Hans Holbein der Jüngere

(Augsburg 1497/98
- London 1543)

Bildnis des Danziger Hansekaufmanns
Georg Gisze in London, 1532.
Eichenholz, 96,3 x 85,7 cm.
Gemäldegalerie Dahlem
der Staatlichen Museen zu Berlin
- Preussischer Kulturbesitz

Inhalt

    um das jeweilige Thema aufzurufen, bitte den blauen Punkt anklicken

    Vorbemerkung
    Einleitung
    Umzeichnen = sehen lernen
    Details als Ausgangspunkte
    Lebenslange Interessen wecken: das Konzept vom Lebensplan
    Die islamische Welt miteinbeziehen
    Der kleingemusterte Holbein-Teppich ...
    ... und die arabische Kalligraphie
    Zusammenfassung
    Literaturhinweise
    Online-Informationen


Vorbemerkung


Mit der Ausarbeitung dieser Webseiten wurde, wie aus der Datumsangabe am Schluss des Textes hervorgeht, bereits Ende 1995 begonnen. Im Vordergrund stand damals deren Einbindung in internetbetreute Lehrveranstaltungen während eines bevorstehenden Erasmus-Kurses an der finnischen Universität Tampere im April 1996. Einige der im folgenden aufgezeigten Beispiele und Vergleiche gehen auf diesen Sachverhalt zurück. Insgesamt basieren die Ausführungen jedoch auf Erfahrungen, die während wiederholter Seminarübungen zur Thematik am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin während der letzten zehn, fünfzehn Jahre gemacht wurden.

Es versteht sich von selbst, dass zahlreiche Querverbindungen zu anderen Themenbereichen existieren, die in diesem Zeitraum ebenfalls behandelt wurden. Wer folglich an einer Vertiefung der vorliegenden Ausführungen interessiert ist, mag also auch noch jene Bereiche zur Kenntnis nehmen. Zu nennen wären (die blauen Punkte [] sind einzeln aufrufbar) :

    Unsere Vorfahren in Notsituationen
    Ars Moriendi
    Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren und ihre Folgen
    Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit
    Internet für Ältere
    Historische Demographie
    CD-ROM-Kollektion für Forschung und Lehre

Selbst wer sich für eine solche Vertiefung nicht Zeit nehmen will oder kann, kommt um die Einsicht nicht herum, dass sich während der erwähnten letzten zehn, fünfzehn Jahre Grundlegendes geändert hat. Was bis vor kurzem - wie im folgenden ausführlich dargelegt - an Fachinformationen noch in benachbarten Universitätsinstituten oder Spezialmuseen und deren Fachbibliotheken besorgt werden musste, ist heute in augenöffnender Weise online verfügbar. Physisch haben sich die Wege verkürzt, virtuell unendlich ausgedehnt. - An grossen Onlinepforten seien in unserem Zusammenhang erwähnt (die roten Punkte [] sind einzeln aufrufbar):

    WebMuseum (mit zahlreichen Holbein-Gemälden und -Informationen)
    Carol Jacksons exquisite Sammlung (mit zahlreichen Holbein-Gemälden und -Informationen; gegebenenfalls via Bayreuth)
    Mark Hardens nicht minder exquisite Kollektion (mit zahlreichen Holbein-Gemälden und -Informationen)
    SILS Art Image Browser (U Michigan) :
      Browse by Artist
      Browse by Nationality
      Browse by Title
      Browse by Object/Type
      Browse by Medium
      Browse by Date
      Browse by Subject
    Demography & Population Studies (von der Australian National University in der WWW Virtual Library betreut)
    Islamic Texts and Resources MetaPage (U Buffalo)
    Islam on the Internet (Islamic Gateway UK)
    Islamic and Arabic arts and architecture; u. a. mit folgenden Spezialabteilungen:
      Arabic Calligraphy
      Oriental Carpets and Rugs
      Islamic Architecture
    Resource Center for Cyberculture Studies (U Maryland)
    Horus Links to History (U California); u. a. mit folgenden Spezialabteilungen:
      Architectural History
      Art History
      Topics and Periods from A to Z

Zahlreiche weitere Links sind am Ende des Beitrags zusammengestellt und anklickbar.


Einleitung


Was durch Anklicken des zentrierten Icons oben aufgerufen werden kann: - Hans Holbein des Jüngeren Gemälde von Georg Gisze, einem Danziger Hansekaufmann, der damals (1532) in London tätig war und der hier in seinem Kontor zu sehen ist - gehört an sich zum Altbestand der Staatlichen Museen zu Berlin Preussischer Kulturbesitz. In das World Wide Web allerdings gelangte es via WebMuseum (Paris). Wie ersichtlich, kann es mit zufriedenstellender Qualität über das FHI (Fritz-Haber-Institut Berlin) gespiegelt geladen werden. - Eine weitere Version ist in Mark Harden's Museum of Art zu finden, beziehungsweise via David Foxens New Yorker Spiegelung zu sehen: Directory of Holbein-Pictures : Kaufmann Gisze.

