Extinction Rebellion: Importierter Aktivismus

Extinction Rebellion: Importierter Aktivismus

Wer sich in Berlin für den Umweltschutz engagieren möchte, muss nicht lange nach Gleichgesinnten suchen. Aber auch in der deutschen Hauptstadt könnten die Londoner*innen die Nase vorn haben.

von Ludwig Jahnke und Charlotte Selbach

Der City Cube am westlichen Stadtrand von Berlin wirkt wie ein Monument der Industrie: Grau, kantig und voluminös, mit breit betoniertem Vorplatz. Er hat nichts Organisches an sich, keine Farben, keine Rundungen, keine Verzierungen. Er erscheint als die Manifestation des Urbanen und Rationalen. Außerdem ist er heute Veranstaltungsort der Mitgliedervollversammlung der Volkswagen AG. Davon zeugen regelmäßig an- und abfahrende Busse, die vollgeladen sind mit Anteilseigner*innen in geschäftlichem Aufzug. Der City Cube nimmt sie alle in sich auf. Doch seine Aura von Effizienz wird heute gestört. Es ist der 14. Mai 2019, etwa einen Monat, nachdem die Aktivist*innengruppe Extinction Rebellion (XR) in Deutschland den Beginn der “Rebellion” verkündete.

Hinter einer Absperrung, die den Vorplatz halbiert, sammeln sich seit 8 Uhr morgens Menschen, die in ihrem Auftreten unübersehbar mit den Aktionären kontrastieren. Sie tragen Freizeitkleidung, sind mit dem Fahrrad oder der S-Bahn angekommen und tragen hier und da sogar Babys auf dem Arm. Es wehen Wimpel und die Menge läuft unorganisiert durcheinander, während vor dem Gebäude noch Kabel verlegt werden. Die Schriftzüge auf den Bannern geben Aufschluss über die Meinung der Demonstrant*innen: “VW sind Klimaverbrecher.” Aufgemischt wird die Versammlung durch die Ankunft eines Fahrradkorsos: Drei Dutzend Radfahrer*innen biegen auf den Vorplatz ein, begleitet von treibender Elektromusik und den Worten des nun endlich verkabelten und nun mikrofonverstärkten Organisators: “Hier kommen unsere Freunde von der Critical Mass.”

Unter den nunmehr hundert Leuten sind neben Mitgliedern dieser friedlichen Berliner Fahrraddemo auch Klimaaktivist*innen von den Organisationen ethecon, Robin Wood und Extinction Rebellion vor Ort. Die Logos zieren farbenprächtig die entsprechenden Plakate und Fahnen. Als „Joint Action“ wurde der Termin im XR-Newsletter betitelt, die Aktivist*innen kennen sich untereinander. Ein Sprecher von ethecon kommt als Erster zu Wort und überreicht VW den „Black Planet Award“, der sich als Negativpreis offenbart. VW sei von den Nazis finanziert worden und betreibe heutzutage den totalen Krieg gegen Klima und Arbeitsethik. Neben dem Wortführer steht die Skulptur eines ölübergossenen Planet Erde, befestigt auf einem Podest: der Preis. Es melden sich noch andere zu Wort, unter Musikbegleitung geht der Protest weiter.

“Bitte jetzt sterben!”

Jetzt übernimmt XR die Zügel: Ein Absperrband wird um die Demonstrant*innen gelegt, climate crime heißt es auf dem signalgelbfarbenen Band in regelmäßigen Abständen. Das Mikrofon beordert alle Sterbenden in den markierten Kreis: “Bitte jetzt sterben!”, heißt es, während die Aktivist*innen zu Boden gehen, frappierend leblos übereinander purzeln und lediglich die Wimpel in den erstarrten Händen noch gut sichtbar zum Himmel recken. Die Musik verstummt. Gestalten in weißen Overalls – das handschriftliche “SpuSi” auf dem Rücken gibt sie als Imitator*innen der Spurensicherung zu erkennen – steigen über die Sterbenden und sammeln Proben in kleinen Tüten. Ein junger Mann in Hut und Trenchcoat eines Kommissars konkludiert nach einiger Beobachtung überzeugt: “VW hat diese Menschen auf dem Gewissen – wieder ein grausames Klimaverbrechen!” Für diese sogenannten Die-Ins ist XR berühmt.

