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Die Verräumlichung der Exklusion
Falltür ins Elend

Autor: Lars Frers (1998)

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Inhalt

Einleitung

Thema dieses Textes sind zentrale Veränderungen der sozialen Struktur von Großstädten in den westlichen Industriestaaten. Diese Veränderungen sollen anhand zweier Texte deutlich gemacht werden: Dual City – Restructuring New York von John H. Mollenkopf und Manuel Castells und Space and Race in the Post-Fordist City: The Outcast Ghetto and Advanced Homelessness in the United States Today von Peter Marcuse; beide Texte befassen sich mit New York und analysieren aus kritischer Perspektive die dortigen Entwicklungen.

Ist ein Vergleich zwischen der Entwicklung New Yorks und Entwicklungen in deutschen Großstädten fruchtbar, oder ist New York eine so einzigartige Stadt, dass eine Übertragung von Untersuchungsergebnissen ein sinnloses Unterfangen wäre? New York nimmt selbstverständlich eine Sonderrolle unter den Großstädten dieser Welt ein, sie ist die ‚Global City‘ schlechthin: in dieser Stadt konzentrieren sich die Anbieter von hochspezialisierten Finanz- und produktionsorientierten Dienstleistungen, die Hauptquartiere transnationaler Konzerne, internationale Organisationen, Medienunternehmen und Künstler (vgl. u.a. Sassen 1993). New York ist Steuerungszentrale für eine Peripherie, die womöglich die ganze Welt umfasst und ist zudem außerordentlich dicht bebaut. Nichtsdestotrotz ist auch für deutsche Großstädte ein ‚Lernen von New York‘ möglich. Häußermann und Siebel (1993) schreiben unter diesem Titel, dass zwei Aspekte von New York exemplarisch auch für andere Großstädte sind: zum einen der dort schon sehr frühzeitig einsetzende ökonomische Wandel, der im Lauf der Zeit auch in anderen Ballungszentren seinen Niederschlag findet und zum anderen die dortige multikulturelle Gesellschaft – wenn die meisten mitteleuropäischen Städte auch keine Immigrationszentren im Sinne New Yorks sind, so nimmt doch auch hier die Zahl der verschiedenen Kulturen und Ethnizitäten zu (vgl. Häußermann/Siebel 1993: 7-10). Wie in New York auf die Entwicklungen der letzen zwanzig Jahre reagiert wurde, und welche Konsequenzen sich für daraus für die Bewohner der Stadt ergeben haben, hat also auch für eine Auseinandersetzung mit Problemen der Stadtentwicklung in Deutschland Bedeutung. New York kann als eine Art Frühwarnsystem für andere Städte in der westlichen Welt dienen – wenn Unterschiede und Parallelen in den Ausgangslagen der verschiedenen Städte bzw. der dazugehörigen Staaten berücksichtigt werden.

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Neuer Druck auf die Entwicklung der Stadträume

Den neuen Entwicklungsdynamiken in der sozialen Struktur der Städte wird durch Veränderungen in der Produktionsweise Antrieb verliehen, die sich in vier Komplexen beschreiben lassen. Erstens lässt sich eine Verschiebung des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit weg von der industriellen Produktion und Fertigung und hin zum Dienstleistungsgewerbe feststellen. Mit dem Begriff der Tertiarisierung wird diese Verschiebung als ein (noch) fortlaufender Prozess beschrieben, bei dem Begriff der postindustriellen Wirtschaft steht der grundlegende (erfolgte) Wandel der Produktionsweise im Vordergrund. Für die Diskussion der Konsequenzen dieser Entwicklungen ist eine Festlegung auf einen der beiden Begriffe nicht unbedingt notwendig, der prozessbeschreibende Begriff der Tertiarisierung bietet allerdings den Vorteil, die bei der Umstrukturierung der Wirtschaft erfolgenden Freisetzungen von Arbeitskräften als noch andauerndes Problem zu erfassen. Neben der zumindest zeitweisen Freisetzung von Arbeitskräften beim Übergang von einer Beschäftigung im sekundären Sektor zu einer Beschäftigung im tertiären Sektor gibt es noch weitere Probleme: zum einen zeichnet sich ab, dass im Dienstleistungssektor (in dem ebenfalls ‚rationalisiert‘ wird) weniger Menschen beschäftigt werden, als vorher in der Produktion, die Zahl der Erwerbslosen also steigt, zum anderen sind Entlohnung und Arbeitsbedingungen im Dienstleistungssektor stärker polarisiert als in der Produktion. Durch lange Arbeitskämpfe und effektiv organisierte Beschäftigte hat sich im Sektor der Produktion eine relativ gut abgesicherte Tarifstruktur herausgebildet – Erwerbsverhältnisse im dritten Sektor sind dagegen häufig schlecht abgesichert und die Verträge kurzfristig. Schließlich ist noch zu betonen, dass besonders als Dienstleisterinnen angestellte Frauen unter prekären und schlecht entlohnten Erwerbsverhältnissen zu leiden haben. (Vgl. zur Tertiarisierung Altvater/Mahnkopf 1997: 276-335.)

