel wurde am 24. April 2015 in einer Pressemitteilung bekannt gegeben. Seit dem 20.06.2016 spitzt sich der Konflikt um den Intendanten-Wechsel immer mehr zu. Grund ist der offene Brief an die Fraktionen im Abgeordnetenhaus und an Kulturstaatsministerin Grütters, indem Mitarbeiter und Schauspieler der Volksbühne vor einem drohenden Stellenabbau und einer gefährdeten Zukunft des Hauses warnen. In dem Brief nehmen sie Bezug auf eine Ensembleversammlung am 28. April, bei der Dercon sich den Mitarbeitern vorgestellt hat und diese scheinbar enttäuscht hat. Die Akzente, die er in Zukunft in Berlin setzen will, blieben bei dieser Versammlung anscheinend sehr vage. Das Echo auf diesen Protestbrief ist sehr groß. Unter anderem reagierte der im Brief indirekt angesprochene Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner auf das Geschriebene und auch andere Politiker sowie zahlreiche namenhafte Intendanten meldeten sich zu Wort.

Eisiger Wind weht Chris Dercon und dem roten Rathaus entgegen

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Streichhölzer der Volksbühne

Viele empfinden es als Sakrileg, dass Castorf in zwei Jahren aufhören muss, und reagieren mit Verbitterung. Vor allem die Theaterlandschaft ist fassungslos darüber, dass der regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller und Tim Renner es wagen, dem Theaterkönig Frank Castorf die Abdankung nahezulegen. Zur Volksbühnen-Liebe derer, die lieber alles beim Alten lassen, gehört auch die Ansicht, die Volksbühne sei die letzte Bastion gegen die Gentrifizierung.

Die Mitarbeiter der Berliner Volksbühne fürchten konkret Stellenabbau und eine Verfälschung des Charakters der Volksbühne. „Eine konzeptionelle Linie der künstlerisch-strukturellen Weiterentwicklung unseres Theaters ist in den Ausführungen Chris Dercons und seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock nicht zu erkennen.“  Dercon setzt auf Tanz, Musiktheater, Medienkunst, wenn es nach ihm geht, soll „das Sprechtheater nicht die dominante Säule dieses Hauses sein.“

Unterzeichnet haben um die 200 Mitarbeiter der Volksbühne aus allen Gewerken, darunter auch prominente Schauspieler wie Wolfram Koch, Alexander Scheer, Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Birgit Minichmayr und Sophie Rois und die Regisseure Herbert Fritsch, René Pollesch und Christoph Marthaler. Sie schreiben: „Dieser Intendantenwechsel ist keine freundliche Übernahme. Er ist eine irreversible Zäsur und ein Bruch in der jüngeren Theatergeschichte.“ Und mehr noch: „Dieser Wechsel steht für eine historische Nivellierung und Schleifung von Identität. Die künstlerische Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte wird zugunsten einer global verbreiteten Konsenskultur mit einheitlichen Darstellungs- und Verkaufsmustern verdrängt.“ Die Kritik richtet sich gegen Tim Renner. Er arbeite an der „Zerstörung von Originalität und Eigensinn.“ Deshalb müsse Dercons Konzept überprüft werden.

Am lautesten solidarisiert sich der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann mit den Briefschreiber/innen. Ein Tag nach dem offenen Brief der Volksbühnen Mitarbeiter hat er Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller aufgefordert, den Belgier und früheren Direktor des Museums Tate Modern in London, Chris Dercon als neuen Intendanten der Volksbühne zu verhindern. Müller solle einen „Fehler einsehen und korrigieren“, schrieb Peymann in einem offenen Brief. Müller solle sich mit Dercon einigen und ihn aus-zahlen. „Das kostet erheblich weniger als seine unsinnigen Pläne.“

Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele positioniert sich auch ganz klar gegen einen derartigen Wechsel und meint, wenn es so wäre, wie die Mitarbeiter das schreiben, dann deutet sich da kein Intendantenwechsel, sondern ein Systemwechsel an. Die Bedenken, die sich in dem Brief äußern, gehen dahin, dass das Haus vor einem Umbau steht, der das Repertoire-System betrifft und damit auch die eigenen Werkstätten. Man solle behutsam mit diesem Theater umgehen, es ist ein lebender Organismus und das bedeutendste Sprechtheater der Welt. Das Haus sei auch nicht runter-gewirtschaftet und am Ende, es stehe in voller Blüte und verändere sich permanent. Die Volksbühne sei schon längst polyglott, international und interdisziplinär!

Politisch unterstützt die Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus die Volksbühne. Die Grünen-Politikerin Sabine Bangert, Sprecherin für Kulturpolitik, stellte jüngst eine Anfrage mit 23 Punkten. Hierbei geht es um Fragen nach dem Erhalt des Ensembles, der Gewichtung der Sparten und dem künstlerischen Leitungsteam. Auch der CDU-Kulturexperte Stefan Schlede äußerte sich skeptisch. Er sieht die Volksbühne vor einer offenen und existenz-gefährdenden Zerreißprobe. Damit sieht er einen kreativen Theaterbetrieb auf lange Sicht in Frage gestellt. Schlede forderte den Regierenden Bürgermeister Müller als Kultursenator auf, umgehend in diesem Konflikt zu moderieren. Der kulturpolitische Sprecher der Piratenfraktion, Philipp Magalski, riet, dass jetzt mit allen Mitarbeitern ein offener Diskurs über die konzeptionelle Zukunft des Theaters geführt werden müsse.

