Fremd gewordene Heimat. Die Adresse der neuen Heimat

Fremd gewordene Heimat. Die Adresse der neuen Heimat

Wegen des Berg-Karabach-Konflikts 1988-1992 waren hundertausende in Aserbaidschan lebende Armenier gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen und zu fliehen. Viele von ihnen hatten Probleme, sich in ein neues Land zu integrieren. Der Schuster Samwel Rafajelian ist einer von den Wenigen, der sich trotz vieler Schwierigkeiten in seine neue Heimat Deutschland eingelebt und seine eigene Werkstatt eröffnet hat. Er träumt davon, einmal in die Heimat seiner Großeltern nach Armenien zurückzukehren.

Von Shahane Khachatryan

Nicht überall in Berlin kann man Schilder oder Beschriftungen auf Armenisch sehen. Aber wenn man die Uhlandstraße entlang läuft, nicht weit von der Poststelle, stößt man auf einen oben hängenden Schuh. Für den, der nicht Armenisch spricht, sind auf der Tür ein paar schöne Symbole zu sehen und darunter schon auf Deutsch – Schuster Samwel Rafajelian. Die kleine und helle Schuhmacherwerkstatt, die auch als Museum gelten kann, gehört dem Armenier Herrn Rafajelian.

Samwel ist einer von den Wenigen, der nach seiner Flucht in Europa nicht die Hoffnung verloren hat, sondern mit großer Kraft und viel Mut all die Schwierigkeiten überwunden hat und heute ganz stolz von sich erzählt. ,,Hier in Berlin fühle ich mich überhaupt nicht fremd. Obwohl ich keine deutsche Staatsbürgerschaft besitze, habe ich fast alle Rechte wie andere auch‘‘.

Schuhe machen ist auch Kunst und braucht Geduld und Fleiß. © Shahane Khachatryan

Schuhe machen ist auch Kunst und braucht Geduld und Fleiß. © Shahane Khachatryan

Fremd gewordene Heimat

Im Jahre 1985 kam Samwel vom Militärdienst nach Hause zurück. ,,Zu dieser Zeit lebten in Baku noch viele Armenier‘‘ erzählt der Schuster. ,,Es war ein friedliches Miteinander mit den Aserbaidschanern. Aber in der Luft lag Gefahr‘‘.

„Es war für mich unmöglich in Baku zu bleiben‘‘, erzählte Samwel weiter und näht mit den groben Fingern die Schuhe. Die dunklen Erinnerungen zwingen ihn langsam und mit traurigen Augen zu erzählen. Wegen der möglichen Kriegseskalation in Berg-Karabach hatte Samwels Familie ihre Heimatstadt Baku 1989 verlassen.

Auf dem Weg in die neue Heimat ohne Adresse und Hoffnung

Samwel begann, wie andere Flüchtlinge aus Baku, die Suche nach einer neuen Heimat. ,,Wir konnten nicht mehr wählen, wohin wir fliehen möchten, sondern mussten möglichst schnell Baku verlassen. Zu der Zeit waren in Armenien auch schwierige Zeiten. Es gab Fälle, dass die aus Aserbaidschan nach Armenien geflohenen Familien nach einigen wenigen Tagen Opfer des starken Erdbebens in der Stadt Gjumri waren‘‘.

Ohne eine Fremdsprache zu sprechen, ohne Adresse und ohne Hoffnung begann seine Flucht nach Europa. Samwel wollte nicht über die Einzelheiten seines Fluchtweges nach Deutschland reden. ,,Es war hart!‘‘

Bis er den Status eines Asylanten bekommen hatte, wohnte er in einem Flüchtlingsheim. Erst in Köln, dann in Bonn und vor 12 Jahren ist er nach Berlin umgezogen.

Die Türklingel zeigt an, dass er einen Kunden hat. Als er wieder zurückkommt, um unser Gespräch fortzusetzen, fühlt man, wie stolz er selbst ist nach so großen Schwierigkeiten ein eigenes Geschäft zu haben.

Foto 1_finalAußerhalb der Gitter des Heimes

Die Vorstellungen über europäischen Wohlstand werden bei den Flüchtlingen zerstört, wenn sie ins Flüchtlingsheim kommen. Auch nach der Anerkennung des Asyls ist es schwer, eine feste Arbeit zu finden. Samwel hat in den ersten Jahren seines Aufenthalts in Deutschland überall gearbeitet. Er hat Möbel und Kühlschränke getragen, manchmal bekam er kein Geld dafür.

Der Schuhmacher Samwel spricht fließend Deutsch, obwohl er keine Sprachkurse besucht hat. Sein Geheimnis – er hat extra nur bei Deutschen gearbeitet, um die Sprache möglichst schnell zu lernen, täglich Zeitungen gelesen, wenn er auch nur einen Teil davon verstanden hatte. Nach dem Erlernen der deutschen Sprache begann er sich heimisch zu fühlen. Dann eröffnete er seine eigene Schuhmacherwerkstatt.

Und wie ist es mit der Rückkehr nach Armenien?

Samwel strahlte. ,,Ich werde mal nach Armenien zurückkehren, aber jetzt nach so vielen Schwierigkeiten möchte ich, dass meine Kinder erst einen guten Beruf erlernen‘‘.

Für viele Flüchtlinge ist es ein großes Problem, sich in einem fremden Land zu integrieren, aber noch schwerer, sich in das eigene Land zu reintegrieren. In Armenien fehlen die Mechanismen für Rückkehrer.

Und nach Baku? Baku ist für Samwel schon fremd, aber er würde gerne für einen Augenblick in dem Stadtviertel sein, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Als ich mich von Samwel verabschieden wollte, sagte er mehrmals mit großem Stolz. ,,Komm zu mir, wenn du deine Schuhe reparieren lassen möchtest. Ich werde es kostenlos machen!‘‘


Shahane Khachatryan hat armenische Philologie an der Jerewaner Staatlichen Universität studiert. In ihrer Heimatstadt Jeghegnadzor hat sie sich immer wieder mit dem Schicksal ihrer Nachbarn auseinandergesetzt, die wegen des Berg-Karabach-Konflikts nach Armenien geflohen sind – Integrationsprobleme, Verlust der Verwandten und des Eigentums, zwingende Anpassung und Migration. Nun hat sie sich das Schicksal eines nach Deutschland geflohenen Armeniers näher angeschaut.