Zweitens wurde die Organisation der Produktion verändert. Das bisherige Modell der wirtschaftlichen Entwicklung und Regulation war durch Spezialisierung auf die massenhafte Produktion einer bestimmten Ware geprägt und hat sich beispielhaft in der Automobilindustrie entwickelt und dort in riesigen Fabriken niedergeschlagen. In diesen Produktionsstätten ist die gesamte Produktion eines Automobils mitsamt seiner Einzelteile durchgeführt worden, die Ware ist dann in großen Massen auf den Markt gekommen. Wirtschaftlichkeit wurde durch drei Prinzipien hergestellt: je größer desto effizienter, Leitung und Planung werden von der Produktion getrennt und die Zeitplanung bis ins kleinste Detail für alle Mitarbeiter vorgegeben. (Vgl. Bell 1988: 230-235). Dies ist das Modell des Fordismus, demgegenüber sich zunehmend ein neues Modell, das des Postfordismus, durchsetzt. Postfordistische Regulation ist besonders durch Auslagerung von Produktions- und Organisationsleistungen aus dem Kernbetrieb gekennzeichnet, wodurch der ‚Mutterkonzern‘ flexibler wird, d.h. er kann schneller auf neue Anforderungen des Marktes reagieren, bei Rückgang von Aufträgen die Verträge mit Zulieferbetrieben kündigen und dort einkaufen, wo die Preise gerade am niedrigsten sind. Für die Stadt ist an dieser Entwicklung entscheidend, dass sich durch diese Art der Produktion ein erhöhter Steuerungsbedarf ergibt und spezialisierte Dienstleister nötig werden, diese wiederum siedeln sich vor allem in der Stadt an, möglichst nah an den Zentralen der Unternehmen die sie beraten. (Vgl. zu den sog. ‚Fühlungsvorteilen‘ in großen Städten Brake 1993) Außerdem verkürzt sich die durchschnittliche Dauer der Beschäftigung bei einem Unternehmen. (Vgl. Sennet 1998: 25.)

Drittens kommt die Globalisierung in Betracht. Von den vielfältigen Veränderungen, die mit diesem Begriff beschrieben werden können, werden hier nur drei benötigt. Zum einen ist dies die Vereinfachung der Migration, die durch sinkende Transportkosten für größere Teile der Bevölkerung erschwinglich wird (vgl. Albrow 1998: 245f., zum erzwungenen Charakter von Migration vgl. Altvater/Mahnkopf 1997: 19, 103). Zum anderen erlangt Mobilität durch die sinkenden Transportkosten eine neue Qualität. Für den begüterten Teil der Bevölkerung ist es möglich, regelmäßig entfernte, zum Teil sogar auf anderen Kontinenten gelegene Orte unter nur geringem Zeitaufwand zu erreichen, sei es aus beruflichen Gründen, um dort Urlaub zu machen oder um Familie und Freunde zu besuchen. Verschiedene Städte, und vor allem ihre attraktiven Zentren, werden zur normalen Umgebung einer ‚globalen Managerklasse‘ (vgl. Albrow 1998: 194-203). Die dritte Veränderung ist die Etablierung von Kommunikationen mit über den Globus verteilten Menschen. Sie ermöglichen es – bei ausreichendem Wissen und finanzieller Ausstattung – persönliche Kontakte mit körperlich füreinander gar nicht präsenten Subjekten auch über große Entfernungen hin aufrechtzuerhalten oder sogar zu knüpfen (vgl. ebd.: 242-248).[1]

Der vierte Komplex betrifft die Veränderung der Rolle des Staates. Der Wohlfahrtsstaat mit seinen Regelungen wird abgebaut und gibt einen Teil seiner Aufgaben an die Privatwirtschaft ab. Hauptaufgabe des postkeynesianischen Staates ist die Herstellung von Bedingungen, unter denen die Unternehmen im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig sind und nicht die Umverteilung des Reichtums zugunsten sozialer Gerechtigkeit. Eine allgemeine Verbesserung der Wohlfahrt ergebe sich vielmehr durch sogenannte 'trickle down' Effekte, d.h. größere Unternehmensgewinne würden sich über verschiedene Wege auch auf den Rest der Bevölkerung positiv auswirken. Postkeynesianische Politik lässt sich des weiteren durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Liegenschaften und durch den Abbau von internationalen Handelsschranken kennzeichnen.[2]

Die Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung haben sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt; dass mit diesem Wandel Prozesse der Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen einher gingen, steht im Mittelpunkt der folgenden Kapitel.

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Dual City

Mollenkopf/Castells [3] gehen bei ihrer Analyse vom Bild der zweigeteilten Stadt aus; einer Stadt des Reichtums und des Glanzes und einer Stadt der Armut und des Verfalls. Das Bild der zweigeteilten Stadt ist schon im 19. Jahrhundert verwendet worden, die Autoren zielen allerdings darauf ab, die neuen Ungleichheiten und Spaltungen der letzten zwanzig Jahre herauszuarbeiten – neue Ungleichheiten, die sie auf die genannten Veränderungen der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur zurückführen – diese verlangen, dass Konflikte in der dualen Stadt nicht einfach als Konflikte von ‚Arm gegen Reich‘ aufgefasst werden, sondern mit der zunehmenden Polarisierung auch eine zunehmende Komplexität berücksichtigt werden muss. Neue Spaltungslinien haben sich entlang der Grenzen von Klasse, Rasse, Ethnizität und Geschlecht gebildet, so dass sich nicht das Bild einer in zwei homogene Lager gespaltenen Gesellschaft ergibt, sondern vielmehr ein kompliziertes Muster unterschiedlicher Gruppen, deren Interessen nicht unbedingt deckungsgleich sind. (Vgl. Mollenkopf/Castells 1992: 5-6, 16-18)

Gründe für das Wachstum der Armut in New York sind (a) die zunehmende Anzahl der von Frauen geleiteten Haushalte, (b) eine geringe Beschäftigungsrate und (c) der Abbau sozialstaatlicher Transferleistungen. Diese Entwicklungen verknüpfen sich mit der Ausgrenzung von Schwarzen und Latinos [4] vom regulären Arbeitsmarkt und insbesondere vom Zugang zu den lukrativen neuen Berufsgruppen in der Dienstleistungsökonomie; die Opfer rassistischer Ausgrenzung sind also auf die schlecht entlohnten Jobs angewiesen. (Vgl. ebd.: 8.)

