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Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung oder
Mehr Tiefgang für die Ethnografie

Teil 1: Das Vorwort

Im Verlauf der letzten Wochen vor dem Verfassen dieses Textes bin ich – im Zusammenhang mit meinem Forschungsprojekt (Exposé und Zwischenbericht) – in die Lektüre von Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung eingestiegen. Einer der Gründe für diesen späten Einstieg in einen solchen grundlegenden Text (die Hälfte der Laufzeit meines Promotionsstipendiums am Graduiertenkolleg ist zu diesem Zeitpunkt bereits um…) ist wahrscheinlich die lange Zeitspanne, die es braucht, bis die Arbeit in einem interdisziplinären Zusammenhang wie dem Kolleg die Wälle zwischen den Disziplinen erodieren kann. Der große Vorteil dieser Erosion ist der weite Blick, den man erhält. Es eröffnen sich neue Horizonte. Der große Nachteil ist die Schutzlosigkeit. Man ist mehr Böen ausgesetzt – wenn es sehr schlecht läuft, auch dem Feuer der noch in disziplinären Gräben hockenden Wächter, die einem das Leben schwermachen. Hier soll daran gearbeitet werden, dass frische Winde auch noch diese Gräben mit Staub füllen.

Autor: Lars Frers (2004)

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Inhalt

In diesem Text möchte ich nachzeichnen, wie sich die kürzlich beendete Lektüre der Einleitung zu Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung für mich dargestellt hat. Wahrnehmung ist für mich als ethnografisch arbeitenden Soziologen Passion und Instrument zugleich. Für Merleau-Ponty ist sie nicht weniger als die Grundlegung der Philosophie, des Denkens und des Handelns. In der aktuelleren Wisschenschaftsphilosophie und -soziologie haben Positionen an Bedeutung gewonnen, die sich jenseits der klassischen Dichotomien von Subjekt und Objekt, von Denken und Handeln oder Verhalten, von sozialer und mentaler Konstruktion und harten Fakten verorten und die in Bruno Latour ihren wahrscheinlich prominentesten Vertreter haben. Für mich war es eine Entdeckung, zu lesen, wie Merleau-Ponty in der Einleitung seine Kritik sowohl des Empirismus als auch des Intellektualismus aufbaut. Es geht ihm weniger darum, die Vorteile dieser beiden etablierten philosophischen Positionen gegeneinander auszuspielen, als ihre Aporien, ihre Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit aufzuzeigen und, aufbauend auf Erkenntnissen von Schütz und Husserl, die Philosophie auf eine andere Grundlage zu stellen. Eine Grundlage, die vertraut und dadurch fest, zugleich aber denkbar verletzlich und antastbar sei: den eigenen Leib, seine Wahrnehmung und das alltägliche Handeln in der Lebenswelt. Weder im Verstand noch in den Dingen liegen für ihn die wahren Grundlagen von Philosophie und Wissenschaft, sie werden vielmehr in den konkreten Erfahrungen und in konkreten Handlungszusammenhängen etabliert – diese Orientierung am Alltagshandeln und den dort etablierten Sinnzusammenhängen teilt die Phänomenologie mit ethnomethodologischen Ansätzen in der Soziologie, die auch für meine Arbeit von großer Bedeutung sind.

Im Folgenden will ich im Durchgang durch die einleitenden Kapitel vor allem anhand von längeren Zitaten die Argumentation Merleau-Pontys zugänglich machen und aus meiner Position beschreiben, was für Perspektiven sie eröffnet. Dies bedeutet, dass ich zugunsten von Stellen, die für sozialwissenschaftliche Theoriebildung und sozialwissenschaftliches Handeln von besonderer Bedeutung sind, einige wichtige aber vor allem für die Philosophie als solche bedeutsame Argumentationsstränge ausblenden werde.

