Geisteswissenschaft – Und was willst du später mal damit machen?

Geisteswissenschaft – Und was willst du später mal damit machen?

In Teilen der Gesellschaft herrscht immer noch der Glaube vor, Geisteswissenschaften seien eine brotlose Kunst. Tatsächlich existieren aber auch für Geisteswissenschaftler viele Möglichkeiten sich beruflich erfolgreich einzubringen. Wir haben uns in Berlin für Euch umgehört.

von Julia Lindemann und David Lang

„Ich fühle mich immer gezwungen was zu sagen und wenn ich dann wieder das runtererzähle, was in der Studienbeschreibung steht, sind die meisten noch nicht zufrieden.“ Dieser Satz fiel im Workshop zum Thema „Was macht man denn damit? – Berufliche Standortbestimmung und Profilentwicklung“, der vom Career Service der Freien Universität angeboten wurde und gut besucht war. Der Titel scheint viele anzusprechen. Es sind Studierende der Arabistik, Kunstgeschichte, Ägyptologie und Turkologie da. Sie alle sind sich einig: Auf die Frage „Was willst du damit machen?“ wissen die meisten nichts Genaues zu antworten. Eine Teilnehmerin fühlt sich gezwungen eine gute Antwort zu geben, andere haben die Beantwortung ganz aufgegeben. Liegt es an fehlenden Perspektiven? Oder vielleicht doch an den unzähligen Möglichkeiten, die die Geisteswissenschaften so attraktiv machen?

Planlos geht der Plan los

„Als ich angefangen habe zu studieren, habe ich mir noch nicht so wirklich Gedanken darüber gemacht, was ich später nach dem Studium mal machen will. Das kam dann im Laufe der Zeit, aber ganz sicher bin ich mir noch nicht.“ So wie Anouk Kopps, einer 22-Jährigen Studentin der Sozial- und Kulturanthropologie an der FU, geht es vielen Studierenden aus geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fächern. Auch Anna Degler, Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Instituts der FU war in der Vergangenheit mit diesem Problem konfrontiert. Sie wurde oft nach dem Zweck ihres Studiums gefragt: „Oft. Gerade wenn man Kunstgeschichte studiert oft, auch im Familienkreis und ich habe darauf ganz lange für mich selbst keine Antwort gehabt. Ich habe dann immer brav referiert, was es denn für Möglichkeiten gäbe und manchmal auch, je nachdem wer gefragt hat, in schillernden Farben ausgemalt: ‚Ich könnte im Museum arbeiten, ich könnte Journalistin werden!‘, ohne genau zu wissen ob dem so ist.“

Wer sind die Geisteswissenschaftler?

Zwar machen die Geisteswissenschaftler im Wintersemester 2018/19 mit insgesamt etwa 240.000 Studenten nach wie vor nur einen kleinen Teil der momentan in Deutschland fast 3 Mio. eingeschriebenen Studierenden aus, vor allem im Vergleich zu den eine Million Immatrikulierten in Wirtschaft und Recht. Dennoch steigt ihre Zahl ständig. Zu den Geisteswissenschaften zählen neben Theologie, Sprach- und Literaturwissenschaften, Philosophie, der Geschichtswissenschaft mit all ihren Unterdisziplinen auch ferner die Fächer aus den Politik- und Sozialwissenschaften, sowie Pädagogik und Erziehungswissenschaften.

Es scheint, als ob viele Studierende dieser Fachbereiche beruflich planlos in das Studienleben starten. Den Workshop mit dem passenden Titel gibt es schließlich nicht ohne Grund. Viele sind unsicher, was ihre Möglichkeiten sind. Und die Zahlen des Arbeitsmarktes scheinen zunächst gegen ihre Wahl zu sprechen.