Die veränderten Beschäftigungsmuster haben ihren räumlichen Ausdruck in drei unterschiedlichen Gebieten gefunden. Die neue Gruppe der in hochqualifizierten und gut bezahlten Dienstleistungsberufen Tätigen hat sich vor allem nahe am Zentrum der Stadt, d.h. vor allem in Manhattan angesiedelt. Sie haben die Innenstadt gentrifiziert. (Vgl. zur Gentrifizierung in New York Zukin 1989: 173-209) Das Gegenstück zu diesen, die ebenfalls wachsende Gruppe der Schwarzen und Latinos ballt sich in den vernachlässigten ehemaligen Arbeitervierteln, die allmählich zu Ghettos verkommen, welche durch ihren katastrophalen Zustand weltweit Aufsehen erregt haben. Besonders die Unruhen in der South Bronx sorgten immer wieder für Schlagzeilen. Die schrumpfende Gruppe der in der Produktion Beschäftigten ist in der Regel finanziell ausreichend abgesichert und verlässt die alten Arbeiterviertel, um sich in den Suburbs am Rande der Stadt neue Enklaven zu schaffen. (Vgl. Mollenkopf/Castells 1992: 8f.)

Die beschriebenen Veränderungen in der sozialen und der räumlichen Struktur New Yorks werden von Mollenkopf/Castells weiter analysiert und im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser Analyse in Form von sieben Thesen dargestellt werden.

  1. Es kommt zur Bildung einer fragmentierten und peripheren, lokal verankerten Gruppe Ausgegrenzter einerseits und einer gut organisierten, im Zentrum stehenden Gruppe von Gewinnern der postindustriellen Gesellschaft andererseits. (Vgl. ebd.: 17.)
  2. Die Benachteiligten werden zwar ausgegrenzt, aber sie sind nicht völlig ausgeschlossen, […] they occupy a specific position and perform specific services in the urban social structure. (Ebd.: 409.) Mollenkopf/Castells erörtern dies am Beispiel der Debatte über Ausgrenzung in den Metropolen Lateinamerikas. Was ist der Grund für die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung vom Arbeitsmarkt und den durch ökonomisches Wachstum erzeugten Gewinnen? Die Autoren meinen, dass die Ausgrenzung nicht in einem veränderten Verhältnis von Kapital und Arbeit wurzelt, sondern dass […] politics channels different sectors and excludes strata from the formal labour market. (Ebd. 410.) Die Ausgegrenzten sind also nicht aufgrund einer Veränderung des ökonomischen Systems überflüssig geworden, sie werden vielmehr durch politisches Handeln marginalisiert und in informelle bzw. illegale Arbeitsverhältnisse gedrängt oder arbeitslos. Dies wäre die nächste These:
  3. Ausgrenzung wird durch staatliches Handeln hervorgerufen. Der Staat baut öffentliche Dienstleistungen ab, bzw. privatisiert diese, so dass sie für einkommensschwache Gruppen nicht mehr erschwinglich werden. Beispielsweise verringern sich, durch den derartig erschwerten Zugang zu Schulen und Universitäten, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die Ressourcen für eine Herausbildung politischer Opposition. (Vgl. ebd.: 409.)
  4. Die Struktur und Form der zweigeteilten Stadt hat prägenden Einfluss auf die Bildung von Klassen und Schichten. Klassen und gemeinschaftliches Handeln sind auf bestimmte räumliche Bedingungen angewiesen, um sich konstituieren zu können. Mollenkopf/Castells verdeutlichen dies zum einen historisch an der Herausbildung der Bourgeoisie als einer Klasse, die auf die mittelalterliche Stadt mit ihren Freiräumen angewiesen war, und zum anderen an den territorialen Machtkämpfen zwischen amerikanischen Immigranten unterschiedlicher Herkunft, die zur Einführung umfassender Patronagesysteme in den großen Städten der USA beigetragen haben. (Vgl. ebd.: 411f.)
  5. Das Muster der dualen Stadt wird dem eigentlich pluralistischen Muster der Stadt aufgezwungen. New York zeichnet sich eigentlich durch seine kulturelle und ethnische Vielfalt aus, das Straßenbild ist normalerweise durch ein Mosaik verschiedener Symbole und Gruppen geprägt. Erst durch den Wegfall sozialer Sicherungssysteme, bauliche Maßnahmen und die Eingriffe der Polizei wird die Stadt in die exklusiven Gebiete der Reichen und Gebiete der Armut gespalten. (Vgl. ebd.: 414f.)
  6. Die duale Stadt ist die soziale, die globale Stadt die ökonomische und die informationelle Stadt die technologische Widerspiegelung der postindustriellen Stadt. Globalisierung, moderne Kommunikationstechnologien, postindustrielle Wirtschaft und die dominante Gruppe der Manager und Technokraten sind miteinander verknüpft, sie haben entscheidenden Einfluss auf die räumliche Struktur der Stadt und führen gemeinsam zu ihrer Zweiteilung. (Vgl. ebd.: 415.) Diese These ist zwar plausibel, wird von den Autoren aber nicht weiter begründet.
  7. Durch eine Art ‚interurbaner Vernetzung‘ von Knotenpunkten wird der Erfahrungsraum von Managern und Technokraten konstituiert, sie lösen sich damit von den konkreten Räumen und der spezifischen Lokalität der einzelnen Städte. Ihnen gegenüber steht eine an die Lokalität gebundene, fragmentierte Bevölkerung in der Peripherie. In allen großen Städten gibt es Orte, in denen die gleichen Restaurants, Geschäfte und eine sehr ähnliche Architektur wie in anderen Zentren zu finden sind (sozusagen die Knotenpunkte im globalen Städtenetz). Dieses sind die nahezu ausschließlichen – und auch exklusiven – Aufenthaltsorte der globalen Führungsklasse, der Rest der als Lebensstil- und Vernetzungszentren fungierenden Städte verschwindet hinter der Kulisse dieser Zentren und wird gleichzeitig aus dem Bewusstsein getilgt, die Eliten sind ‚de- oder entlokalisiert‘. Die Peripherien sind auf sich selbst verwiesen, in ihnen stehen sich die BewohnerInnen mit all ihrer kulturellen Verschiedenheit gegenüber. Soll gegen die weitere Entfernung der Peripherie vom Zentrum etwas unternommen werden, muss sich dort eine selbstbewusste und organisierte Opposition mobilisieren. (Vgl. ebd.: 415-417.)