Wider das Denken ohne Welt

In den Geistes- und Sozialwissenschaften scheint es eine ständige Versuchung zu geben, das Subjekt vor allem als denkendes zu präsentieren. Der Ursprung allen Wissens von der Welt, im Extremfall sogar der Ursprung der Welt selbst, wird im Geist gesehen. Einer solchen Entkörperlichung, oder Entleibung des Denkens stellt sich Merleau-Ponty entgegen:

Die Welt ist da, vor aller Analyse; jeder Versuch, sie herzuleiten aus Reihen von Synthesen […] bleibt künstlich, da Empfindungen und Erscheinungen selbst erst Produkte der Analyse und nicht dieser zuvor zu realisieren sind. Die reflexive Analyse glaubt, in umgekehrter Richtung dem vorangegangenen Konstitutionsprozeß nachzugehen und im inneren Menschen – mit Augustin zu reden – ein konstitutives Vermögen zu fassen, das er immer schon war. Die Reflexion überträgt und verlegt so sich selbst zurück in eine, diesseits von Sein und Zeit, unverletzliche Subjektivität. Eben das aber ist Naivität oder, wenn man so lieber will, jedenfalls unvollständige Reflexion, da sie so das Bewußtsein ihres eigenes Anfangs verliert. [S. 6]

Die Welt ist kein Gegenstand, dessen Konstitutionsgesetz sich zum voraus in meinem Besitz befände, jedoch das natürliche Feld und Milieu all meines Denkens und aller ausdrücklichen Wahrnehmung. Die Wahrheit bewohnt nicht bloß den inneren Menschen, vielmehr es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt. Gehe ich, alle Dogmen des gemeinen Verstandes wie auch der Wissenschaft hinter mir lassend, zurück auf mich selbst, so ist, was ich finde, nicht eine Heimstätte innerer Wahrheit, sondern ein Subjekt, zugeeignet der Welt. [S. 7]

Unser Denken, wir selbst bewegen uns immer in der Welt. Sowohl in der Reflexion als auch im Handeln sind wir Teil der Welt, produzieren sie und sind in sie eingebunden. Reflexion, die sich als reine Reflexion darstellt ist keine vollständige Reflexion, wenn sie sich nicht immer verortet. Diese Verortung des Subjekts in einem konkreten Raum und in der Zeit – in der Lebenswelt – sollte also von zentraler Bedeutung für eine vollständige Analyse sein. Weder ist das Subjekt als Gegenstand der Sozialwissenschaft isoliert zu denken, noch ist der Sozialwissenschaftler als Analytiker ein isolierter, betrachtender Geist – dies kann vielleicht schon durch eine kleine Änderung im voranstehenden Satz verdeutlicht werden: Weder ist das Subjekt als Gegenstand der Sozialwissenschaft isoliert zu denken, noch ist die Sozialwissenschaftlerin als Analytikerin ein isolierter, betrachtender Geist. Sie und Er sind in ihrer körperlichen Konkretheit Teil des Feldes. Bourdieu hat dieses Verhältnis mit großer Konsequenz zum Gegenstand seines Arbeitens gemacht. Die praxeologische Reflexion der eigenen Position in verschiedenen sozialen Feldern ist Thema insbesondere in Homo Academicus und Die feinen Unterschiede. Noch nicht ganz klar ist zu diesem Zeitpunkt für mich das Verhältnis von Subjekt zu Objekt bei Merleau-Ponty – in The Production of Space (u.a. Fußnote auf S. 183), kritisiert Lefebvre das Verhaftetsein Merleau-Pontys an den Kategorien Subjekt und Objekt. Lefebvre, wie auch Latour in seiner Kritik der Moderne, wollen jenseits eines Dualismus von Subjekt und Objekt arbeiten. Wie oben angedeutet ist mein derzeitiger Eindruck jedoch, dass Merleau-Ponty mit dem der Welt zugeeigneten Subjekt eigentlich etwas fasst, das sehr ähnlich ist zu dem, was Lefebvre mit seinem Praxisbegriff und Latour mit seinen Hybriden meint. Vielleicht eher noch etwas, das diesseits und nicht jenseits des Dualismus liegt. Ich werde diesen Aspekt mit Sicherheit weiterverfolgen.

Ein dem Verhältnis Subjekt zu Objekt verwandtes Problem ist das Verhältnis Subjekt zu Subjekt und die Konstitution von Intersubjektivität. Für die Soziologe ist das Verhältnis zum Anderen – die Unterschiedlichkeit und Ähnlichkeit der Anderen und der Umgang mit Anderen – vielleicht das zentrale Problem. Auch für Merleau-Ponty haben Andere einen besondern Status. Sie scheiden sich vom Rest der Welt, der Welt der Dinge. Andere haben einen besonderen Status, sie sind das Gegenüber des ich.