Es sei in diesem Zusammenhang grundsätzlich auf die Copyright- und Lizenzfrage, die IPR (Intellectual Property Rights in the Digital Age; aus: SEPB), die Intellectual Property Online, die WIPO (World Intellectual Property Organization) sowie die Fair Use (Guidelines for Educational Multimedia) verwiesen. - Die hiermit verbundenen Probleme zeigen sich im folgenden etwa darin, dass vergrössernde Ausschnitte von einer vergleichsweise unbefriedigenden Qualität sind. Es wurde generell immer nur auf das oben aufgeführte, im Web bereits vorhandene Material zurückgegriffen und nicht - was technisch möglich gewesen wäre - Holbein-Bilder neu eingescannt und reproduziert.

Die Gemäldegalerie und das Historische Institut sind in Berlin Nachbargebäude. Die Bildbetrachtung erfolgt somit während der heimischen Lehrveranstaltungen in der Regel vor dem Original. Es gehört zu meinen später näher erläuterten Strategien des Interesse-Weckens, derlei Standortvorteile systematisch zu nutzen. In Berlin sind diese Vorteile zugegebenermassen besonders gross. Doch lassen sich andernorts analoge Möglichkeiten finden, so dass mein Bildbetrachtungs-Modell in entsprechend abgewandelter Form jederzeit und überall realisiert werden kann, im finnischen Tampere zum Beispiel anhand von Hugo Simbergs Im Garten des Todes in der dortigen Johanneskirche (= Dom; zu Simberg vgl. auch die reichen Online-Illustrationen aus der finnischen Nationalgalerie):


Umzeichnen = sehen lernen


Holbeins Kaufmann Gisze ist weltweit stark vermarktet. Jeder kennt das Gemälde, oder meint jedenfalls, es von Tausenden von Reproduktionen her zu kennen. Dennoch halte ich es auch in solchen Fällen für notwendig, die Teilnehmer jeweils als erstes wieder sehen zu lehren. Eine gute Übung hierfür ist das Nachzeichnen. Jedes Detail muss dabei genau betrachtet werden: Wie ist die Blumenvase geformt? Welche Blumen befinden sich in der Vase? Welche Namen und Anschriften sind auf den Briefen an der Wand oder auf demjenigen in Giszes Händen zu lesen? Wie sah damals ein Kaufmannsbuch aus? Eine Dosenuhr? Ein Siegel? Eine Waage? Ein Schlüsselbund? Die Kopfbedeckung? Das Unter- und Obergewand? Die Tischdecke? Eine Bindfadenkugel?

Das Ergebnis eines solchen geduldigen Schauens und Nachzeichnens ist meist nicht "schöner" als eine Farbfoto oder ein Dia oder ein Poster (was es alles im Museums-Shop zu kaufen gibt). Doch stellt sich auf diese Weise erfahrungsgemäss viel eher ein profundes Interesse an den zahlreich entdeckten Details ein als beim blossen Fotografieren oder beim käuflichen Erwerb einer Reproduktion.

Zu den Standortvorteilen von Berlin gehört unter anderem auch, dass es praktisch für alle nur denkbaren Fragen oder Probleme entsprechende Fachleute, Spezialinstitute, wissenschaftliche Einrichtungen, hervorragende Museumssammlungen, Fachbibliotheken gibt. In Berlin käme ich gar nie auf die Idee, mir als Historiker die Rolle eines "Allgemeinpraktikers für die Vergangenheit" anzumassen.


Details als Ausgangspunkte


Somit bat ich bisher jeweils im Anschluss an das Nachzeichnen des Kaufmanns Gisze sowohl einen Kollegen vom Kunsthistorischen Institut der Universität wie auch den Fachreferenten für Altdeutsche Malerei an der Gemäldegalerie, meinen Studenten und mir die Holbeinsche Tafel vom kunsthistorischen beziehungsweise vom museumskonservatorischen Standpunkt aus zu erläutern. Hierbei hörten wir nicht nur vieles über den technischen Aufbau des Bildes, seine Formen und Farben bis hin zu Infrarot-, Ultraviolett- und Röntgenaufnahmen im Hinblick auf allfällige Vorzeichnungen oder spätere Retuschierungen, sondern wir vernahmen auch manches über die zeitgenössische symbolische Bedeutung zum Beispiel der vier Blumen im Sträusschen oder der Murano-Vase hart an der Tischkante sowie der unmittelbar daneben liegenden Dosenuhr als Zeichen der Vergänglichkeit. Zudem lernten wir allmählich den Maler und Menschen Holbein selbst und dessen Bedeutung innerhalb der Kunstgeschichte besser kennen.