Anna Degler auf die Frage, welche Vorurteile ihr entgegengebracht wurden. Foto: Pixabay edited by Julia Lindemann

Die Zahlen sprechen für sich

Wer etwa erfährt, dass bei der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2014 deutschlandweit nur 800 Stellen explizit für Geisteswissenschaftler ausgeschrieben waren, kriegt schnell einen Schreck.  Anouk Kopps meint: „Also wahrscheinlich werde ich noch einige Praktika machen müssen […] Zusätzlich habe ich überlegt, nach dem Studium noch eine Ausbildung zu machen. Ich habe das Gefühl, dass man nach dem Studium nichts so richtig in der Hand hat. Abgesehen von dem sicherlich interessanten theoretischen Fachwissen.“

Tatsächlich sind laut dem Bericht „Blickpunkt Arbeitsmarkt“ der Bundesagentur für Arbeit vom Mai 2018 13% der Master Absolventen und sogar 30% der Bachelor-Absolventen „inadäquat“ beschäftigt. Über 21% der Absolventen sind „zwangsselbstständig”, nur 6000 Stellen gibt es in der geisteswissenschaftlichen Forschung und rund 176.000 Erwerbstätige mit akademischem Abschluss in einer Geisteswissenschaft arbeiten komplett fachfremd, etwa in der IT-Branche. Hier muss kurz erwähnt werden, dass den verschiedenen Studien unterschiedlich breite Definitionen des Wortes “Geisteswissenschaft” zu Grunde liegen und die Daten dementsprechend teilweise widersprüchlich sind.

Einstiegsschwierigkeiten

Ein Jahr nach Abschluss des Studiums hatten 2017 laut academics.de nur 14% der Absolventen eine feste und unbefristete Vollzeitanstellung. Der Grund dafür ist, dass viele Stellen im öffentlichen Dienst oder im Kulturbereich, wo Geisteswissenschaftler in der Regel tätig sind, mit Fördermitteln finanziert werden, die oft nur für begrenzte Zeit verfügbar sind. Vielfach müssen sich Geisteswissenschaftler nach Abschluss ihres Studiums zunächst einmal mit schlecht oder sogar unbezahlten Praktika über Wasser halten, um die nötige Praxiserfahrung zu sammeln.

Das Einstiegsgehalt für Geisteswissenschaftler liegt laut einer Studie der Website gehalt.de nach dem Bachelor Abschluss mit durchschnittlich 30.000 Euro deutlich niedriger als das von Berufseinsteigern in den Bereichen Maschinenbau oder Elektrotechnik. Mit einem Masterabschluss oder Doktortitel kann das Einstiegseinkommen auf durchschnittlich 33.000 Euro beziehungsweise ca. 38.000 Euro gesteigert werden. Besonders attraktiv klingt das für Akademiker nicht.

Bei der Bezahlung insbesondere von Praktikas gibt es oft nicht verbindliche Leitfäden, an die sich viele Unternehmen erst gar nicht halten. Auch der Andrang auf die wenigen verfügbaren Plätze ist oft sehr groß. So bewerben sich z.B. am Deutschen Historischen Museum in Berlin in der Regel etwa 200 Personen auf die sieben verfügbaren Volontariatsplätze. Vielen Geisteswissenschaftlern gelingt es vor allem zu Beginn ihrer Berufskarriere also nicht, eine dauerhafte feste Anstellung zu ergattern. Insgesamt hatten ein Jahr nach Abschluss nur 60% der Absolventen eines Geisteswissenschaftlichen Fachs eine feste, befristete Anstellung. Tappen Studierende in eine Falle der Perspektivlosigkeit? Oder muss man nur aus dem richtigen Holz geschnitzt sein, um dennoch den geisteswissenschaftlichen Weg einzuschlagen?

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht!“, sagt Anna Degler lachend. „Ob wir vielleicht alle hoffnungslose Idealisten sind. Das klingt so exklusiv, das finde ich komisch. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass man echt brennen muss für eine Sache um da dran zu bleiben. […] Deswegen würde ich nie sagen: ‚Nein, Sie können keine Geisteswissenschaft studieren, denn Sie sind nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt.‘“

Die Erfahrung sagt mehr

Die Zahlen sprechen, doch die Erfahrungen sagen mehr. Im Workshop des Career Service werden den Studierenden die Vorzüge der Geisteswissenschaften nähergebracht. Vielseitigkeit und intrinsische Motive spielen da eine große Rolle. Nicht das Holz ist entscheidend, sondern die Motivation.