Die reflexive Analyse kennt kein Problem des Anderen und kein Problem der Welt, da sie in mir beim Aufleuchten schon des Bewußtseins das Vermögen des Zugangs zu einer de jure universalen Welt erblickt, im Ich und in Anderen aber, sofern auch dieser in Wahrheit nicht Diesheit, Ort oder Leib hat, ein und denselben, seiend in der wahren Welt, dem verbindenden Band aller Geister. […] Für Husserl hingegen gibt es bekanntlich sehr wohl ein Problem des Anderen, ist das alter ego ein beunruhigendes Paradox. Ist der Andere, über sein Für-mich-sein hinaus, wahrhaft ein Sein-für-sich, und sind wir wirklich einer für den anderen, und nicht allein einer wie der andere für Gott, so muß der eine dem anderen zu erscheinen vermögen, muß er und muß ich ein Äußeres haben, muß es außer der Perspektive des Für-sich – meines Blickes auf und des Anderen Blickes auf sich – eine Perspektive des Für-Andere geben – die meines Blickes auf den Anderen und des Blickes des Anderen auf mich. Beide Perspektiven können nicht einfach in einem jeden von uns sich nebeneinanderstellen, denn dann wäre nicht ich es, den der Andere sähe, und wäre es nicht der Andere, den ich sähe. Ich muß mein Äußeres sein, und der Leib des Anderen muß er selbst sein. Dies Paradox, diese Dialektik von ego und alter ist möglich nur, wenn ich wie der Andere aus der Situation, nicht unabhängig von jeglicher Bindung sich definieren, m. a. W. wenn die Philosophie nicht sich vollendet im Rückgange auf das Ich, wenn vielmehr die Reflexion nicht allein mein Zugegen-sein-bei-mir-selbst, sondern ebensosehr die Möglichkeit eines fremden Betrachters entdeckt[…] S. 9

An diesem Zitat ist eines für mich besonders spannend: Die Verbindung zwischen Sehen und Sein. Was ich sehe ist. Sowohl die Forscherin als auch die Beobachteten betrachten sich. Die Andere, die ich sehe, ist sie selbst, und somit auch ihr Leib oder Körper. Auch mein Körper wird gesehen, ich werde gesehen. Blicke und Körper gehen ineinander – dies ist eine zentrale Erfahrung für den Ethnografen im Feld. Ich bin als Beobachter sichtbar, in meiner Leiblichkeit, als eine Person mit einem bestimmten Aussehen, als Mann eines bestimmten Alters und mit bestimmter Kleidung; als solche Person werde ich wahrgenommen, als solche Person bin ich im Feld, zum Feld. Sehen und Sein – Blicke und Leiber durchdringen sich. Aus diesem Grund muss ich mich immer mit im Feld verorten, muss mich versuchen zu sehen, ebenso wie ich andere sehe. Ob teilnehmende Beobachtung oder beobachtende Teilnahme – das Forschungsfeld konstituiert sich mit und um Beobachtende und Analysierende; ein Verhältnis, das sich beim ethnografischen Arbeiten weniger leicht verleugnen lässt, als in anderen Zweigen der Sozialwissenschaften, welches sich aber überall auswirkt und bestimmte, aus spezifischen Positionen stammende Erkenntnisse produziert.

Erstaunlich wenig Rede

Das Verhältnis des Forschenden zum Feld ist schon immer ein problematisches gewesen: Wie ist Erkenntnis über etwas möglich, wenn man gleichzeitig Teil des Feldes ist? Kann ein Teilnehmer auch Beobachter sein? Wie lässt sich diese Spannung zwischen Distanz und Nähe charakterisieren? Merleau-Ponty schreibt dazu folgendes:

