Leichensache „unbekannt“ – Wie die Stasi die Mauertoten verschwinden ließ

Leichensache „unbekannt“ – Wie die Stasi die Mauertoten verschwinden ließ

Spät abends in West-Berlin, August 1970. Gerald Thiem torkelt nach Hause. Er gerät ins Grenzgebiet. Dann fallen 177 Schüsse. Niemand erfährt davon. Bis 1994.

Von Sophia Ahmad

Wenn Flüchtlinge an der Mauer erschossen wurden, versuchte das Ministerium für Staatssicherheit, die Todesfälle bestmöglich geheim zu halten. Die Todesumstände wurden vertuscht und die Familien belogen. Teilweise wurde sogar die Identität der Opfer komplett gelöscht. Viele Familien erfuhren erst nach dem Mauerfall, was tatsächlich mit ihren Angehörigen passiert war.

So erging es auch Gerald Thiems Töchtern. Sie erfuhren erst 1994 die Wahrheit über das Verschwinden ihres Vaters. Seine Ehefrau war bereits verstorben. In der Westpresse wurde zwar sowohl von den Schüssen als auch von Thiems Verschwinden berichtet, jedoch brachte niemand diese Vorkommnisse in Verbindung. Man ging davon aus, dass die Schüsse wegen eines Fluchtversuchs im Osten abgegeben wurden. Die Stasi nutzte dies aus, um Thiems Tod zu vertuschen. Die Leichensache wurde als unbekannt abgeschlossen und Thiems Leichnam im Krematorium Baumschulenweg eingeäschert, wo man seine Leiche dann auf dem Friedhof verstreute.

Christian Booß, Projektkoordinator der Abteilung Bildung und Forschung der Stasiunterlagenbehörde (BStU), hat anlässlich des 50. Jahrestags des Mauerbaus für die Sonderausstellung „Täuschen und Vertuschen – Die Stasi und die Mauertoten“ vier Einzelfälle recherchiert. Diese Fälle stammen aus einer mehrbändigen Sonderakte des Ministeriums für Staatssicherheit, die etwa 30 Fälle bis Mitte der Siebziger Jahre umfasst. Da die DDR in dieser Zeit begann, sich anderen Staaten anzunähern und mit der BRD 1972 den Grundlagenvertrag abschloss, war es für das Ministerium für Staatssicherheit von großer Bedeutung, die Todesfälle an der Mauer geheim zu halten, um die diplomatischen Bemühungen nicht zu behindern. Die Sonderakte enthält Dokumente über die Vertuschung der Todesfälle, wie etwa Totenscheine, Fotos der Obduktionen, aber auch Gegenstände, die die Opfer bei ihrer Flucht bei sich trugen. „Da waren Uhren, da waren Kugelschreiber, Zigaretten aus dem Westen und aus dem Osten, Geld aus dem Westen und aus dem Osten, Streichhölzer, Pfeifenstopfer, Brieftaschen, persönliche Papiere, Pässe, Arbeitspapiere, Fotos, Gebisse, Kugeln, Schnupftücher, Brillen“, so Booß.

Von diesen Gegenständen ausgehend rekonstruierte Booß anschließend die Geschichten der vier Mauertoten und sprach mit den Angehörigen. „Die Sache fängt so an, dass diese Leute, die über die Grenze gegangen sind, als Freiheitshelden stilisiert werden. Dinge wie ‚Sie starben für die Freiheit‘ stehen auf den Gedenksteinen, das wird sehr heroisiert. Je genauer man hinguckt, desto deutlicher wird: Es sind alles auch Lebensdramen, die sich im Vorfeld oder im Zuge dieser Tötung abgespielt haben. Sehr menschliche Dramen, manchmal sogar richtig hässliche Dramen.“

Im sozialistischen Menschenbild der DDR stand das Interesse der Gemeinschaft in jedem Fall über dem des Individuums. Von jedem Einzelnen wurde erwartet, den Sozialismus mit aufzubauen und zu verteidigen. Gemäß diesem, von der politischen Führung vermittelten, Menschenbild galten Flüchtlinge als Verräter der sozialistischen Idee, gegen die der Einsatz von Schusswaffen zur Verhinderung des Grenzübertrittes gerechtfertigt war. Die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen war in der Verfassung der DDR verankert und war von höchstem Interesse für den Staat. Persönliche Rechte, sogar das Recht auf Leben, wurden den Flüchtlingen von der Staatsführung abgesprochen.

