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Zum begrifflichen Instrumentarium – Dinge und Materialität, Praxis und Performativität

Im Folgenden möchte ich einige für mein Forschungsprojekt (Exposé und Zwischenbericht) zentrale Begriffe skizzieren und sie voneinander abgrenzen und aufeinander beziehen. Dabei werde ich insbesondere versuchen, die spezifische Attraktivität der mit den jeweiligen Begriffen verknüpften Forschungsperspektiven darzustellen. Der Text beruht auf meiner allsemesterlichen Projektvorstellung im Rahmen des Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft.

Autor: Lars Frers (2004)

Ich veröffentliche diesen Text unter der Creative Commons License im Netz, da ich den Fortschritt meiner Arbeit an diesem Projekt im Web dokumentieren möchte.
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Inhalt

Dinge

Auf den Begriff des Dings bin ich vor allem durch die Lektüre wissenschaftsoziologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Texte gestossen (für mich herausragende Titel in diesem Zusammenhang sind Bruno Latours Science in Action (1987), We have never been modern (1993) und Iconoclash (2002)). Das Ding stellt sich für mich als ein Gegenüber zum Handelnden, zum Akteur dar. Akteure treten mit Gegenständen des Alltagslebens wie Tischen, Türen, Koffern, Löffeln, Spaten, Schraubenschlüsseln, Radios, Computern und anderen in Kontakt; sie bewegen und verändern die Dinge in ihrer räumlichen Lage, möglicherweise auch in ihrer Gestalt; sie nehmen die Dinge als ästhetische wahr, sie nutzen sie als Werkzeuge, möglicherweise manipulieren sie die Dinge in ihrer Funktion und führen mit den Dingen alle möglichen Handlungen aus. Im Umgang mit den Dingen vergewissern wir uns ihrer Natur. (Vergleiche die Rolle der Dinge oder Sachen in der Stoa: das Ding als Ursprung der Affektion ist Garant der Wahrheit, oder vergleiche die über das Ding vermittelte unmittelbare Erkenntnis bei William Ockham – in einem ähnlichen Sinne gelten die Dinge auch der Naturwissenschaft als Garanten von objektiver Erkenntnis und als Produzenten von Tatsachen.)

Die Dinge haben einen eigentümlichen Charakter. Oben habe ich einerseits davon gesprochen, dass die Dinge den Akteuren ein Gegenüber bilden, andererseits aber beschrieben, dass die Dinge wahrgenommen, genutzt und manipuliert werden. Einerseits hätten sie also den Status eines womöglich gleichberechtigten und aktiven Gegenübers – dann wäre der Umgang mit den Dingen ein Umgang mit Anderen, eine Interaktion mit Subjekten –, andererseits seien sie passive Gegenstände des Handelns – in diesem Sinne wäre der Umgang mit den Dingen ein Behandeln von Objekten.

In Das Kapital hat Karl Marx die unterschiedlichen Qualitäten zweier verschiedener, zu kunstvoller Architektur fähiger Baumeister vorgestellt: Menschen und Bienen.

Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. (Marx 1968: 192)

Sollte nun etwa an dieser Stelle behauptet werden, das Dinge den gleichen Status hätten wie Menschen, wenn nicht einmal Tiere einen vergleichbaren Status innehaben? Nein, darum kann es hier nicht gehen. Ich möchte im Folgenden den Dingen nicht den Status eines reflexionsfähigen Subjekts geben. Gleichzeitig sind die Dinge in meinem Verständnis keine bloßen Sachen, die dem Handeln der Menschen vollkommen ausgeliefert sind. Die Dinge treten den Menschen im Handlungsprozess praktisch gegenüber. Im Folgenden werde ich anhand der Begriffe Materialität, Praxis und Performativität versuchen, dieses Verständnis von den Dingen begreif- und diskutierbarer zu machen.