Doch eben weil wir durch und durch Verhältnis zur Welt sind, ist die einzig uns mögliche Weise, dessen gewahr zu werden, die, diese Bewegung aufzuheben, ihr unsere Teilnahme zu entziehen (sie zu betrachten, ohne sie mitzumachen, wie Husserl sich ausdrückt), sie außer Spiel zu setzen. Nicht daß es gälte, auf die Gewißheiten des gemeinen Verstandes, der natürlichen Einstellung, Verzicht zu leisten – vielmehr bleiben gerade sie beständig das Thema der Philosophie; doch müssen wir ihrer für einen Augenblick uns enthalten, eben um sie zu wachem Erleben und zur Erscheinung zu bringen, da sie, eben als in jederlei Denken selbstverständlich vorausgesetzt, sonst ständig schon übersprungen sind. Vielleicht hat Eugen Fink, seinerzeit Husserls Assistent, den Gedanken der Reduktion am treffendsten formuliert, als er sie charakterisierte als das Erstaunen angesichts einer Welt. S. 10

Für mich ist das Erstaunen eine gute und passende Metapher, die treffend das beschreibt, was zum Alltag meiner Feldforschung gehört – die eigentümliche Erfahrung, etwas zu sehen, was ich vielleicht schon häufig gesehen habe, daran aber etwas neues zu entdecken und erstaunt zu verstehen, was man vorher nur mitgemacht hat. Das Erstaunen ist zwar bloß eine Metapher, jedoch sehe ich die Argumentation von Merleau-Ponty hier wie auch sonst in diesem Buch nicht als eine streng logische, die in sich schlüssige und nicht zu widerlegende Argumente miteinander verknüpft, sondern vielmehr als eine plausible, die ihren Wahrheitsgehalt nicht aus abstrakter Logik, sondern aus der Nähe zum eigenen Erfahren bezieht.

Diese Nähe zur eigenen Erfahrung zeigt sich auch in Merleau-Pontys Verhältnis zur Sprache und zum Diskursiven.

Nicht also heißt das Wesen des Bewußtseins erforschen die Wortbedeutung Bewußtsein auslegen und der Existenz in das Reich des bloß gesagten entfliehen, vielmehr heißt es, die wirkliche Gegenwart meiner selbst bei mir selbst, das Faktum meines Bewußtseins wieder finden, das letztlich doch Wort und Begriff des Bewußtseins besagen wollen. Dem Wesen der Welt nachfragen heißt nicht, sie reduzieren auf den Gegenstand unserer Rede und dann sie in die Idee erheben, vielmehr heißt es darauf zurückgehen, was vor aller Thematisierung die Welt faktisch für uns schon ist. […] Die Welt ist das, was wir wahrnehmen. S. 12-13

Entscheidend aus seiner Perspektive ist also nicht der Diskurs über die Welt. Die Begriffe sind von geringerer Bedeutung für das Verstehen der Welt als die Erfahrung derselben. Natürlich beinhaltet die Erfahrung der Welt die Sprache und den Umgang mit ihr, entscheidend ist, dass die Sprache ein Teil der Erfahrung der Welt ist, sie aber keineswegs der Welt übergeordnet ist. Aus meiner Perspektive scheint in der sozial- und insbesondere in der geisteswissenschaftlichen Praxis häufig das Gegenteil der Fall zu sein. Die Beschäftigung mit Diskursen wird schnell zum Selbstzweck, Macht und Interaktion scheinen dann nur noch sprachlich vermittelt vorstellbar. Ziel meiner Studie ist es, eben das Gegenteil wieder stärker zu Tage zu fördern. Durch den Verzicht auf Interviews, die Analyse von Texten und Äußerungen zu den von mir untersuchten Räumen will ich den Blick mit voller Konzentration auf das Nicht-Sprachliche werfen, die körper- und leiblichen Aspekte von Intersubjektivität und sozialem Handeln in den Mittelpunkt rücken und die Aufmerksamkeit auf die soziale Wirkungsmächtigkeit räumlich-technischer Arrangements lenken. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Sprache und Diskurs irrelevant wären, mir geht es zu diesem Zeitpunkt aber vor allem um eine Erweiterung der sozialwissenschaftlichen Analyse hin zu konkreten, räumlich verorteten Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Für die Gewalt der Komplexität

Zur Notwendigkeit einer komplexen Analyse, eines Denkens und Handelns das sich nicht nur mit einem Aspekt der Wirklichkeit befasst schreibt Merleau-Ponty:

Ist Geschichte letztlich ideologisch, politisch, religiös oder ökonomisch zu verstehen? […] Es gilt auf all diese Weisen zugleich zu verstehen, alles hat Sinn, in jeglicher Hinsicht finden wir grundlegend ein und dieselbe Seinsstruktur. Alle Weisen des Sehens sind wahr, wenn man sie nur nicht isoliert, vielmehr stets der Geschichte auf ihren Grund und zurück auf einen Kern existentieller Bedeutung geht, der in jeder der Perspektiven sich auslegen muß. Was Marx sagt, daß die Geschichte nicht auf dem Kopfe geht, ist wahr, doch nicht minder wahr, daß sie nicht mit den Füßen denkt. Oder vielmehr: weder ihr Kopf noch ihre Füße gehen uns an, sondern ihr Leib als ganzer. S. 16

Die Frage ist natürlich, wie sich das denn machen lassen soll: auf all diese Weisen zugleich verstehen? Ich nehme dies einerseits als Motivation, sich der Komplexität wirklichen Geschehens auszusetzen und nicht nur auf dem Papier oder im Rechner zu analysieren, zu versuchen, das Gesamte im Blick zu behalten und immer wieder die Perspektive zu wechseln, mich in andere Positionen und Rollen zu versetzen. Andererseits verstehe ich dies als Kritik an monokausalen Erklärungen, oder, besser gesagt, an Analysen, die sich nur einer Logik bedienen. Ich kann im Sinne Luhmanns die Welt als ein System von Systemen sehen, schauen, wie diese Systeme miteinander kommunizieren, was ihre Umwelten sind, daraus bestimmte Gesetze formulieren und so ganz wunderbar mittels Theorie Komplexität reduzieren, ohne sagen zu müssen, dass ich nur einen Teil der Wirklichkeit beschreibe, denn aus dieser Perspektive kann ich in immer der gleichen Logik über die Ökonomie, wie über die Medien und über die Liebe schreiben. Ich bin der Überzeugung, dass dies nicht dem Gedanken von Merleau-Ponty entspricht – hier sind der Leib, die eigene Wahrnehmung und das tätige Erfahren die Instanzen, auf die die Analyse aufbaut, nicht eine abstrakte Logik mit universalem Gültigkeitsanspruch. So ist die Phänomenologie der Wahrnehmung eine Theorie mit dem Anspruch, Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen, ohne dabei universale Gültigkeit zu beanspruchen. Ihre Gültigkeit und ihre eigene Art von Universalität bezieht sie aus ihrer Verortetheit, ihrer Positionsgebundenheit an Wahrnehmung und Interaktionen eines bestimmten, konkreten Subjekts.

Es sind nun weder die Sprache, noch eine abstrakte Logik, die das Sein bestimmen; das Sein ist vielmehr bestimmt durch die Wahrnehmung und das Handeln, die im Leib als ganzem ihr Zentrum haben. Ein sehr spezifischer Aspekt dieser Zentrierung auf den Leib macht die Theorie Merleau-Pontys für mich noch faszinierender: Der Leib des Menschen ist verletzlich, seine Integrität immer auch eine bedrohte. Im ersten Zitat kritisiert Merleau-Ponty, dass ein Rückzug in die Reflexion eine unverletzliche Subjektivität suggerieren würde. Die Subjekte jedoch sind einerseits verletzlich und andererseits üben sie in ihrem Handeln und sogar in ihrem Denken immer auch Gewalt aus.

Nicht allein durch die Reflexion nehmen wir unser Geschick in die Hand und verantworten unsere Geschichte, ebensosehr durch einen Entschluß, der unser Leben einsetzt, und hier wie dort geschieht ein Akt der Gewalt, der durch die Tat sich bewährt. S. 18

Eine Theorie die das Subjekt, die die Menschen in ihrer Verletzlichkeit und in ihrer Gewalttätigkeit zugleich zu fassen vermag und sich dieser enormen Spannung ausliefert, hat im meinen Augen großes Potential und eröffnet vielleicht Herangehensweisen, die es mir als Ethnografen erlauben, die Ambivalenzen des Alltagshandelns in ihrer existentiellen Schärfe einzufangen, zu verstehen und vielleicht auch, sie wiederzugebenwahrzunehmen, nachzuvollziehen und vielleicht auch aufzurufen. Ich werde diesem Aspekt von Merleau-Pontys Theorie in den folgenden Abschnitten (Einleitung; nicht wirklich fertig gestellt) hoffentlich noch mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen können…

Literatur