Mollenkopf/Castells behandeln in ihrem Text insbesondere die Probleme der städtischen Klassenbildung[5] und die Chancen politischer Oppositionsbildung, auf diese Aspekte bin ich nur am Rande eingegangen, ins Zentrum meiner Zusammenfassung des Textes habe ich vielmehr die für eine Diskussion der Ausgrenzung in der Stadt bedeutsamen Argumente gestellt. Ausführlich und umfassend wird die Entstehung und die Geschichte von städtisch verankerten sozialen Bewegungen in The City and the Grassroots. A Cross-Cultural Theory of Urban Social Movements von Castells (1983) analysiert.

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Space and Race in the Post-Fordist City

Auch Marcuse (1996) untersucht neue Prozesse sozialer Spaltung in der Stadt, er tut dies unter expliziter Verwendung des Begriffs der Ausgrenzung und betont einerseits, dass es einige der von ihm beschriebenen Phänomene schon seit sehr langer Zeit gibt, sie aber andererseits durch den im ersten Kapitel beschriebenen Wandel eine andere Qualität bekommen haben.

Er verdeutlicht dies zuerst am Beispiel des ‚Outcast Ghetto‘, des Ghettos der Verstoßenen. Ghettos gibt es schon sehr lange, am bekanntesten sind sicher die jüdischen Ghettos des Mittelalters – diese Ghettos und auch die Ghettos der Arbeiterinnen am Ende des 19. Jahrhunderts und die der Schwarzen in der Mitte des 20. sind allerdings mit dem Ghetto der Verstoßenen kaum zu vergleichen. Sie sind durch weit gehende soziale und ethnische Homogenität und durch eine gemeinsame Kultur gekennzeichnet. Netzwerke innerhalb dieser Form des Ghettos dienen der informellen gegenseitigen Unterstützung und dem Schutz nach außen hin. Marcuse bezeichnet dieses Form des Ghettos mit dem Begriff der Enklave, die zwar von der Außenwelt als minderwertig angesehen wird, die aber andererseits, durch interne solidarische Beziehungen gestärkt, auch in der Lage ist, Forderungen an die restliche Gesellschaft zu formulieren und ihren EinwohnerInnen relative Sicherheit bieten kann. Die Enklave ist auch ein in die Gesellschaft bzw. in die Produktion integrierter Ort, ihre EinwohnerInnen werden zum Erhalt der Wirtschaft benötigt. Der Enklave wird das Ghetto der Verstoßenen gegenübergestellt, dessen EinwohnerInnen dem Rest der Gesellschaft nur wenig ‚nutzen‘, weshalb sie womöglich sogar als reine Schmarotzer angesehen werden.

Those in today’s black ghettos are not productive for their masters; their masters get little benefit from their existence. As far as the dominant society is concerned, most residents of the new ghetto are only a drain on public and private resources, a threat to social peace, fulfilling no useful role. They are outcasts; hence an outcast ghetto ‘defines, isolates and contains’ its victims.[6]

Sie werden verstoßen, und der Rest der Gesellschaft versucht, sie sich vom Leibe zu halten. Interne Aspekte der neuen Form des Ghettos sind die geringe soziale Kohäsion, die schlechte Organisation der EinwohnerInnen und die Machtlosigkeit lokaler Institutionen. Eine positive Bindung an die Lokalität, ähnlich wie bei der Enklave, ist so nicht möglich, Zerrissenheit und das Austragen interner Kämpfe werden statt dessen zur Regel, Bildung und damit Anschluss an die restliche Gesellschaft zu finden ist angesichts des schlechten Zustands der Bildungseinrichtungen nicht möglich. In diesen Ghettos leben vor allem Schwarze, die zumeist arbeitslos sind bzw. öffentliche Unterstützung bekommen – vor allem sind allein erziehende Mütter betroffen. Dass diese BewohnerInnen als ‚Schwarze‘ und nicht als ‚Afro-AmerikanerInnen‘ bezeichnet werden, soll hervorheben, das sie Opfer rassistischer Ausgrenzung sind; die Bezeichnung ‚Afro-Amerikaner‘ dagegen ist eher für die traditionelle schwarze Mittelschichtenklave zutreffend, denn dort gibt es eine deutlicheres Fundament für eine positive Identifizierung mit der eigenen Herkunft. (Vgl. die Note 15 in ebd.: 212.)