Kunstwissenschafter und Gemäldegalerie-Referenten sind nun einmal jene Personen, die am meisten über Bilder wissen. Schliesslich ist es ihr Beruf, sich dauernd mit dieser Materie zu beschäftigen. Doch sind sie nicht die einzigen, die sich kompetent dazu äussern können. Da die meisten meiner Studenten Historiker sind, war es naheliegend, als nächstes jeweils eine Seminarstunde mit einem Hanse-Fachmann durchzuführen. Gemeinsam mit einem Kollegen vom Institut für Wirtschaftsgeschichte rekonstruierten wir aufgrund der Briefadressen im Bild respektive der darin zum Ausdruck kommenden lokalen Sprachbesonderheiten die Handelsverbindungen Giszes (vgl. in der Umzeichnung die Anschriften 3-7). Zudem erklärte er uns im Hinblick auf die beiden abgebildeten Kaufmannsbücher die damals übliche Buchhaltung und das Korrespondenzwesen. Wir hörten ferner von der Wichtigkeit des rechtsverbindlichen Siegelns und Stempelns, des Verschnürens und Wägens. "Nebenbei" machte er uns auch noch bekannt mit der äusserst umfangreichen Spezialliteratur zur Hansegeschichte, mit deren Fachverbänden und aktuellen Forschungsproblemen und ebenso mit neuesten archäologischen Ausgrabungsfunden in London, Hamburg, Bergen oder Danzig. "Historisches Interesse wecken und vertiefen" war hier mein Ziel.

Im Anschluss an diese eher allgemein einführenden Lehrveranstaltungen gemeinsam mit Kunst-, Hanse- und Wirtschaftshistorikern führte dann fast jeder der in der Umzeichnung mit einem Buchstaben eigens gekennzeichneten "Gegenstände" jeweils zu einer oder mehreren weiteren Spezialsitzungen. Bei der tragbaren goldenen Dosenuhr (Objekt b) handelte es sich zum Beispiel um eine der damals neuesten technischen Errungenschaften. Da das Kunstgewerbemuseum Berlin gleich über zwei derartige Original-Exemplare verfügt, führte dies oft zuerst zu einer Sitzung mit dem dort hierfür zuständigen Museumsreferenten und anschliessend zu je einer Veranstaltung mit einem Philosophen sowie einem Wissenschaftshistoriker. Ausgehend von Holbeins Dosenuhr kam hier somit das Thema "Zeitmessung" insgesamt gleich dreimal zur Sprache, und zwar von jeweils sehr unterschiedlichen Standpunkten aus.

Nehmen wir noch ein weiteres Beispiel. Die vier Blumen im Sträusschen (Objekte n1: Rosmarin - Rosmarinum officinalis, n2: Nelken - Caryophyllaceae, n3: Basilikum - Ocimum basilicum und n4: Goldlack - Cheiranthus cheiri) hatten seinerzeit keineswegs "nur" eine den Kunst- oder Mentalitätshistoriker interessierende symbolische Bedeutung, sondern sie waren von genauso grossem Interesse auch etwa für den Botaniker (vom Botanischen Museum des Berliner Botanischen Gartens sowie den Spätmittelalter-Medizin- und Pharmazie-Historiker von unserem Institut für Geschichte der Medizin. Bei Rosmarin etwa handelte es sich nicht nur um ein schon damals altbekanntes Gewürzkraut, sondern es sind sich die zeitgenössischen "Kräuterbücher" auch über dessen positive Wirkung gegen die Pest einig. So schreibt zum Beispiel Hieronymus Bock in der ersten Auflage seines 'New Kreuter Buch' 1539: "Reuch von Rossmarin zuor zeit der Pestilentz gemacht / verbessert den boesen lufft" (S. 21 vo). Nur vier Jahre später lesen wir 1543 ganz ähnlich in der Erstauflage von Leonhart Fuchsens 'New Kreuterbuch': "Das hauss zur zeit der Pestilentz mit Rossmarin gereucht / vertreibt darinn die bösen lufft" (S. 87). Man beachte die Relevanz des eben Gesagten: Hans Holbein malte das Gemälde 1532 in London. Dort sind Pestausbrüche für 1529, 1530, 1531 und 1532 belegt, ebenso anschliessend wieder für 1536, 1537 und 1543. Der letztgenannten Epidemie - 1543 - fiel Holbein schliesslich in London selbst zum Opfer!