Im Fall Horst Einsiedel vertuschte die Stasi nicht nur sein tatsächliches Schicksal, sondern erfand gleich zwei verschiedene Legenden, um der Familie eine plausible Erklärung für sein Verschwinden zu liefern. Tatsächlich wurde Horst Einsiedel am 15. März 1973 bei einem Fluchtversuch von einem Ostberliner Friedhof aus erschossen, auf dem sein Vater begraben war. Der Familie erzählt die Stasi jedoch zunächst, er sei einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Sie gab vor, Horst Einsiedels Trabant leer im Wald gefunden zu haben. Danach begann die Stasi, die Familie Einsiedel zu überwachen um sicherzustellen, dass sie die Legende glaubte.

Durch die Überwachung wurde festgestellt, dass Frau Einsiedel von der Legende nicht überzeugt war und sich sogar Hilfe bei Anwälten aus dem Westen suchen wollte. Um die diplomatischen Annäherungen an die BRD nicht zu behindern wurde beschlossen, Horst Einsiedels Tod zuzugeben. Diesmal erzählen die Stasibeamten seiner Frau, er sei bei einem Fluchtversuch in der Havel ertrunken. Um zu erklären, warum man Einsiedels Leichnam nicht schon früher gefunden hatte, gaben die Stasimitarbeiter an, er sei unter Wasser in einem Gitter hängen geblieben und Sie solle sich die Leiche lieber nicht ansehen, da diese bereits stark verwest sei. So brachten sie Frau Einsiedel sogar dazu, ihre Zustimmung für die Einäscherung zu geben. Einsiedel wurde im kleinen Kreis beigesetzt, nur einen Steinwurf entfernt vom Grab seines Vaters und der Stelle, an der er 3 Monate zuvor erschossen wurde.

Wurde ein Flüchtling verwundet oder getötet, wurden noch im Grenzbereich Maßnahmen zur Verschleierung des Vorfalls ergriffen. Zunächst sorgten die Soldaten dafür, dass man den Flüchtling bzw. dessen Leiche vom Westen aus nicht sehen konnte. Danach folgte ein schneller Abtransport. Auch hier wurde auf Unauffälligkeit geachtet, medizinische Hilfe gab es keine. Die Leichen getöteter Flüchtlinge wurden in die Pathologie der Charité gebracht. An jeder Station die folgte, hatte die Stasi Kontaktleute. In der Pathologie wartete bereits der Spezialist von der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, der den Pathologen zunächst die Papiere und die persönlichen Gegenstände des Toten abnahm. Die Ärzte stellten dann einen Totenschein aus, auf dem als Familienname „unbekannt“ eingetragen wurde. Diesen Totenschein brachte der Stasimitarbeiter daraufhin zum Einwohnermeldeamt am Alexanderplatz, wo der „unbekannte“ Tote registriert und eine Beerdigungsbescheinigung ausgestellt wurde. Die Leiche wurde anschließend ins Krematorium Baumschulenweg transportiert und dort eingeäschert, um die Todesursache unkenntlich zu machen. Die Asche wurde sogar gesiebt, um Kugeln, die sich eventuell noch im Körper des Toten befanden, zu entfernen. Danach war es für die Stasi von höchster Priorität, das Geschehene sowohl vor der Westpresse als auch vor den Angehörigen der Getöteten geheim zu halten. Oft wurden die Angehörigen und das Umfeld der Mauertoten von der Stasi überwacht. Man hörte ihre Telefone ab und kontrollierte ihre Post um in Erfahrung zu bringen, ob die Familien etwas von den Fluchtversuchen wussten. Um die tatsächlichen Todesumstände zu verschleiern erfand die Stasi Legenden, die sie dann den Angehörigen mitteilte. In einigen Fällen zwangen die Stasimitarbeiter Angehörige, die Legende zu bestätigen, indem sie diese selbst aufschrieben.