Eine Barriere: Auf der einen Seite ein Mitarbeiter von VW und die Polizei, auf der anderen Seite die Demonstranten mit den XR-Wimpeln. Foto: Ludwig Jahnke

Der Protest wird durch den ersten Redner unter Dankesworten und Applaus aufgelöst. Die Menge zieht zum S-Bahnhof, die Fahrradfahrer*innen rauschen los. Doch XR hat noch andere Pläne. Am Ende der Absperrung befindet sich die Ausfahrt für die Busse – ein großer LKW bereitet sich darauf vor, die Schranke zu passieren. Etwa die Hälfte der Aktivist*innen ist bereit, ein weiteres Mal zu sterben und wenige Zentimeter vor den Rädern des LKWs leblose Augen zu mimen. Die Polizei macht sich jetzt mit einem großen Einsatzwagen stärker bemerkbar, bleibt aber entspannt und wartet geduldig die Wiederauferstehung ab. Nach diesem letzten Crescendo ist der Trubel endgültig vorbei.

2,9 Millionen Rebell*innen­ – gerne mehr, nicht weniger

Extinction Rebellion pflegt den gewaltfreien zivilen Ungehorsam und hat sich drei Forderungen verschrieben: Der Anerkennung des Klima-Notstandes durch die Regierungen der Welt. Treibhausgasemissionen umgehend auf Netto-Null zu reduzieren. Bei der Ausarbeitung dieser Ziele die Prinzipien der partizipatorischen Demokratie anzuwenden. Jeder dieser Punkte besitzt weitere Nebenziele, die zentral auf der Homepage kommuniziert werden: “Wir sind uns darüber im Klaren, dass diese Forderungen notwendige, erhebliche Veränderungen unserer Lebensstile und -standards sowie des vorherrschenden Systems bedeuten”. Zunächst hat es XR auf 2,9 Millionen Deutsche abgesehen. “Das Notwendige” wird dieser Anteil genannt. Es sind die 3,5 Prozent der Bevölkerung, die “nötig sind, um Systemveränderungen durchzusetzen”. XR kennt die Mechanismen einer sozialen Bewegung gut, ihr Vorgehen, ihre Pläne sind wissenschaftlich fundiert. Nicht nur neue Daten zum Klimawandel werden auf den Symposien regelmäßig verbreitet, auch Techniken des gewaltfreien Widerstandes werden eingeübt und berufen sich auf Fachliteratur: Why Civil Resistance Works (Chanoweth et al., 2011) wird von XR-Organisatoren zitiert, wenn Neulinge eingeweiht werden. Immer gilt es, vor allem aber wenn verhaftet wird, gewaltfrei in Sprache und Aktion zu sein. In der Öffentlichkeit scheint so die Reaktion der Behörden auf Proteste und Blockaden negativ zurück auf die Beamt*innen: “Sympathie entwickeln durch Backlash”, ist das Motto.

Gandhi und King haben es vorgemacht

Die Ursprünge der Demonstrationstaktik des zivilen Ungehorsams sind tief in der Geschichte verwurzelt. Historische Persönlichkeiten wie Mahatma Ghandi und Martin Luther King Jr. haben ihr Lebenswerk dem Prinzip des gewaltfreien Widerstandes gewidmet und damit Monumentales erreicht: Die Aufhebung der Rassentrennung in den USA und die Unabhängigkeit Indiens. Noch heute inspirieren sie eine neue Generation von Widerständigen. Im zivilen Ungehorsam wird das höhere Gut des Rechtsgehorsams anerkannt und Verhaftungen im Laufe von Protestaktionen rechtmäßig in Kauf genommen. Auf diese Weise kann das Individuum seinem Protest intensiven Ausdruck verleihen ohne einen strafrechtlichen Verstoß zu begehen. Manchmal geht es nicht gegen das System als Ganzes, sondern um mangelhafte Teilbereiche. Gewaltfreie Aktivitäten umfassen Boykotte, Streike, Proteste und organisierte Nichtkooperation. In Why Civil Resistance Works von Erika Chanoweth wird die Studie Nonviolent and Violent Campaigns and Outcomes (NAVCO) zitiert, welche untersucht, wie die Anzahl sowie der Erfolg gewaltfreier Widerstände weltweit zunehmen, während Erfolge gewaltsamer Proteste seltener werden. Gewaltfreie Demonstrationsformen verzeichnen geringere Teilnahmebarrieren aufgrund der niedrigen moralischen, physischen und informellen Hürden, die sie für die breite Masse Menschen darstellen. Mehr Zulauf und Anerkennung durch Außenstehende sind das Ergebnis.

