Lücken im Sozialsystem – Obdachlose in Berlin-Mitte

Lücken im Sozialsystem – Obdachlose in Berlin-Mitte

Jeder kennt das Problem, doch nur die wenigsten wissen wirklich, wie es obdachlosen Menschen in Berlin geht und warum sie auf der Straße leben. Der U-Bahnhof Hansaplatz in Mitte ist ein Ballungspunkt für Obdachlose, im Winter stehen die Türen für die Kältehilfe offen. Wir haben Betroffene und Kenner der Szene gefragt, wie es um das Berliner Sozialsystem steht und warum eigentlich niemand Genaues über diese Randgruppe zu wissen scheint.

Von Vivien Duntze und Maria Engler

Der Zug fährt ein. Einige wenige Menschen tröpfeln aus der U-Bahn und wenden sich zielstrebig den verschiedenen Ausgängen zu. Wenige Meter weiter oben entfaltet der U-Bahnhof Hansaplatz ein kleines Labyrinth aus flach überdachten Flächen und einem eigenwilligen Potpourri aus Geschäften. Es gibt den obligatorischen Späti und einen Gemüsehändler, eine Apotheke und einen Supermarkt, aber auch das Grips-Theater und ein Bürgerbüro der SPD haben am U-Bahnhof Hansaplatz ein Zuhause gefunden. Aus einem Eisladen direkt neben dem Eingang zum Bahnhof quillt eine Gruppe spanischer Touristen, vor dem Café sonnen sich kleine Familien. Ein perfektes Idyll, das, abgesehen von den abplatzenden grauen Fliesen an der Bahnhofsfassade, genauso in Prenzlauer Berg angesiedelt sein könnte.

Richtung Hansabrücke passiert man eine S-Bahn-Unterführung, dort haben zwei Menschen ihr Lager aufgeschlagen, deren Anwesenheit in Prenzlauer Berg wohl weniger alltäglich wäre. Nina, eine junge Frau Mitte 20, sitzt in ihrem Schlafsack und begutachtet sich in einem kleinen Handspiegel. Sie ist trotz sommerlicher Temperaturen in mehrere Decken gehüllt und von Beuteln und Taschen umgeben. Vor ihr steht ein kleiner zerknitterter Kaffeebecher, in ihren Händen dreht sich ein Zigarettenpapier. Sie ist erst vor drei Tagen aus München angekommen und kennt sich in Berlin nicht aus. Unter die Unterführung hat es sie verschlagen, weil „er hat da gepennt“, sie deutet auf den schlafenden Mann. In der Notübernachtung in der Franklinstraße war sie auch schon, dort hat es ihr auch gut gefallen, aber sie konnte eben nur eine Nacht bleiben. Weitere Hilfe hat sie erstmal nicht annehmen wollen. „Ich bin ein bisschen verplant, weiß noch nicht genau, was ich machen soll. Weiß auch nicht, ob ich hierbleiben soll.“