Manfred Gertzki versuchte am 27. April 1973 durch den Spreekanal am Reichstag zu fliehen. Der Ingenieur aus Chemnitz hatte sich eine kugelsichere Weste gebaut und fühlte sich dadurch sicher. Dennoch wurde er von den Grenzsoldaten getroffen. Allerdings ist nicht klar, ob es tatsächlich der Schuss war, der ihn tötete. Es ist durchaus möglich, dass er durch den Schuss nur verwundet wurde und erst beim Abtransport starb. „Wenn Leute in der Spree ertrunken waren, wurden sie Kiel geholt und das Boot dann so gedreht, dass man vom Westen aus nichts mehr sehen konnte“ so Booß. Möglicherweise passierte dies auch mit Gertzki und er ertrank beim Abtransport. Die Stasi fand heraus, dass Gertzki in der DDR keine nahen Verwandten hatte und sah die Möglichkeit, seinen Tod zu vertuschen. Alle Spuren seiner Existenz wurden gelöscht. Manfred Gertzkis Leichnam ließ die Stasi im Krematorium Baumschulenweg einäschern und anonym beisetzen.

Im Zuge der Recherche für die Ausstellung sprach Christian Booß mit den Familien der Mauertoten. „Unterm Stich hat keine der Familien gesagt, sie will das nicht. Es gab einige die gesagt haben, eigentlich möchten sie damit nichts mehr zu tun haben. Ihnen geht das zu nahe, sie haben damit abgeschlossen. Keiner hat mich beschimpft. Das waren die Befürchtungen meiner Kollegen, dass die Familien sich belästigt fühlen. Ganz im Gegenteil, eigentlich haben sich alle bedankt, dass ich mich dafür engagiert habe.“

Leo Lis aus Kamenz wurde am 20. September 1969 beim Versuch, die Grenze am Nordbahnhof in Berlin zu überqueren, erschossen. Ein Teil seiner Verwandten lebte bereits im Westen, dorthin wollte auch Lis. Er hinterließ eine Frau und sechs Kinder. Nach seinem Tod begann die Stasi, sein gesamtes Umfeld zu überwachen, die Post abzufangen und Stimmungsberichte anzufertigen. Eine Woche nach Lis‘ Tod informierten zwei Stasimitarbeiter, die sich als Polizisten ausgaben, seine Familie. Sie nannten jedoch die genauen Todesumstände nicht. Inzwischen hatte das Ministerium für Staatssicherheit den Leichnam einäschern lassen. Die Urne wurde der Familie übersendet und in Kamenz beigesetzt.

Die Sonderakte wurde in den Mauerschützenprozessen Anfang der Neunziger Jahre als Beweismaterial verwendet. Sie enthält Rekonstruktionen der Tötungen, Zeichnungen mit den Standorten der Schützen und der Schusskanäle und die Anzahl der Schüsse. Alles wurde sorgfältig dokumentiert und archiviert. „Ich glaube die waren stolz darauf. Und deswegen haben sie es aufgehoben und vergessen es ‘89 zu vernichten“, so Booß. Auf dem Friedhof Baumschulenweg erinnert nichts an die Mauertoten, die dort anonym beigesetzt wurden. Außerdem ist nicht klar, wo genau sich deren Gräber befinden. Einzig Chris Gueffroy, das letzte Todesopfer an der Mauer, hat ein Ehrengrab auf dem Friedhof. Die Mauertoten wurden nicht nur ihres Lebens, sondern auch ihres Grabes beraubt. Ein Freund von Manfred Gertzki, ein Bauunternehmer aus Chemnitz, plant jetzt, auf dem Friedhof ein Denkmal für ihn zu errichten.

Titelbild: „Krematorium Baumschulenweg“ von Jörg Kantel [CC BY-NC-ND 2.0]

2017-07-06T12:18:10+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen|Tags: , , , , , , , , , , |