Der Staat spielt in Zusammenhang mit den im ersten Kapitel genannten Entwicklungen und Wandlungen eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Ghettos der Verstoßenen und verschärft durch gezieltes politisches Handeln die Lage in diesen Gebieten. Er sorgt (a) für die Einrichtung von Häusern und Anlagen der öffentlichen Unterbringung in den betroffenen Gebieten und erhöht damit die Konzentration der Armut noch zusätzlich. Er befördert (b) Gentrifizierung in bisher durchmischten Gebieten und verdrängt damit Arme in die Ghettos. Durch die Konstruktion eines Unterschieds zwischen Armen und ‚sehr Armen‘ werden (c) Mittel, die eigentlich für die Bekämpfung der Armut gedacht sind, abgezapft und höheren Schichten zugeführt. Unerwünschte oder gefährliche Einrichtungen wie Gefängnisse oder Mülldeponien werden (d) in Anpassung an die Not-In-My-Backyard-Politik in die ‚Höfe‘ der Ausgegrenzten ohne Lobby und politische Stimme gebaut. Schließlich wurden (e) die Wahldistrikte so umstrukturiert, dass der Einfluss von Minoritäten möglichst gering ist. Durch die Härte der rassistischen Ausgrenzung und der ökonomischen und sozialen Marginalisierung wird der Übergang von Widerstand zu Resignation und Unterordnung immer deutlicher und es verschärft sich der Unterschied zwischen der Enklave und dem Ghetto der Verstoßenen, […] even if those confined to it are sometimes able to marshal strength from their very confinement. (Ebd.: 188.)

Das zweite Thema in Marcuses Aufsatz ist die fortgeschrittene Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten und in New York, die sich von bisher bekannten Formen der Obdachlosigkeit unterscheidet. Sie ist weniger periodisch und an Rezessionen gebunden, sondern wird mehr und mehr zu einem permanenten Zustand für die Betroffenen. Sind also früher in einer Wirtschaftskrise viele Menschen in Armut gestürzt und obdachlos geworden, um dann beim folgenden Aufschwung wieder Arbeit und Heim zu finden, so werden heute Frauen, Männer und Kinder die einmal Obdachlos geworden sind kaum wieder in die ‚normale‘ Gesellschaft integriert. Auch im Rahmen der fortgeschrittenen Obdachlosigkeit wurde Rassismus zu einem entscheidenden Faktor – nach Schätzungen sollen in New York neunzig von hundert Obdachlosen schwarz oder ‚hispanic‘ sein. (Vgl. ebd.: 193) Ein Teufelskreis wird geschlossen, wenn die Obdachlosen aus den im Zentrum der Kapitalverwertung stehenden urbanen Räumen verdrängt und in die Ghettos der Verstoßenen hineingezwungen werden – die Obdachlosen verstärken die Armut im Ghetto, dadurch verschlechtert sich die Versorgung des Ghettos mit öffentlichen Diensten, wodurch das Gebiet weiter verkommt, weshalb schließlich wiederum mehr Ausgegrenzte in das Ghetto abgeschoben werden und so weiter. Das postkeynesianische Management des Staates besiegelt die Ausweglosigkeit der Obdachlosen. Zur ‚Reintegration‘ werden sie in vorübergehenden Unterkünfte aber auch in permanenten Behausungen, die vom Staat gestellt werden, untergebracht, diese Hilfsprogramme dienen jedoch eher dem Ausschluss aus als der Integration in die Gesellschaft.

These [support programs] in general require, as a condition of admission to solidly constructed if regimented ‚transitional shelters‘, often build fortress-like in largely abandoned neighbourhoods, the willingness to submit to the discipline of those shelters: the keeping of regular hours, abstinence from drug use, essentially chaste behaviour within the shelter, submission to social work intervention. A reward for adhering to an agreement as such to behaviour is, at the end of the necessary period, often six months, referral to ‚permanent housing‘, often in specially renovated buildings similarly in abandoned areas. (Ebd.: 194f.)

Die Unterbringung der Obdachlosen in den ‘abandoned areas’, also den aufgegebenen und von Mittelstand und anderen Bessergestellten verlassenen Gebieten dient dem Wegschaffen nicht erwünschter, als anormal und minderwertig angesehener Menschen – sie und mit ihnen ihre Probleme sollen aus dem Blickfeld des Rests der Gesellschaft verschwinden, damit diese ihren alltäglichen Geschäften ungestört nachgehen kann. Von entscheidender Bedeutung daran ist, dass diese räumliche Abbildung der Ausgrenzung die Ausgrenzung wesentlich verschärft und außerdem auf Dauer festschreibt. Im Ergebnis dieses Prozesses der Verräumlichung von Ausgrenzung werden rassistische und andere Marginalisierungen so zementiert, die Betroffenen verdrängt, kontrolliert, vergessen und mit weiteren Problemen beladen, bis sie sich kaum noch erheben können, um ihre Rechte einzuklagen.