Die große unbekannte Zahl

Die Notunterkunft in der Franklinstraße liegt etwa eineinhalb Kilometer vom U-Bahnhof Hansaplatz entfernt und ist eine Institution in der Berliner Obdachlosenarbeit. Seit mittlerweile 30 Jahren wird die Einrichtung, die als eine der wenigen in Berlin ganzjährig Übernachtungsmöglichkeiten für Obdachlose anbietet, von Jürgen Mark geleitet. Jeden Tag werden die über 70 Betten im Haus zu einem Drittel mit Menschen wie Nina gefüllt, die vorher noch nie dort waren, zwei Drittel sind nicht zum ersten Mal hier. „Es ist nie langweilig. Auch nach 30 Jahren noch nicht. Es gibt jeden Tag neue Fälle. Jeden Tag Fälle, bei denen ich denke – das hast du auch noch nicht gehabt.“, sagt Jürgen Mark über seinen Beruf. Manche Menschen kennt der Sozialarbeiter schon seit Jahrzehnten, denn die Rückkehr in ein Leben jenseits der Straße ist nicht leicht. Ob die Menschen, die er beraten hat, diesen Weg wirklich gehen, erfährt Jürgen Mark in den meisten Fällen nicht. Erfolg bedeutet für ihn vielmehr, dass er überhaupt einen Denkanstoß geben kann. „Wenn jemand auf mich zukommt, den ich vielleicht seit Jahren kenne, der für sich entschieden hat: Heute wird alles anders. Das sind Erfolge.“ Jeden Abend ab 18 Uhr können Wohnungslose sich hier einfinden, und in kalten Monaten stehen Betroffene Schlange, denn wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Bei den Wohlfahrtsverbänden geht man von etwa 4.000 Menschen in Berlin aus, die täglich draußen schlafen, inoffizielle Schätzungen reichen von 6.000 bis 10.000 Menschen. Jürgen Mark wünscht sich eine offizielle Statistik – er fordert die Erfassung der Berliner Obdachlosen schon seit Jahren. Die letzten offiziellen Zahlen sind bereits vier Jahre alt und gehen von mehr als 10.000 Obdachlosen in Berlin aus. Das sind allerdings nur diejenigen, die Hilfen von der Stadt beziehen oder sich selbst angemeldet haben. Die Dunkelziffer wird wohl deutlich höher sein.

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Vierbettzimmer in der Notübernachtung Franklinstraße

Die Forderung nach vernünftigen Statistiken kommt nicht nur an die Politik, sondern auch von der Politik. Sozialstadtrat Stephan von Dassel meint, das Problem sei spezifisch für Berlin, in anderen Bundesländern gäbe es diese Statistiken, und so kompliziert sei es auch gar nicht, diese zu erheben. „Man hat schon so das Gefühl, Berlin möchte diese Zahlen nicht offiziell haben, um einfach nicht zu sagen: Wir haben hier vielleicht 15.000 Menschen die auf der Straße leben, direkt oder indirekt. Das ist überfällig!“ Eine mathematische Basis sei dringend notwendig, um zu wissen, wer wo was braucht. Die Lösung sieht von Dassel in der Wurzel des Problems Obdachlosigkeit. Wer erst einmal aus einem geregelten Leben mit Wohnung ausgestiegen sei, für den ist der Rückweg sehr viel schwerer. Er fordert deshalb ein geschütztes Marktsegment mit weitreichenden Garantien für Vermieter. Im Moment gibt es knapp 200 Wohnungen in Mitte, die in diesem Segment angesiedelt sind. Damit mehr Menschen unter staatlicher Obhut den Weg zurück in die eigene Wohnung finden können, müssten allerdings deutlich mehr Mittel bereitgestellt werden.

„Es muss politisch was geschehen.“

Etwa 200 Meter vom U-Bahnhof Hansaplatz entfernt liegt das Ufer der Spree. Ausflugsboote, die mit Touristen gefüllt sind, schwimmen langsam vorüber. Nur wenige Meter von der lauten Straße entfernt, entfaltet sich erneut ein kleines Idyll mit guter Aussicht auf die Spree. Auch hier stapeln sich im Schutz einer Brücke einige Beutel und Schlafsäcke. Auch hier trifft man auf einen Obdachlosen, Cornel, der in Decken und Jacken eingehüllt ist. Er ist mittleren Alters und scheint schon seit längerer Zeit auf der Straße zu leben. Auch er kennt die Notübernachtung Franklinstraße, hat aber keine guten Erfahrungen dort gemacht. „Wird zu viel geklaut. Da gehe ich nicht mehr hin.“ Auch nicht im Winter. Dafür nutzt er hin und wieder andere Angebote, zum Beispiel die Wohnungslosentagesstätte ‚Warmer Otto‘. „Da wird meine Post hingeschickt.“ Die Leute seien auch immer nett. Er schätzt vor allem die Ruhe in der Umgebung des U-Bahnhofes und hat sich mit einigen anderen Obdachlosen angefreundet.