Traumjob Museum? Foto: Pixabay

Genau das ist auch bezeichnend für die Geisteswissenschaften: Vielseitigkeit. Das ist das, was die Absolventen für den Arbeitsmarkt so attraktiv macht. „Vielleicht wissen die Leute in vielen Branchen noch gar nicht, dass sie uns brauchen und dass es sich lohnt Geisteswissenschaftler einzustellen. Vielleicht gibt es hier noch den Bedarf die Firmenchefs über alles zu informieren, was wir so drauf haben.“ überlegt Anouk Kopps. Diese Überlegung entspricht zweifellos der Realität. Auch wenn die Zahlen eine „inadäquate“ Beschäftigung für einige versprechen, heißt das nicht zwangsläufig Unzufriedenheit. Insgesamt sehen sich nämlich nur 11% der Berufstätigen Geisteswissenschaftler als unter ihrem Niveau beschäftigt. „Ich habe mir natürlich Gedanken darüber gemacht, ob es sowas wie eine Geisteswissenschaftliche Falle gibt. […] Ich würde sagen es gibt, von allen mit denen ich studiert habe, zwar einige die zwischenzeitlich unglücklich waren und sich in einer blöden Situation gefühlt haben, vor allem auf Jobsuche nach dem Magisterabschluss, aber alle sind inzwischen sehr gut untergekommen. Bei manchen hat es zwar ein bisschen länger gedauert, aber alle haben wirklich gute Jobs gefunden.“, erinnert sich Anna Degler an die Zeit nach ihrem Magister und denkt dabei an die Situationen in ihrem Bekanntenkreis.

Die intrinsische Motivation

Ohnehin kommt es den meisten nicht in erster Linie auf eine steile Karriere und viel Geld an. Das sieht auch Anouk Kopps so: „Mir war klar, dass ich vermutlich weniger verdienen werde als Freunde aus anderen Fachbereichen. Ich habe mich aber aufgrund von meinem Interesse und meinen Fähigkeiten – bzw. mangelnden Fähigkeiten in MINT-Fächern [lacht], dennoch für ein geisteswissenschaftliches Studium entschieden.“  Die inneren Motive und das eigene Brennen für das Fach sind meist eine stärkere Motivation als die Gehaltsvorstellungen. Klare Karrierepläne sind deshalb selten. „Mit 35 will ich da und da sein und dies und das machen. Ich hingegen habe immer eher gedacht: Jetzt mach ich dies oder jenes. Damit habe ich mich dann auch wohl gefühlt. Es ist wahrscheinlich schon eine Frage der Einstellung. Alle Leute, die eine Geisteswissenschaft studieren – das würde ich zumindest annehmen – sind wahrscheinlich schon Leute die keine Ansprüche haben wie: Ich will so und so viel Geld verdienen oder dieses oder jenes in einem bestimmten Alter schon erreicht haben. Vielleicht ist das auch eine andere Haltung. Eben weil man aus anderen, aus intrinsischen Motiven heraus studiert. Das könnte ich mir vorstellen.“, sinniert Anna Degler über die Haltung der Geisteswissenschaft gegenüber.

“Es gibt viele Möglichkeiten, wenn man sie denn wahrnimmt”

Im Workshop „Was willst du damit machen“ trägt die Gruppe Stärken der Geisteswissenschaft außerhalb der Fachkompetenzen zusammen. Oft fällt das Wort „Eigeninitiative“ und „Selbstorganisation“. „Ob das eine Stärke ist weiß ich nicht.“ sagt Anna Degler über die „Eigeninitiative“, die man im Studium an den Tag legen muss. „Man kann da natürlich unter die Räder kommen.“, findet Anna Degler. Sie meint damit, dass Eigeninitiative und Selbstorganisation sowohl kompetenzfördernd aber auch stressig sein können.  „Wenn einem was Spaß macht, kann viel entstehen. Um ein selbstständiger Mensch zu werden ist es gut, wenn man geht und nachfragt: ‚Kann ich mal ein Praktikum machen?‘. Es gibt die Möglichkeiten, wenn man sie denn wahrnimmt, etwas schnell zu lernen und parallel viele Sachen zu machen.“ Im Studium der besagten Fachrichtungen ist es wichtig, sich selbst zu organisieren und denen, die das können stehen am Ende viele Möglichkeiten offen.

Unsicherheit gleich Freiheit?

„Ich glaube, dass es Sinn hat sich nicht zu sehr auf die Inhalte, die konkret im Studium behandelt worden sind zu versteifen. Interdisziplinäre Ansätze scheinen mir deshalb sehr erfolgversprechend. Man sollte wohl auf dem Arbeitsmarkt auch die Augen nach Stellen offenhalten, die vielleicht nur eine Teilüberschneidung mit dem eigenen Studienfach haben.“, meint Anouk Kopps. Und damit liegt sie genau richtig.