Lebenslange Interessen wecken: das Konzept vom Lebensplan


Unterbrechen wir hier die Bildbetrachtung für einen Augenblick, um einige Hintergrundüberlegungen anzustellen. Schon nach den bisherigen kurzen Ausführungen dürfte klar geworden sein, dass es mir bei einer Bildbetrachtung keineswegs nur darum geht, den Teilnehmern zu zeigen, dass und wie Historiker Bilder als geschichtliche Quellen benutzen können. Auch wollte ich sie nicht nur wieder sehen lehren. Vielmehr war und ist es mir darum zu tun, ihren Entdeckergeist anzustacheln und ihre Interessen in ganz verschiedene Richtungen zu lenken, möglichst viele solche Interessen überhaupt erst zu wecken und sie dann auf diese oder jene Weise zu vertiefen. Dabei sollten sie vermeintlich altbekannte Bilder neu sehen und die Standortvorteile von Berlin nutzen lernen. Obwohl die Gemäldegalerie, das Botanische Museum, die Institute für Philosophie, Wissenschafts- und Medizingeschichte - alle mit ihren Schätzen und Spezialbibliotheken, ihren Fachleuten und Konservatoren - sämtlich in wenigen Minuten vom Historischen Institut zu Fuss zu erreichen sind, hatten viele Seminarteilnehmer noch nie Kontakte dorthin aufgenommen. Es war ihnen bis zu jenem Zeitpunkt gar nicht bewusst, was sie sich allein auf diesem Gebiet bislang hatten entgehen lassen.

Interessen wecken, die Augen aufmachen, sehen lehren, das eine zum anderen wie in einem Mosaik zusammenfügen lernen: dies war und ist meine Absicht bei der Bildbetrachtung. - Warum diese Emphase?

Man braucht kein Demograph oder Historiker-Demograph zu sein, um zu wissen, dass in den industrialisierten Ländern die Bevölkerung im Vierten Alter (75 oder 80 und mehr Jahre) bei weitem am raschesten zunimmt. So stieg, wie die Graphik zeigt, in Deutschland der Anteil von Männern, die ein Alter von mindestens 70 Jahren erreichten, zwischen 1871/80 und 1984/86 "nur" um 360 und von Frauen um 368 Prozent. Dagegen nahmen die Anteile von Männern und Frauen, die mindestens 80 Jahre alt wurden, um 629 beziehungsweise 834 Prozent zu. Bezüglich der mindestens 85 Lebensjahre erreichenden Männer und Frauen waren es sogar 971 und 1504 Prozent! Betrachtet man den oberen Teil der Figur noch einmal, ist ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen.

Kombinieren wir diesen Befund nun mit einem weiteren, den wir im unteren Teil derselben Figur dargestellt finden und der den Suizidologen seit langem (nicht nur für Berlin) bekannt ist: im Vierten Alter kommt es in vielen industrialisierten Ländern zu einer fast explosionsartigen Zunahme von "erfolgreichen" Selbsttötungen, bei den Männern noch ausgeprägter als bei den Frauen. Das eben erwähnte rasche Ansteigen von Personen jenseits der 75, 80 Jahre in diesen gleichen Ländern hat deshalb zwangsläufig zur Folge, dass immer mehr Menschen in diese Risikopopulation aufrücken. Wenn nichts Unerwartetes eintrifft, wird ein grösserer Anteil Jugendlicher denn je 75, 80, 85 Jahre und noch mehr erreichen.

Ohne hier auf die vielfältigen Ursachen dieses Alterssuizid-Booms eingehen zu können, sollte in unserem Zusammenhang doch bedacht werden, dass sich manche Probleme des Vierten Alters grundsätzlich von den Problemen des Dritten Alters (der Jahre zwischen etwa 60/65 und 75/80) unterscheiden. Im Vierten Alter lassen in vielen - keineswegs allen - Fällen die körperlichen Kräfte und damit die physischen Kapazitäten zusehends nach. Der im Dritten Alter heutzutage durchaus noch mögliche, ein Leben lang kultivierte Aktivismus muss dann zwangsläufig abnehmen. Wer sein Leben lang jedoch in erster Linie oder gar ausschliesslich physische Interessen pflegte (Reisen, Wandern, Tennisspielen usw.), läuft dann grosse Gefahr, in eine entsetzliche geistige Leere zu stürzen, und zwar selbst in einem goldenen Käfig materiellen Wohlstands oder gar Überflusses. Wer dann nicht auf gut verankerte, sinnstiftend erfüllende geistig-kulturelle Interessen zurückgreifen kann, wird sich leicht die Frage stellen, warum er nicht der Sinnlosigkeit anscheinend überflüssiger Jahre ein Ende setzen soll.