Der Rest der Stadt, wie sehr er sich auch von den Problemen der aufgegebenen Stadt abgrenzt, ist in der postfordistischen Stadt nicht homogen strukturiert und setzt sich aus verschiedenen Gruppen und den von ihnen bewohnten Gebieten zusammen. Wie in der folgenden Tabelle angedeutet, gibt es eine grobe Übereinstimmung zwischen der EinwohnerInnenstruktur und der ökonomischen Funktion, die ein bestimmtes Gebiet erfüllt:



Residential City

Economic City

 

 

luxury housing spots

places of big decisions

 
Zunahme von
Schwarzen,
Hispanics und
allein erziehenden
Müttern

gentrified city

city of advanced services

suburban city

city of direct production

tenement city

city of unskilled work and informal economy

abandoned city

residual city



Diese einzelnen Orte sind nicht als ganze ‚Städte‘ in der Stadt zu verstehen, vielmehr sind es oftmals nur relativ kleine Gebiete, einzelne Straßenzüge, Blocks oder Viertel, die eine der genannten Funktionen erfüllen. Aus diesem Grund verwendet Marcuse für eine Stadt, die sich aus solchen Gebieten zusammensetzt den Begriff der ‚quartered city‘ und zeichnet damit ein differenzierteres Bild von der Struktur der Stadt, als Mollenkopf/Castells dies mit dem Begriff der ‚dual city‘ tun. (Vgl. Marcuse 1996: 196 und die Note 31 auf Seite 214) Neben der häufigen zu beobachtenden Kleinräumlichkeit der verschiedenen Gebiete gilt es auch noch zu berücksichtigen, dass verschiedene Formen sich durchmischen können. Ein Beispiel für Durchmischung ist der enge Zusammenhang zwischen der ‚city of advanced services‘ bzw. der ‚gentrifried city‘ und der ‚city of unskilled work and informal economy'; Dienstleistungsunternehmen und die BewohnerInnen der gentrifizierten Gebiete sind auf billige Arbeitskräfte angewiesen, die als Reinigungs- und Sicherheitskräfte, als Boten und als Dienstpersonal angestellt werden und möglichst verfügbar sein müssen, wofür räumliche Nähe oder Durchmischung der Gebiete notwendig ist.

Den fünf verschiedenen Formen der Stadt lassen sich auch fünf verschiedene Gruppen zuordnen, die Grenzen und Spaltungen zwischen diesen Gruppen ordnen im weiteren Sinne das Feld der Konflikte und Spaltungen in der Stadt und in der Stadtentwicklungspolitik. Kämpfe werden nicht zwischen den homogenen Akteuren ‚oben‘ und ‚unten‘ ausgetragen, sondern zwischen den verschiedenen, zum Teil auch noch in sich fragmentierten Gruppen der ‚Reichen und Mächtigen‘, der Oberklasse, der Mittelklasse, der Arbeiterklasse und den Ausgeschlossenen. Die einzigen Gewinner der ökonomischen Veränderungen der letzten Jahre sind die ersten beiden Gruppen, die Mächtigen und die Oberklasse, die Mittelklasse dagegen schrumpft und Arbeiterklasse und vor allem die Ausgeschlossenen haben unter Einsparungen an wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und der Umstrukturierung des Arbeitsmarkts zu leiden. Die Polarisierung verschärft sich. (Vgl. ebd.: 205-207.)

Dass sich die räumliche und auch die ethnische Aufteilung der Stadt mit der ökonomischen Teilung der Stadt überlagern, führt zu einer weiteren Verfestigung und Hervorhebung sozialer Ungleichheiten. Einer der zentralen Aspekte der postfordistischen Stadt ist der besondere Charakter dieser Ungleichheiten:

[…] the relations of the occupants of each division to each other [are]: inequalities in a zero-sum-game, in which the wealth and the power of the one depend on the poverty and the subordination of the other. (Ebd.: 197.)

Dieser Charakter eines Null-Summen-Spiels beruht auf verschiedenen, zum Teil bereits erwähnten Entwicklungen: zum einen der Verdrängung von Bevölkerungsteilen aus den gentrifizierten Gebieten, zweitens der zunehmenden Polarisierung und damit der zunehmenden Größe der Ghettos bzw. der verlassenden Stadtviertel, drittens auf Konflikten innerhalb noch durchmischter Gebiete, die zur Abwanderung unerwünschter Gruppen führen, viertens der abwehrenden Haltung einzelner Viertel zueinander und der damit einhergehen Klassifizierung von Menschen qua Wohnort, fünftens auf offenen Konflikten zwischen den Vierteln (z.B. um die Ansiedlung einer unerwünschten Einrichtung), die in der Errichtung räumlicher Barrikaden enden und schließlich der Subsumierung des öffentlichen Interesses unter das Interesse von privatem Kapital, wie es sich insbesondere in der zunehmenden Rolle von Public Private Partnerships und von Privatisierungen zeigt. Eine gemeinsame Entwicklung des Stadtraums durch alle Bewohner- und NutzerInnen wird so unmöglich gemacht.