So war es auch im Mai 2018, als die XR-Bewegung in Großbritannien begann. Zunächst unter dem Namen Rising Up! verständigten sich die Gründer Roger Hallam, Gail Bradbrook und Simon Bramwell über die Richtung des neu erwachten Artenschutzbedürfnisses und versammelten Unterstützer*innen unter dem Symbol der Sanduhr, die als Hinweis auf die ablaufende Zeit aussterbender Arten die Fahnen von Extinction Rebellion ziert. Durch Blockaden mehrerer Londoner Verkehrsadern, darunter der großen Brücken über die Themse, gerieten die Rebell*innen schnell in die Schlagzeilen. Mitunter hagelte es aber auch scharfe Kritik, da manche ungehalten auf die Staus und Blockaden reagierten. Laut Guardian gab es allein am 7. November, dem ersten “Rebellion Day”, 85 Verhaftungen. Am 1. Mai 2019 feierte eine gemeinsame Demonstration von der Bewegung Momentum, den Schüleraktivist*innen von School Strike for Climate und XR einen ersten Erfolg mit der partiellen Erfüllung ihrer ersten Forderung: Das britische Parlament votierte ohne Gegenstimmen für den Ausruf des Klimanotstandes. Dieser Beschluss ist zwar nicht bindend für die Regierung, wurde jedoch unter anderen auch von der bekannten Klimaaktivistin Greta Thunberg als “hoffnungsvoll” bezeichnet. “Andere Nationen müssen jetzt folgen”, waren sich Thunberg und XR einig und besonders in Frankreich und nun auch in Deutschland häufen sich Aktionen der XR.

Eine ausgeschmückte Flagge von Extinction Rebellion. Das Logo der Sanduhr ist mit echtem Gras beklebt. Foto: Ludwig Jahnke

Die Berliner geben sich nicht naiv

“Wir sind bis jetzt nur auf der Ebene der schönen Worte”, kommentiert Daniel bei einem Treffen der XR-Neuzugänge am 7. Mai in Kreuzberg. Er selbst ist schon seit November dabei und verantwortlich für die Einführung der Ankömmlinge. Dabei lebt XR eine absolute Willkommenskultur: “Wer hinter den Regeln steht, kann sich als Mitglied betrachten.” Mitmachen kann man durch Lauschen der vielzähligen Kommunikationskanäle, über Facebook, die Homepage, Newsletter oder private Mails. Wer tiefer in die Organisation eindringen möchte, kann sich auf einem XR-Café-Treffen nach dem Kennenlernen in eine Liste eintragen und auf der Plattform Mattermost dem täglichen Buschfunk beiwohnen. Die erfahrene Französin Virgo liefert hier tägliche Updates – was passiert, wann und wo, werden noch Hände gebraucht. In Frankreich sei XR mit Vereinsstrukturen bereits besser organisiert, erklärt Virgo, hier in Berlin gebe es “viele motivierte Menschen”, aber es sei noch zu “chaotisch”. Man müsse es ruhiger angehen lassen. Viele sind durch die Blockade der Oberbaumbrücke in Friedrichshain am 15. April 2019 auf XR aufmerksam geworden, eine der ersten großen Aktionen in Berlin. Aus spontanem Mitmachen ist bei ihnen nun handfeste Überzeugung geworden. 562 Organisator*innen zählt die Ortsgruppe Berlin derzeit und Virgos tägliche Stellenausschreibungen lassen weiterhin großen Mangel vermuten. Zwar predigen beide, man solle “sich nicht verheizen”, aber die Emotionalität des Themas ist für viele momentan sehr mitreißend. XR versucht mit diesen Gefühlen konstruktiv umzugehen. Bei den Plenen zum Beispiel gibt es keine Mehrheitsentscheide: Jeder Vorschlag, der keine Gegenstimme erfährt, wird sofort angenommen, alles andere wird diskutiert. Wie ist das möglich? XR sei “nicht hier, um Antworten zu geben”, erklärt Daniel, vielmehr um “aufzurütteln und Forderungen zu stellen”. Dass es viel um Momentum und wenig um Inhalte geht, wird bei Nachfragen zur Atomkraft, zu Elektroautos und zur Politik deutlich. XR-Deutschland beschäftigt sich (noch) nicht mit den Feinheiten der Revolution, lediglich die allgemeine Überzeugung, “sich nicht vor den Karren spannen zu lassen”, ist Gewissheit. Und dabei geht es auch um die Grünen. Florian, ebenfalls aus Frankreich, rät zumindest in seinem Heimatland davon ab, mit den Grünen zu kooperieren: “Denn die Grünen arbeiten im existierenden System, was vergeudete Mühe ist.” Man merkt, dass auch die dritte Forderung der Rebellion, jene nach einem grundlegenden Systemwandel, bei allem Tun mitschwingt.