Die Selbsttötungen älterer Menschen sind, im vielfachen Gegensatz zu den Selbstmordversuchen jüngerer Personen, selten "demonstrative Handlungen". Sie wählen effektivere Tötungsmethoden, und sie überleben suizidale Handlungen angesichts ihres fortgeschrittenen Alters seltener.

Es ist nicht meine Sache, jemanden am Ende eines - nach eigenem Dafürhalten - "reich erfüllten langen Lebens" von einem Suizid abzuhalten. Ich zweifle jedoch daran, dass eine solche positive "Lebenssattheit" (im Sinne von: "Nun kann es genug sein. Ich habe alles auf der Welt gehabt, wofür es sich zu leben lohnte") und eben nicht die erwähnte Sinnlosigkeit und geistige Leere stets die Ursache für den Suizid-Entschluss im hohen Alter ist. (Zur biblischen Lebenssattheit vgl. gemäss Online-Suche in der Luther-Bibel : 1. Mose 25,8, 1. Mose 35,29, 1. Chronik 23,1, 2. Chronik 24,15 sowie Hiob 42,17.)

Lässt sich vorbeugend etwas gegen eine solche Leere im Vierten Alter tun? Ich meine ja! Mit der oben exemplizierten Weise von Bildbetrachtung lassen sich bei Seminarteilnehmern schon in jungen Jahren geistig-kulturelle Interessen unterschiedlichster Art wecken und durch intensives Behandeln verankern. Diese eingepflanzten Interessen sollten anschliessend ein Leben lang weitergepflegt, vertieft und intensiviert werden, so dass daraus auch im Vierten Alter bei nachlassenden körperlichen Kräften noch Erfüllung zu erwachsen vermag. Ich nenne das "den Lebensplan". Bei der Entwicklung und Realisierung dieses Konzepts muss man sich bewusst sein, dass wir in den industrialisierten Ländern sowohl historisch die ersten wie auch weltweit die einzigen sind, die unser Leben von einem relativ kalkulierbaren späten Ende her leben können - oder könnten, wenn wir es täten. Bisher hat uns niemand vorgeführt, wie man das macht. Seitdem mir der Inhalt der gezeigten Figur vor einigen Jahren in seiner brutalen Kombination klar geworden ist, habe ich meine sämtlichen universitären Lehrveranstaltungen für Angehörige aller Generationen geöffnet und wähle ich die dabei behandelten Themen entsprechend diesem Konzept vom "Lebensplan" aus. Bezogen auf Teilnehmer des Zweiten Alters ("normale" Studenten) werden Interessen geweckt und verankert; im Hinblick auf gleichzeitig anwesende Teilnehmer des Dritten und Vierten Alters werden sie vertieft und erweitert.


Die islamische Welt miteinbeziehen


Mit der Wahl von Holbeins Hansekaufmann Gisze hatte ich jedoch noch eine weitere Entwicklung im Auge, von der die kommenden Generationen - unter anderem also auch die meisten unserer "normalen" Studenten - immer stärker betroffen sein werden.

Betrachtet man die Curricula unserer Schulen oder auch viele universitäre Lehrgänge, kommt man leicht zur Auffassung, als ob für uns noch immer beinahe ausschliesslich der "europäische Teil der Welt" (d. h. inklusive Nordamerika und Australien-Neuseeland) von Belang und Wichtigkeit wäre. Es liegt mir nichts an Polemik; auch bin ich in keiner Weise "europamüde". Selbst wenn andere Kulturen älter sind und längere Traditionen haben - und uns das die Chinesen oder Inder bei entsprechenden Diskussionen auch gerne wissen lassen -, so lohnt es sich eben doch und bezugnehmend auf Bildbetrachtungen sogar sehr, wenigstens vorübergehend immer wieder unsere europäisch-abendländische Kultur ins Zentrum zu stellen. Hier haben wir schliesslich unsere Wurzeln, und hier sollen wir auch verwurzelt bleiben. Ein Leben lang ist uns diese Welt am nächsten und am vertrautesten. Im Vierten Alter bleibt oft fast nur noch sie für uns übrig. Je stärker wir in dieser eigenen Kulturwelt verwurzelt und verankert sind, um so weiter können wir uns in andere Kulturwelten vorwagen, ohne Gefahr zu laufen, uns darin zu verlieren und als Entwurzelte orientierungslos durchs Leben zu irren.