Als abschließendes Thema behandelt Marcuse den Status der unteren Gruppen. Für diese ist es entscheidend, wie ihre Lage vom ‚Rest‘ der Gesellschaft gerechtfertigt wird. Diese Zuschreibung bestimmt darüber, ob den Opfern gesellschaftlicher Umstrukturierung geholfen wird oder ob sie verdammt und ihrem Elend überlassen werden. Es lassen sich also zwei fundamental unterschiedliche Zuschreibungen des Status der Opfer unterscheiden; entweder sie werden als unschuldige Opfer der Umstände klassifiziert, wer also Arbeits- oder Obdachlos ist, ist praktisch ‚rein zufällig‘ bestimmt und damit unverschuldet, Schuld wäre vielmehr ‚die Rezession‘ oder etwas ähnliches, oder sie haben selbst schuld, weil sie Schwarze oder Türken sind, faul sind, trinken oder ähnliches. Diese stigmatisierten Opfer werden dann ausgeschlossen und verstoßen, ihnen wird nur so viel Hilfe zuteil, dass es zu keinen Unruhen kommt – und wenn es billiger ist, Unruhe und Widerstand durch Repression zu verhindern, dann wird auch dieser Weg eingeschlagen.

If increasing stigmatization can save money by justifying repression without risking loss of social control, then it is an alternative likely to be chosen. (Ebd.: 208.)

Rasse und abweichendes Verhalten und Herkunft bieten sich dabei als Gründe für Stigmatisierung an, und wenn die Personen mit diesen Merkmalen sich außerdem noch außer Sicht in einem anderen, ebenfalls stigmatisierten Raum bzw. Quartier befinden, dann fällt es noch leichter, sie zu verurteilen und Repressionsmaßnahmen zu verschärfen. Marcuse hat diesen Prozess der Opferfindung in dem folgenden Schema dargestellt, in dem auch deutlich wird, dass die Ausschließung von Opfern einen Teufelskreis weiterer Verschärfung der Spaltungen in der Stadt nach sich zieht.

Grafik


('Figure 9.1: A model of the process of victimization‘, ebd.: 206.)


Die Grenze zwischen den Ausgeschlossenen und den prekär Beschäftigten, der Arbeiterklasse oder den niedrig qualifizierten DienstleisterInnen ist sehr flüssig, ebenso wie die Unterscheidungen zwischen den benachbarten höheren Klassen – der Kampf um die Abgrenzung und die Suche nach Merkmalen, an denen die Abgrenzung festgemacht werden kann, wird dadurch um so härter. (Vgl. ebd.: 210f.) So wird der Charakter der vielfach gespaltenen Stadt noch verschlimmert und die Grenzen zwischen den einzelnen Teilen der Stadt sind Orte von Kämpfen, die unter den die Grenzen überschreitenden Straßen und Plätzen schwelen. Die vielfach gespaltene, fragmentierte Stadt ist für viele kein angenehmer Ort, sie entspricht nicht dem Bild der bunten pluralistischen Stadt, in der verschiedene Lebensstile einander tolerant gegenüberstehen.

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Exklusion oder Inklusion; neue Komplexität und der Staat

In beiden Texten arbeiten die Autoren neue Tendenzen der Stadtentwicklung heraus, von zentraler Bedeutung ist bei beiden der Begriff Ausgrenzung, im Englischen ‚exclusion‘. Auch in der deutschen Debatte wird neben dem Begriff der Armut immer öfter der Begriff der sozialen Ausgrenzung oder auch Exklusion aufgegriffen. Um diesen manchmal recht vage benutzten Begriff etwas zu schärfen, möchte ich ihn in zwei unterschiedliche Formen bringen. Die eine Form, der ich den auch in der Umgangssprache gängigen Begriff ‚Ausgrenzung‘ zuordnen würde, bezeichnet allgemein die Beschränkung des Zugangs zu einer oder mehreren Ressourcen, die nicht unbedingt von längerer Dauer sein muss. Sie macht sich, wie auch die andere Form, an stigmatisierten Opfern fest. Die Opfer der Ausgrenzung sind jedoch gleichzeitig in die Gesellschaft eingebunden und elementarer Bestandteil derselben – in diesem Fall geht mit der Exklusion Inklusion gleichermaßen einher. Die andere Form, die der Ausschließung oder, fachlicher, der sozialen Exklusion, deutet auf einen tieferen Bruch zwischen den Opfern und den ‚Tätern‘ hin. Die von dieser Form der Benachteiligung Betroffenen werden langfristig vom Zugang zu zentralen Gütern abgeschnitten, bzw. der Zugang zu diesen Gütern auf legalem Wege ist stark beschränkt. Die Zugangsbeschränkung hat mehrere Dimensionen: der erschwerte Zugang zum formellen Arbeitsmarkt und zu Bildungseinrichtungen ist in dieser Hinsicht zentral, denn ist der Ausschluss von diesen Gütern bzw. Institutionen erst einmal da, folgen weitere Ausschließungen und Deprivationen nach. Desweiteren sind die sozial Exkludierten für die übrige Gesellschaft nicht (mehr) notwendig, sie sind nicht ‚funktional‘, sie verursachen vielmehr unerwünschte Kosten. Die Exklusion ist nicht von Inklusion in die Gesellschaft begleitet. (Vgl. zur Exklusion-Inklusion-Debatte Kronauer 1998.) Ausnahmen bezüglich der Inklusion betreffen bloß das Überwachungs- und Sicherheitssystem und einige ‚Mindestversorgungen‘ durch Wohlfahrtsleistungen, diese Ausnahmen sollen jedoch bloß die Exklusion absichern, indem sie Unruhen und unangenehme, d.h. wahrnehmbare Äußerungen vom Rest der Gesellschaft fernhalten soll. Ein vielleicht berechtigter Einwand gegen eine Vorstellung sozusagen totaler Exklusion wäre, dass durch die Exklusion eines Teils der Bevölkerung die übrige Bevölkerung abgeschreckt und somit Weisungen gefügig gemacht würde. Es könnte also behauptet werden, dass das Vorhandensein von Exklusion an sich eine Funktion erfülle, weniger aber der oder die konkret Exkludierte.