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Materialität

Im Zusammenhang dieses Textes werde ich den Begriff der Materialität nutzen, um die spezifische Festigkeit oder Widerständigkeit der Dinge wie sie in der Welt sind hervorzuheben. Damit sollen die Dinge allerdings nicht als statisch und nicht verrückbar dargestellt, sondern vielmehr der Aspekt des Gegenübertretens der Dinge im Handlungsprozess plastisch gemacht werden. Die Produktion von Dingen ist an dieser Stelle noch zweitrangig, dieser dynamische Aspekt der Produktion wird bei den folgenden beiden Begriffen im Zentrum stehen.

Hier ist die phänomenologische Gewalt der Dinge entscheidend. Die Dinge sind durch eine Vielzahl materieller Eigenschaften erfahrbar, sie haben eine Gestalt, eine Masse, eine Oberflächentextur, Elastizität, Farbe, Geruch, Geschmack… Diese materiellen Eigenschaften ermöglichen bestimmte Handlungen und schließen andere aus, sie ermöglichen sinnlichen Genuss und körperliches Leiden, sie können einen Stuhl unbequem, eine Mauer unüberwindbar, einen Türgriff angenehm, einen einseitig durchsichtigen Spiegel zum Beobachtungsinstrument, ein Bild leuchtend, die Luft stinkend, einen Mechanismus zerbrechlich, ein Molekül sichtbar und ein Geschoß tödlich machen. Die Materialität der Dinge sorgt im Prozess des Umgangs mit Ihnen für die spezifische Qualität der Handlungserfahrung, sie macht die Dinge zu etwas, das gleichzeitig ausser den Handelnden und in Ihnen ist, von Ihnen erfahren wird. Die Dinge sind somit weder bloß Objektives noch bloß Subjektives, sie und die Handelnden konstituieren sich gegenseitig im Handlungsprozess, in der Praxis.

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Praxis

Ich gebrauche den Begriff der Praxis hier weder im Sinne eines Gegensatzes zwischen Theorie und Praxis, noch im Sinne des aristotelischen Gegensatzes zwischen Praxis und Poiesis (als sittlichem Handeln und herstellendem Handeln). Statt dessen soll Praxis hier den grundlegenden Umgang mit der Welt und ihre permanente Hervorbringung bezeichnen, also eher in einem zu Hegel und Marx vergleichbaren Sinn gebraucht werden. Dieser grundlegende Umgang mit der Welt ist dementsprechend auf allen Ebenen ein historischer: auf individueller, auf gesellschaftlicher und auf dinglicher Ebene. Die individuelle Praxis ist Resultat individueller Erfahrungen und Wünsche, diese Erfahrungen wiederum finden im Kontext einer dynamisch sich wandelnden Gesellschaft statt, die Dinge schließlich sind Materialität gewordene Produkte des praktischen Einwirkens auf und Umgehens mit der Welt.

Wenn ich also davon spreche, dass die Dinge den Menschen im Handlungsprozess praktisch gegenübertreten, meine ich, dass es in der praktischen Tätigkeit keine direkte, nur in einer Richtung wirkende Macht des Subjekts über das Objekt (oder umgekehrt) gibt. Statt dessen wirken beide aufeinander ein, die Handelnde ändert das Ding auf verschiedene Arten und Weisen, sie ändert ihre Perspektive, bewegt das Ding in eine andere Position, nutzt das Ding in einem oder mehreren Funktionszusammenhängen, zerstört oder verändert das Ding. Gleichzeitig aber sorgt das Ding in seiner geschichtlich gewordenen, materiellen Gestalt, in seiner symbolischen Ausdruckskraft und seiner Ästhetik dafür, dass die Handelnde sich auf bestimmte Weise bewegt, bestimmtes tut oder nicht tut.

In diesem Verständnis von Praxis ist nicht das Wesen der Dinge von Bedeutung und es ist nicht das Wesen der Dinge, das dem Menschen gegenübertritt. Praxis ist hier ein offener Produktionsprozess, ein Prozess in den Geschichte in Form von Erfahrungen, Praktiken (auch im Foucaultschen Sinn) und Gegenständen hineinragt und in dem Geschichte in denselben Formen produziert wird.

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Performativität

Dem dynamischen Charakter des Produktionsprozesses Praxis soll der Begriff der Performativität eine spezifische Wendung geben. Ich habe im Absatz zum Begriff der Materialität den beharrenden und einschränkenden Charakter der Dinge hervorgehoben. In diesem Absatz will ich den Schwerpunkt dagegen auf den offenen und kreativen Charakter des Handelns legen.