Trotz diesem Plädoyer für eine solide Verankerung in der europäisch-abendländischen Kultur will ich jedoch keiner Scheuklappen-Mentalität das Wort reden. Nach meinem Dafürhalten sollten wir nicht länger so tun, als ob wir allein auf der Welt wären. Im Verhältnis zu anderen Weltbevölkerungsgruppen schrumpft unser Anteil sogar immer mehr. Entsprechend werden andere immer stärker. 1980 machte der "europäische" Anteil an der Weltbevölkerung im Hinblick auf die Grossregionen (in der Figur links zu sehen) noch 23,0 % aus. Bis ins Jahr 2100 wird er auf 11,8 % schrumpfen. Bezogen auf die grossen Geistesströmungen (in der Figur rechts) geht das "Christentum" im gleichen Zeitraum von 31,1 % auf 20,2 % zurück. Umgekehrt steigt zum Beispiel der Anteil des Islam von 18,0 % auf 40,1 % (hervorragende Online-Informationen u. a. durch die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, insbesondere deren Statistische Länderinformationen).

Abgesehen von dieser massiven Umverteilung in der Zusammensetzung der Weltbevölkerung während der allernächsten Generationen kommt für unsere Studenten hinzu, dass die Welt für sie immer kleiner wird: medien-, kommunikations-, reise-, letztlich also auch und vor allem mentalitätsmässig. Was liegt für uns verantwortliche Hochschullehrer somit näher, als auch im Hinblick auf die Bildbetrachtung Konsequenzen hieraus zu ziehen? Konkret meine ich damit - in Fortsetzung dessen, was oben ausgeführt wurde -, Interessen nicht nur für verschiedenste Belange der europäisch-abendländischen Kulturwelt zu wecken, zu pflegen, zu vertiefen, zu erweitern, sondern ebenso für Belange anderer Kulturen. Mein Ziel hierbei ist es, zum einen Verständnis für Probleme zu fördern, die nur noch interkulturell, ja nur noch global gelöst werden können (Typ: Abholzung des Regenwaldes, religiöser Fundamentalismus, weltweite Migration).

Zum anderen habe ich jedoch erneut mein Konzept des Lebensplans vor Augen. Angehörige des Zweiten und zum grossen Teil auch noch des Dritten Alters werden ihre immer häufiger werdenden Reisen rund um den Globus, in dieses oder jenes ferne Land anschliessend anders gestalten. Sie werden versuchen, die zuerst bei uns geweckten und eingepflanzten Interessen für herausragende Hervorbringungen anderer Kulturen dann dort an Ort und Stelle gezielt zu vertiefen - und zum Beispiel in Goa, Thailand, Brasilien eben nicht nur am Strand zu liegen. Wer jahrzehntelang "in seinen besten Jahren" des Zweiten und Dritten Alters auf diese Weise gereist ist, wird anschliessend im Vierten Alter bei einem gezwungenermassen sehr viel stärker eingeschränkten Aktionsradius dann jedoch bei uns in praktisch jedem Land der industrialisierten Welt eine gewaltige Ernte einfahren können.

Nicht selten befinden sich nämlich höchste Hervorbringungen anderer Kulturen in Sammlungen des Abendlandes, das heisst in nächster Nähe: in unseren Museen, Galerien, Bibliotheken, Archiven. Hier aber sind sie auch im hohen Alter noch erreichbar, häufig sogar unter wesentlich angenehmeren Bedingungen als an Ort und Stelle - in klimatisierten Räumen, mit guter Beleuchtung, pädagogisch hervorragend präsentiert, schliesslich auch mit einer einladenden Cafeteria zum Entspannen, Ausruhen und Sichsammeln.

Das Interesse an solchen Hervorbringungen anderer Kulturen, das tiefere Verständnis dafür, das dahinter stehende motivierend antreibende Wissenwollen muss jedoch viel früher, in möglichst jungen Jahren gepflanzt worden sein. Nur dann kann es sich auch in den späten Jahren noch sinnstiftend, lebenserfüllend auswirken. Erst im Vierten Alter hiermit beginnen zu wollen, ist zu spät.


Der kleingemusterte Holbein-Teppich ...