Es sind diese kleinen Hinwendungen zu einem radikaleren Klimaschutz, welche XR für viele so interessant macht und von anderen Organisationen abhebt: “Nein, marschieren ist nicht genug. Die Machtträger interessieren sich nicht dafür”, kommentiert Florian. Die Fridays for Future kämpfen seit ihrem Beginn gegen die Geringschätzung durch Politiker wie Christian Lindner, der Klimaschutz auf Twitter als eine “Sache für Profis” bezeichnen. Doch im XR-Café sitzen über 50 Menschen, welche auch den FFFs beigewohnt haben. Links Armin, früher im Bund Naturschutz und Umwelt (BUND), rechts Caroline, seit Jahrzehnten aktiv im Naturschutzbund Deutschland (NABU), später lernen sie den Waldschützer Manuel von Robin Wood und Anabel von ethecon kennen. Es sind allesamt Profis, die hier einen Gemeinsinn gefunden zu haben glauben, der weiter geht, als das Bisherige. XR will radikaler sein, nicht nur mit dem Rad durch Berlin fahren.

Mehr kann auch weniger sein

Der Black Planet Award, den VW unrühmlich von ethecon überreicht bekommen hat, ist an vier Namen adressiert: die Führungsspitze des Unternehmens. Derlei ist XR fremd. “Wir leben alle in demselben toxischen System, doch daran ist keine einzelne Person schuld”, heißt es in ihrer Selbstbeschreibung. Diese Einstellung hat sich auch vor dem City Cube gezeigt: Die lautstarken “Nazi”-Rufe in Richtung der VW-Aktionäre ignorierend, suchten sich die Leute von XR lieber einen Lkw, den sie behindern konnten, bis die Polizei eintraf. Die Beamt*innen sind in der Regel entspannt, denn der Großteil der Rebell*innen hat ein Widerstandstraining besucht und weiß, wie man sich friedlich zu verhalten hat. Dafür sorgen auch die sogenannten Blauwesten, extra von XR bereitgestellte Konfliktvermittler*innen, die eine blaue Taube auf der Weste tragen und sich nicht mit-totstellen. Sie sollen die Kommunikation vor Ort erleichtern, die Situation auflockern, “schließlich sitzen die Beamten doch im selben Boot”. Verletzte, Gewalt und Brände, wie sie zum Teil während der Proteste im Hambacher Forst oder auf dem G20-Gipfel in Hamburg dokumentiert wurden, sind unerwünscht: Bei XR-Berlin regelt den Rechtsbeistand bislang nur ein ehrenamtlicher Jurist, vom Bearbeiten der Fingerkuppen, ansonsten beliebt unter Aktivist*innen, wird abgeraten.

Polizist*innen machen sich bereit, die Blockade von XR vor einem Laster aufzulösen. Foto: Ludwig Jahnke

Die Polizei hat nichtsdestotrotz ihr Aufgebot bei XR-Aktionen seit dem Protest vor dem City Cube erhöht. Wie deren Pressestelle mitteilte, waren 120 Polizist*innen in Standardausstattung am 14. Juni mit der Überwachung von etwa 500 Protestierenden betraut, die bei der neuesten Aktion vor dem Alexa am Alexanderplatz auf der mehrspurigen Grunerstraße eine Menschenkette bildeten. Die Zahlen machen deutlich, dass eine Brückenblockade mit 6.000 Berliner*innen, die es den Londoner*innen nachmachen, noch in weiter Ferne liegt. Es gab keine Verhaftungen, alles blieb im Rahmen des Versammlungsrechts. Das soll aber nicht so bleiben, denn momentan holt XR Luft, sortiert sich nach den ersten Rebellion Days in Deutschland neu und plant für den heißen Sommer. Der neuste Newsletter kündigt bereits an, am 7. Oktober starte die nächste Welle der Rebellion. Dann sollen groß koordinierte Aktionen europa- und weltweit stattfinden, auch solo, aber vor allem in Zusammenarbeit. Eine davon ist der Earth Strike am 27. September, der bisher größten geplanten Klima-Protestaktion, mit sechs kooperierenden Bewegungen. Und auch die Verhaftungen sollen dann kommen. “Jeder kann für sich selbst entscheiden, ob er freiwillig verhaftet werden möchte”, formuliert es Virgo schmunzelnd.

 


Ludwig Jahnke studiert Film- und Kommunikationswissenschaft. Mit dieser Kombination möchte er später über Kultur und insbesondere Film publizieren. Als Berliner und begeisterter Radfahrer schließt er sich auch häufiger der Critical Mass an.



Charlotte Selbach studiert Filmwissenschaft und Publizistik. Neben dem Studium ist sie an der Produktion von Kurzfilmen beteiligt. Nachdem sie neun Monate lang im indonesischen Jakarta gelebt und gearbeitet hat, beschäftigt sie sich gerne mit Klimaaktivismus.