Auch die Workshopgruppe, die an der persönlichen Profilschärfung arbeitet, kommt darauf: Man muss sich darauf einstellen, die während des Studiums erworbenen Softskills vermehrt beim Arbeiten einzubringen, ohne sich auf seine Fachkompetenz zu beschränken. Denn so wie Frau Degler, die in der Forschung tätig ist, geht es nicht allen. „Ich glaube eher, wenn ich mich umschaue, dass ich sogar einen Job habe, in dem ich mich sehr sehr sicher fühle im Vergleich zum Beispiel zu einer Freundin, die in einem sehr großen Verlagshaus Journalistin ist und quasi wöchentlich Angst hat das ihr gekündigt wird. […] Fachfremd? Gar nicht. Ich sehe mich da überhaupt nicht repräsentiert. Ich arbeite mitten im Fach und bin sehr zufrieden.“ sagt Anna Degler und klingt wirklich glücklich.

Nicht jeder Geisteswissenschaftler möchte in die Forschung

Im Workshop soll jeder an seinen Traumjob denken. Beim gemeinsamen Besprechen dieser kommt heraus: Soviel Traum steckt nicht immer darin. Vieles ist erreichbar und auch hier wird wieder klar: die Studierenden müssen sich bewusster werden was alles geht und die Unsicherheiten des Bachelor-Anfangs als Freiheit betrachten. „Ich habe mich darin immer sehr aufgehoben gefühlt. Ich habe immer das Gefühl gehabt, das ist so ein Freiraum, in dem man vielleicht auch mal scheitern kann. Das finde ich auch sehr schade, dass diese Vorstellung, dass man vielleicht auch mal scheitern kann heute so nicht mehr propagiert wird.“, findet Anna Degler. Das Scheitern um des Fortschritts Willen. So sieht die Kunsthistorikerin Rückschläge, die einen jedoch immer voran bringen können und neue Stärken hervorbringen.

Die Flipcharts im Workshop sind vollgeschrieben und die Studierenden mit Antworten, aber auch neuen Fragen zur Zukunft gefüttert. Schlussendlich nehmen sie mit, dass Selbstreflexion eine wichtige Sache ist. Sie sollen sich bewusst werden was sie im Berufsleben wollen und brauchen und demnach auch ihre Bildung ausrichten. Denn Fakt ist: in der Fragerunde, was allen wichtig ist für den Job, antwortet niemand: Karriere und Geld.

Der Optimismus bleibt, zu Recht

Nicht nur die pessimistischen Daten sprechen für sich. Es gibt auch durchaus Positives: die Zahl der arbeitslosen Geisteswissenschaftler ist in den Jahren zwischen 2005 und 2015 insgesamt um 40% gesunken. Im Jahr 2017 waren insgesamt nur 3.400 Geisteswissenschaftler ohne Anstellung. Viele Möglichkeiten ergeben sich heute im Bildungswesen. Dort waren 2016 106.000 angestellt. Im öffentlichen Dienst waren weitere 21.000 Stellen von Absolventinnen und Absolventen einer Geisteswissenschaft besetzt. Dies deutet die Entwicklung an, die sich momentan auf dem Arbeitsmarkt abzeichnet. Mehr und mehr Unternehmen erkennen den Wert der Allrounder und diese bringen sich erfolgreich im Arbeitsleben ein. Trotz der Schwierigkeiten beim Berufseinstieg und den zu überwindenden Hürden bleiben die meisten Geisteswissenschaftler Idealisten und lassen sich nicht so einfach unterkriegen. Anouk Kopps antwortet auf die Frage, ob sie, wenn sie nochmal im 1. Semester wäre, stattdessen ein anderes Fach studieren würde, lässig grinsend: „Nein das würde ich nicht. Ich bin nach wie vor von meiner Studienwahl überzeugt.“ Auch Anna Degler antwortet auf die Frage, ob sie alles nochmal genauso machen würde: „Ich glaube schon, auf jeden Fall.“ Und lacht.

 

 


Julia Lindemann studiert Kunstgeschichte und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im 5. Semester. Sie freut sich schon auf ihre Zukunft in der Kunstgeschichte, speziell in der Denkmalpflege.


David Lang studiert Geschichte sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im 7. Fachsemester an der Freien Universität Berlin. Sein Ziel ist es, relevante Thematiken aus der Geschichte in verständlicher Form aufzuarbeiten.