Kommen wir zu unserem Beispiel, den Hansekaufmann Gisze zurück. Auch seine Wahl erfolgte vor dem eben erwähnten interkulturellen Zusammenhang. Konkret ging und geht es hier darum, Interesse für den rapide wichtiger werdenden islamischen Kulturkreis zu wecken. Vor der Unterbrechung der Bildbetrachtung waren wir oben auf einen "Gegenstand" noch gar nicht eingegangen, obwohl ihn uns Holbein am unteren Bildrand direkt vor die Nase hält (Gegenstand "a"). Bei dieser Tischdecke handelt es sich eigentlich um einen anatolischen Teppich. Holbein war damals (1532) weder der erste, noch der einzige Maler, der Orientteppiche in seine Gemälde einbezog. Das europäische Interesse an solchen Teppichen hatte bereits zu seinen Zeiten eine lange Tradition. Aus naheliegenden Gründen, das heisst aufgrund alter intensiver Handelsbeziehungen tauchen sie besonders früh und besonders häufig in den Werken italienischer Meister auf (vgl. entsprechende Gemälde zum Beispiel in den Online-Sammlungen des Vatikans). Allerdings hat Hans Holbein "seine" Teppiche wiederholt mit einer solchen Genauigkeit gemalt, dass diese besondere Gattung anatolischer Teppiche in der Fachsprache noch heute "Holbein-Teppiche" heisst. Es gibt grossgemusterte Holbeins und kleingemusterte Holbeins, wobei die typischen Oktogone bei den "kleingemusterten Holbeins" kleiner und deshalb meist zahlreicher sind als bei den "grossgemusterten Holbeins".

Wiederum nutzte und nutze ich auch hier den Standortvorteil von Berlin. Zum grossen Museum-Komplex in Berlin-Dahlem gehört nicht nur die Gemäldegalerie mit Holbeins Kaufmann Gisze. Unter demselben Dach befindet sich Museum für Islamische Kunst. Zu den permanenten Schaustücken gehören dort unter anderem auch ein "kleingemusterter Holbein" sowie ein "grossgemusterter Holbein". Wie von selbst ergaben sich hieraus bisher wiederum zwei eigene Seminarsitzungen, und zwar unter kundiger Leitung des zuständigen Referenten für Orientteppiche. Ein besonderes Erlebnis für die Teilnehmer war hier zudem, dass ihr einmal gewecktes Interesse anschliessend noch durch einen zweimaligen Besuch "hinter den Kulissen" in den Magazinbeständen des Museums für Islamische Kunst vertieft werden konnte. Dort gibt es nämlich eine Reihe von hervorragenden Fragmenten gross- und kleingemusterter Holbeins.

Noch bevor jeweils die Umzeichnung des kleingemusterten Holbein-Teppichs nach dem Original im Museum für Islamische Kunst zustande kam, war bislang stets eine weitere Seminarsitzung ausser Hause notwendig geworden, und zwar im Institut für Mathematik. Unter der Leitung des zuständigen Professors für Geometrie und Kombinatorik nahmen wir eine gründliche Formanalyse des Teppichmusters vor. Dabei wurde einsichtig, dass es offenbar in erster Linie dieser klare Aufbau nach strengen geometrischen Gesetzen ist - und weniger "nur" die Farben, die Grösse, die Repräsentanz von Orientteppichen -, was uns Menschen im Abendland seit Jahrhunderten daran so fasziniert. Hierdurch wird unser "analytische Geist" angesprochen.

Viele Teilnehmer an diesen Spezialsitzungen - mich inbegriffen - haben seit ihrer Gymnasialzeit keine dermassen anregenden Mathematikstunden mehr erlebt. Interessen in verschiedenste Richtungen wecken und vertiefen!


... und die arabische Kalligraphie


Im vorliegenden Zusammenhang will ich von hier aus einen einzigen Aspekt noch etwas ausweiten. Er knüpft an die Punkte 6 und 7 der Teppich-Umzeichnung an. Aus der dazughörigen Legende geht hervor, dass es sich bei dem geometrischen Flechtwerk der Bordüre eigentlich um eine umlaufende arabische Inskription im sogenannten Kufi-Duktus handelt. Genau hier liegt die Scharnierstelle zwischen dem Interessewecken an Belangen abendländischer Kultur, die bei der Gisze-Bildbetrachtung aus guten Gründen nun so lange im Zentrum stand, und dem Interessewecken an Belangen der islamischen Kultur. Schönschrift hat in der islamisch-arabischen Welt einen weitaus höheren Stellenwert, als dies in unserer eigenen Kultur der Fall ist. Kalligraphie steht innerhalb der islamischen Kunst sogar auf oberster Stufe. Interesse erzeugen und Verständnis wecken für arabische Kalligraphie führt somit direkt ins Zentrum dieser anderen Kultur. Teppiche tun das nur auf Umwegen.

Die Barriere zur arabischen Kalligraphie scheint für die meisten von uns anfangs unüberwindbar zu sein. Wer kann bei uns schon arabische Schriftzüge lesen? Und wer kennt schon die Koranverse, die allermeist den Inhalt bilden? Doch lasse sich niemand von diesen Mankos abschrecken. Man braucht nicht auf den Standortvorteil von Berlin angewiesen zu sein, um allenthalben auf Personen zu treffen, die beides können. Selbst arrangierte ich jeweils zuerst eine entsprechende Einführungssitzung im Institut für Islamwissenschaft der Universität und anschliessend eine weitere im Museum für Islamische Kunst. An beiden Orten erhielten wir vorzügliche Orientierungen über die Grundzüge und das Wesen arabischer Kalligraphie. Das Ergebnis dieser Sitzungen ist in der Zusammenstellung von Beispielen arbischer Kalligraphie festgehalten.