Die Wohnungslosentagesstätte ‚Warmer Otto‘ bietet die Möglichkeit, sich tagsüber in Räumlichkeiten aufzuhalten und soziale Kontakte zu pflegen. Die Sozialarbeiterein Dorothea Benbelgacem arbeitet seit 23 Jahren im Warmen Otto, sie leitet unter anderem das Frauenfrühstück, welches jeden Montag stattfindet. Geschützte Räume speziell für Frauen sind dringend notwendig. In der offiziellen Statistik geht man davon aus, dass auf 9 Männer eine Frau kommt, die Dunkelziffer hierbei dürfte allerdings bedeutend höher liegen und meist flüchten Frauen sich in prekäre Beziehungen und eine Art „Zwangsprostitution“ für einen Schlafplatz. Die Frauen, welche dort frühstücken, kommen teilweise schon seit vielen Jahren. Ich unterhalte mich mit einer älteren Dame, sie betont mehrmals, dass sie nicht wohnungslos ist. „Ich habe eine Wohnung. Ich bin hier zum Plauschen, man kennt sich ja.“ Auch Frau Benbelgacem kritisiert, dass die meisten Angebote nur auf die Versorgung zielen. „Wir wollen nicht nur Versorgung sein. Diese sozialpädagogische Arbeit tritt immer in den Hintergrund. Es muss politisch was geschehen. Wir können die Leute nicht auf so einem Minimum halten, dass sie gezwungen sind, dann an so Stellen zu gehen wo sie Lebensmittel kriegen, die irgendwo von der Gesellschaft billig abfallen.“

Erste Adressen

Zentrale Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot
Levetzowstr. 12a, 10555 Berlin
Telefon: 030 390 47 40

Wohnungslosentagesstätte Warmer Otto
Wittstocker Str. 7, 10557 Berlin
Telefon: 030 396 60 67

Notübernachtung Franklinstraße
Franklinstr. 27a, 10587 Berlin
Telefon: 030 391 27 22

Zwischen Helfenwollen und dem freien Willen

Auch der Verein Berliner Obdachlosenhilfe e.V. versucht, mehr als Versorgung zu bieten. Florian Wagner arbeitet wie die anderen 25 Mitglieder des Vereins ehrenamtlich und ist im Vorstand aktiv. Die Mitarbeiter machen zweimal in der Woche Touren, bei denen sie selbstgekochtes Essen und Dinge des täglichen Bedarfs an etwa 100 bis 150 Menschen verteilen. Ziel ist es außerdem, überhaupt mit den Obdachlosen ins Gespräch zu kommen und die ihnen sonst oft verwehrte Wertschätzung entgegenzubringen. Wagner findet, dass diese Wertschätzung auch von den Sozialarbeitern in den verschiedenen Einrichtungen oftmals vernachlässigt wird, da die Menschen dort teilweise von oben herab behandelt würden. „Sowas schreckt natürlich viele Leute ab. Gerade Leute, die sich einfach nicht trauen, die sowieso schon Probleme haben.“ Diesen Menschen will der Verein helfen – doch nicht jeder will sich helfen lassen.