Mollenkopf/Castells gehen bei ihrer Beschreibung der zweigeteilten Stadt von einer Integration der Marginalisierten aus (vgl. These II.), für diese Interpretation wäre der Begriff Ausgrenzung, wie oben definiert, das entsprechende Konzept. Die Ausgrenzung bringt zwar deutliche Nachteile mit sich, aber die Ausgegrenzten sind funktional und passen in die Struktur der postindustriellen Stadt. Sie füllen eben die wachsende Nachfrage nach billigen Arbeitskräften aus, wie sie beispielsweise durch zunehmende Integration von Frauen auch in besser bezahlte Jobs entsteht; da der Mann sie bei einer Partnerbeziehung mit Kindern nicht als Hausmann und Erzieher ersetzt ist Personal notwendig, welches sich um Haushalt und Erziehung kümmert.[7] Dieses Konzept der Ausgrenzung ist also angemessen, um die Lebensbedingungen einer Gruppe der Bevölkerung und besonders der Bevölkerung der Großstädte zu beschreiben, die sich zwar am unteren Rand der Gesellschaft befindet aber trotzdem in vielen Bereichen integriert ist, und deren (Mindest-)Integration auch aufrechterhalten wird. Bei Marcuse hingegen sind die Bewohner der Ghettos der Verstoßenen exkludiert. Allein schon die Begrifflichkeiten, die Marcuse verwendet, legen dies nahe: Verstoßene, fortgeschrittene Obdachlosigkeit, aufgegebene und residuale Stadt. Die von dieser Art der Ausgrenzung, der Exklusion Betroffenen sind nicht am unteren Rand der Gesellschaft, sondern im Keller, sie werden anhand bestimmter Stigmata ausgesucht und durch die Falltür hinabgestoßen.[8] Die Kennzeichnung der Opfer von Exklusion als ‚neben‘ oder ‚außerhalb‘ der Gesellschaft stehend ist der Situation der Opfer nicht angemessen, da sie die Hierarchie der Beziehung zwischen Exkludierten und Inkludierten nicht berücksichtigt. Auch hier heißt ‚Beziehung zwischen‘ nicht ‚Inklusion in‘, denn die eigentliche Beziehung besteht nur in der Aufrechterhaltung der Exklusion. Die Frage, ob sich ein solcher Zustand der Exklusion auf Dauer aufrechterhalten lässt oder nicht, lässt sich im Rahmen dieses Textes nicht beantworten, Marcuse prognostiziert allerdings zum Abschluss seines Kapitels, dass sich die Lage eher noch verschärfen wird. Ein weiteres Argument für die Kennzeichnung der Opfer als Exkludierte liefert Wacquant (1998), der die gegenwärtige Politik in den USA als eine ‚Politik der Kriminalisierung des Elends‘ bezeichnet.

Das Gefängnis ersetzt das Ghetto für eine Bevölkerung, die als sozial abweichend, gefährdend und auch überflüssig gilt, sowohl auf wirtschaftlicher Ebene […] als auch auf politischer […] Die Gefangenschaft ist in dieser Hinsicht lediglich die zugespitzte Erscheinungsform einer Ausgrenzungslogik, deren Stütze und Produkt von Anfang an das Ghetto war. (Wacquant 1998: 9.)

Einsperren der Exkludierten könnte ein Gipfel der Entwicklungen sein, hier wird die Repression mit dem lukrativen und staatlich bezahlten bzw. geförderten Geschäft am Bau von Gefängnissen und der Entwicklung von Sicherheitstechnologie verknüpft. (Vgl. ebd.)

Die Differenz hinsichtlich der Interpretation von Ausgrenzung zwischen Mollenkopf/Castells und Marcuse verhindert nicht, dass sie in weiten Teilen ihrer Analyse zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Sie betonen in Übereinstimmung die neue Komplexität der Verhältnisse und die entscheidende Rolle des Staates bei den stattfindenden Neuordnung von sozialem und physischem Raum. Komplexität und Fragmentierung erschweren und behinderen eine Ansammlung von Kräften zur Opposition gegen die veränderte Politik, eine Politik die sich dem Dogma der ‚systemischen Wettbewerbsfähigkeit‘ unterwirft. Gleichzeitig aber wird deutlich, dass die Veränderungen und dass Exklusion nicht von selbst oder ‚natürlich‘ entstehen, sondern daß sie politisch gewollt und entschieden werden. Als solche, politische Entscheidungen können sie allerdings auch wieder rückgängig gemacht werden. Für eine solche Richtungsänderung in der Politik sehen die Chancen nicht sonderlich groß aus. Womöglich bedarf es erst wieder einer Weltwirtschaftskrise wie am Ausgang der zwanziger Jahre, um die Zuschreibungen an die Opfer von ‚schuldig‘ zu ‚unschuldig‘ zu ändern und ihnen die entsprechende Unterstützung zukommen zu lassen (wie im ‚New Deal'). Bis dahin wird, zumindest in einer Gesellschaft wie der der Vereinigten Staaten, der Staat wohl nicht zugunsten der Opfer eingreifen. In Mitteleuropa und in Deutschland hat der Wohlfahrtsstaat eine andere Tradition, Eingriffe scheinen hier eher gerechtfertigt und eine Politik der Exklusion ist größerem Legitimationsdruck ausgesetzt und sieht sich größeren Widerständen gegenüber.

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Literatur

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Endnoten