Auch beim Begriff der Performativität ist es notwendig, Abgrenzungen vorzunehmen: weder meint Performativität hier die eine Seite des Begriffspaars performativ—konstatierend aus der Sprechakttheorie nach Austin, noch ist hier der Unterschied zwischen (Sprach-)Kompetenz und (Sprach-)Performanz wie in der Lernpsychologie oder bei Chomsky von Interesse.

Mit dem Begriff der Performativität verknüpft sich in der Perspektive meiner Arbeit folgendes:

Paten für das hier präsentierte Verständnis des Begriffs der Performativität haben Andrew Pickering (1995) und, ohne selbst den Begriff zu gebrauchen, Harold Garfinkel (1967) gestanden. Bei der Diskussion des Begriffs performativity führt Pickering die Metapher des dance of agency ein – eine Metapher, die in sehr plastischer Weise Assoziationen zu den oben aufgeführten Aspekten des Begriffs der Performativität weckt. Die andere zentrale Metapher für ihn ist die mangle (Mangel, Fleischwolf): das was in den Handlungsprozess hineingeht, ist etwas anderes, als das was dabei herauskommt. Mit Garfinkel und der Ethnomethodologie hingegen soll zum einen der sequenzielle Aspekt des Umgangs mit Dingen hervorgehoben werden und zum anderen die ständige Selbstkontrolle oder Rückbindung der Akteure an ihre Umgebung in den Blick rücken.

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Zusammenfassung

Ich hoffe, dass sich anhand dieser knappen Darstellung erkennen lässt, in welchem Sinn ich die vier genannten Begriffe einsetzen will. Alle vier Begriffe sind für mich nicht an sich von Interesse, ihr Platz in der Ideengeschichte und ihre weitergehende philosophische Bedeutung soll zurücktreten hinter den Perspektiven, die sie mir als Forscher ermöglichen. Sie dienen mir dazu, die unmittelbar weder einzufangende noch abzubildende Wirklichkeit zu umstellen,[2] dazu, die Komplexität und Vielschichtigkeit des Geschehens im Feld auch theoretisch zu reflektieren.

Mit den Begriffen Materialität und Performativität will ich sowohl Einschränkungen und Kanalisierungen als auch Offenheiten und Kontingenzen des Handlungsverlaufs rekonstruierbar machen. Die Begriffe verweisen jedoch nicht direkt aufeinander, sie bilden nicht die zwei Seiten des Handelns ab, sind nicht parallel zum Paar Struktur–Handeln zu verstehen. Sie sollen vielmehr eine theoretische Annäherung an meinen konkreten Untersuchungsgegenstand ermöglichen, sie sollen mir die Analyse komplexer und in ihren Wirkungen und Verläufen möglicherweise widersprüchlicher Handlungen und Interaktionen in einem technisch-architektonisch gestellten Raum gestatten. Für eine grundsätzliche und abstrakte Rekonstruktion von Gesellschaft müssen sie nicht unbedingt geeignet sein, für die Analyse beobachtbarer Handlungsverläufe hingegen schon.

Die Betonung der Rolle der Dinge jenseits des Dualismus von Subjekt und Objekt soll wiederum eine konzeptuelle Hilfe dafür sein, das Alltagshandeln von Menschen in einer technisierten Welt weniger intentional als prozessual, als eine Auseinandersetzung, einen Konflikt zu fassen. In wie weit ich damit nur einen Neuaufguss dessen mache, was mit dem Begriff der Praxis bei Marx schon im 19. Jahrhundert abgedeckt wurde kann ich noch nicht genau sagen – in jedem Fall scheint mir eine explizite Beschäftigung mit dem Ding als Begriff, dem Ding als Gegenüber zum Menschen im Zusammenhang meiner Arbeit als sehr reizvoll. Der Begriff der Praxis muss dabei mitgedacht werden – die Dinge sind immer auch Produkte konkreter Praktiken.

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Literatur

Endnoten