Christian Hanke, der Bezirksbürgermeister von Mitte kennt das Problem. Er gibt das Beispiel einer Frau in der Leopoldstraße, welche auf der Straße lebt und keine Hilfe in Anspruch nehmen möchte. „Menschlich eine schwierige Situation, weil man eigentlich helfen möchte.“ In seiner Funktion als Finanzstadtrat läge es auch an ihm, Mittel zur besseren Versorgung bereitstellen. Trotz der leichten Verbesserung der finanziellen Situation in Berlin, sieht er aber momentan noch keine Möglichkeit dafür, obwohl es auch aus seiner Sicht Bedarf gibt. „Im Moment gibt es keine Ressourcen, um aufsuchende Sozialarbeit zu machen. Die Ressourcen, um aus dem Sozialamt zwei Mitarbeiter herauszunehmen, die durch die Straßen gehen und die Obdachlosen ansprechen, haben wir nicht.“ Die Strukturen der Obdachlosenhilfe in Berlin empfindet er als sehr gut, auch weil Vereine und private Träger ihren Teil leisten. Grundlegend für die Zukunft ist es seiner Meinung nach, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Berlin wächst, doch das Angebot wächst nicht mit. Hanke erklärt, 40.000 Menschen seien im vergangenen Jahr zugezogen, ein großer Anteil stammt aus Südosteuropa. Über seinen Bezirk sagt er: „Mitte ist eine der sozial schwierigsten Regionen. Wenn eine Arbeitslosigkeit eintritt oder Strukturen verloren gehen, fällt man da sehr schnell aus dem System, das glauben mir manche nicht, wie schnell der Abstieg sein kann.“ Für ihn kommt nur eine Offensivstrategie in Frage, indem die städtischen Wohnungsbaugesellschaften preiswerte Wohnungen zur Verfügung stellen, sowie über das geschützte Marktsegment und Mietpreisbindung zu arbeiten oder Milieuschutzgebiete zu errichten.

Begegnungen auf Augenhöhe

Obwohl der Wohnungsmarkt in Berlin vor allem für Obdachlose schwierig ist – eine Frau, die ich am Kurfürstendamm getroffen habe, hat es geschafft. Sie hat eine Wohnung und versucht nun, Betroffene zu unterstützen. „Einen hab ich bei mir Zuhause schon untergebracht, einen Mann. Man lernt sehr viele Männer kennen, weil oft Männer von Obdachlosigkeit bedroht sind.“ Die Angebote der Stadt empfindet sie generell als gut, kritisiert aber vor allem die mangelnden Angebote speziell für Frauen. Es gibt zu wenige, sowohl was Unterkünfte, Suppenküchen oder Waschgelegenheiten angeht, als auch die Ausstattung dieser Einrichtungen, zum Beispiel Hygieneartikel.

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Das Grips-Theater am Hansaplatz

Bis diese Lücken geschlossen sind und weiterführende Ziele der Politik erreicht sind, werden sich weiterhin Obdachlose draußen aufhalten. Am U-Bahnhof Hansaplatz hat man sich weitgehend mit den Obdachlosen arrangiert. Ein Mitarbeiter des Grips-Theaters, der bereits seit zweieinhalb Jahren im Kassenbereich tätig ist, sieht viele der Menschen, die rund um den Bahnhof leben, täglich und hat kein Problem damit, dass viele Menschen nachts auch vor dem Eingang des Theaters schlafen. Die Obdachlosen können die Toilette des Theaters nutzen und kommen deshalb auch tagsüber immer wieder vorbei. Negative Erfahrungen hat er noch keine gemacht, selbst bei Problemen hat er die verschiedensten Menschen, die in der Nähe übernachten, immer als freundlich und kooperativ wahrgenommen.

Bis die Pläne der Politik und der Sozialarbeit Berlins greifen, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Bis dahin können das friedliche Nebeneinander und der gegenseitige Respekt am U-Bahnhof Hansaplatz ein Beispiel für den Umgang mit Obdachlosigkeit sein. Eine Begegung auf Augenhöhe kann obdachlosen Menschen helfen – auch, wenn sie sich sonst nicht helfen lassen möchten.


Vivien Duntze ist 21 Jahre alt und studiert an der Freien Universität Berlin Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Lateinamerikastudien und Geschichte und Kultur des Vorderen Orients. Im Moabiter Alltag sieht sie nicht nur tagtäglich Menschen, die auf der Straße leben, sondern auch, wie mit ihnen umgegangen wird. Daher hat sie sich näher mit der Thematik auseinandergesetzt.


Maria Engler ist 27 Jahre alt und studiert nach einer abgeschlossenen Berufausbildung als Grafikdesignerin nun Filmwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Als geborene Berlinerin ist sie jeden Tag mit Obdachlosigkeit konfrontiert und ist vor allem an Lösungsansätzen und der Handlungsmacht der Politik interessiert.