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Ein Poster von dem aktuellen Stück des Regisseures René Pollesch „I love you, but I’ve chosen Entdramatisierung“

Dercon als neue Chance für Berlin

Die Nachricht war ein Paukenschlag, trotzdem wird Chris Dercon 2017 Intendant der Volksbühne. Also soll er eine Chance bekommen, vertritt die andere Seite dieses Streits. Schließlich gibt es in der Stadt auch viele Menschen, die sich auf etwas Neues freuen und Dercon einiges zutrauen. Er hat stark verhandelt. Der politische Wille, das Theater neu zu erfinden, statt an die Volksbühne Castorfs und Theaterüblichkeiten anzuknüpfen, hat seinen Preis. Laut Haushaltsentwurf bekommt die Volksbühne in den nächsten Jahren rund fünf Millionen mehr, wenn man die Etatsteigerungen und die Mittel für die Vorbereitung der neuen Intendanz zusammenrechnet.

Obwohl praktisch alle namenhaften Intendanten Berlins sich kritisch über den Wechsel geäußert haben, gibt es auch die Gegenstimmen, wie Amelie Deuflhard, Leiterin von Kampnagel Hamburg, die Dercon zumindest eine Chance geben wollen. Neue Formen sollten auch im Theater einen Platz finden. Doch natürlich gäbe es immer Angst vor Neuem aber es könnte eben auch eine Chance für Neues geben. Sie sehe Dercon jetzt in der Pflicht, mit den besorgten Mitarbeitern offen über seine Absichten und Pläne zu reden und sich mit ihnen auszutauschen. Dercon habe offenbar „das soziale System Theater ein bisschen unterschätzt„.

Bei der regelrechten Anti-Dercon-Hysterie vergisst man beinahe, dass der neue Intendant, auf eine glänzende Karriere als Museumsleiter und Kulturmanager zurückblickt – nach Stationen in New York und Rotterdam leitete er mehr als zehn Jahre lang das Haus der Kunst in München, mischte die Kunst mit Mode, Fotografie, Design und Architektur auf.

„Die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Volksbühne geäußerte Sorge und Kritik bedauern wir sehr und nehmen sie selbstverständlich ernst„, geht nun die Pressemitteilung von Michael Müller und Tim Renner weiter. Die Sorgen seien aber unbegründet. Renner bleibt bei seiner Entscheidung: „Mich hat nicht die Intensität, aber der Zeitpunkt überrascht. Als wir Castorfs Vertrag nochmals um ein Jahr verlängerten, dachte ich, jetzt bricht es über uns herein. Nichts geschah. Dann tauchte dummerweise der Name Dercon gerüchteweise auf und es wurde scharf geschossen- Und ich habe den Fehler gemacht, die latente Angst vor Veränderung in der Theaterszene zu unterschätzen.“ Warum ließe man Castorf nicht einfach an der Volksbühne? „Die Volksbühne kommt aus 25 Jahren Kontinuität. Selbst der tollste Typ kann sich und das Haus nicht ewig erneuern.“, antwortet Tim Renner.

Dercon selber schaut positiv auf die Zukunft:  „Ich bin Intendant. Und ich will das Theater weiterentwickeln, auch in den neuen Medien. Die Arbeit von Castorf und Peymann kennt man weltweit – über YouTube. Also habe ich gedacht, man braucht ein Globaltheater fürs 21. Jahrhundert, in das Regisseure, Choreografen, Tänzer, Musiker eingeladen werden, für das Netz Formate zu entwickeln – für eine digitale Bühne. Dann habe ich fünf Satelliten, die Volksbühne, den Prater, das wunderbare Babylon, den Hangar und die digitale Bühne. Das ist der Ausgangspunkt, die Stadt zu inszenieren.“

Bei der ganzen Anti-Dercon-Kampagne der letzten Tage, muss jedoch gesagt werden, dass über sein Theater sich schlicht nichts sagen lässt, solange nichts davon zu sehen ist. Falls Dercon erfolgreich wäre und er sein Projekt trotz aller Angriffe nicht in den Sand setzt, muss er zunächst vor allem sehr starke Nerven zeigen. Doch das scheint er ohnehin gut zu können:“ Ich weiss, dass man sich in Berlin ärgert, dass ich mich nicht ärgere.“ Bis es zu diesem vieldiskutierten Wechsel kommt, nimmt Berlin liebevoll Abschied von der alten Volksbühne.


Giannina Erfany-Far studiert Filmwissenschaft im Kernfach und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im Nebenfach. Sie ist ein großer Fan der alten Volksbühne und empfindet große Wut und Unverständnis bei diesem Wechsel.