Schon nach den erwähnten beiden Sitzungen waren die Teilnehmer in der Lage, die wesentlichsten Schreibformen arabischer Kalligraphie zu identifizieren. Niemand verwechselte beim anschliessenden erneuten Rundgang durch das Museum für Islamische Kunst einen geometrischen Kufi-Duktus mit einem schwungvollen Schriftzug in Tulut. Damit aber war die Grundlage für Aha-Erlebnisse auch in diesem schwierigen Bereich gelegt. Mit etwas Übung konnten alsbald auch zeitliche und räumliche Lokalisierungen der allüberall vorkommenden arabischen Schriftzüge richtig vorgenommen werden. Das konkrete Interesse war bei den meisten Teilnehmern geweckt. Viele vertieften es anschliessend von selbst, indem sie wiederholt ins Museum zurückgingen und ausserdem die angeschlossene Spezialbibliothek aufsuchten. Zudem liessen sie sich arabische Handschriften in der Manuskriptabteilung der Staatsbibliothek vorlegen und vertieften sich in deren herrliche Schriften.

Beim nächsten Besuch in der islamischen Welt werden diese dermassen vorbereiteten Menschen bestimmt nicht nur durch den Bazar einer Stadt schlendern oder sich nur an den Strand legen. Sie werden von sich aus zum Beispiel auch Moscheen aufsuchen und sich an den dort zu entdeckenden Schriftzügen in Kufi, in Tulut, in Maghribi, in Naskhi erfreuen. - Interesse für vollendete Hervorbringungen anderer Kulturen wecken!

Solches Sich-Erfreuen an Ort und Stelle ist aber nicht Endzweck. Reisen in islamische Weltgegenden dürften bei den wenigsten Menschen industrialisierter Länder auch im Vierten Alter noch auf dem Programm stehen. Wer jedoch ein Leben lang gelernt hat, sich an der unerhörten Schönheit arabischer Kalligraphie zu erfreuen und deren grundlegende Bedeutung für die islamische Kulturwelt verstanden hat, wer dieses einmal geweckte Interesse auf Reisen im Zweiten und Dritten Alter an Ort und Stelle vertiefte und sich immer weiter sachkundig machte, der braucht auch im Vierten Alter oder gerade dann nicht auf diese Schönheit zu verzichten. Dutzende, Hunderte herrlichster arabischer Kalligraphien werden längst in den Sammlungen abendländischer Bibliotheken, Archive, Museen aufbewahrt und stehen dort zur Einsicht bereit. Diese Einrichtungen aber kann man allermeist auch im Vierten Alter noch aufsuchen und sich an den Kostbarkeiten delektieren. Nur: wer das zuvor nie gelernt hat, wird es dann kaum neu tun.

Man halte sich hier noch einmal die brutale Aussage der Kombinationsfigur von Alterssuizid und zunehmender Risikopopulation vor Augen und überlege sich erneut die dort gestellte Frage, ob man nicht vorbeugend etwas gegen eine geistige Leere im hohen Alter tun könne.

Man kann!


Zusammenfassung


An einem einzigen Beispiel, dem Hansekaufmann Georg Gisze von Hans Holbein dem Jüngeren versuchte ich klarzumachen, worum es mir als einem Historiker oder spezieller einem Historiker-Demographen bei der Bildbetrachtung geht. Hauptziel ist stets das Wecken von tiefwurzelnden Interessen bei den Veranstaltungsteilnehmern in verschiedenste Richtungen. Der kunsthistorische Aspekt ist bei einer Bildbetrachtung für mich nur einer unter vielen anderen Punkten. Selbstverständlich muss er gebührend berücksichtigt werden, denn Kunsthistoriker verfügen aus beruflichen Gründen allermeist über den grössten relevanten Wissensfundus. Anschliessend aber sollten so viele Aspekte wie nur immer möglich in inter- und pluridiszplinärer Weise behandelt werden. Es sollten verschiedenste kompetente Fachleute zu Rate gezogen, relevante Institute, Museen, Bibliotheken, Archive, wissenschaftlich-kulturelle Einrichtungen usw. aufgesucht werden. Die Standortvorteile sind hierbei voll auszuschöpfen.

Ursache für ein solches, von der konkreten Bildbetrachtung ausgehendes breitgefächertes geistig-kulturelles Interessewecken ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen in unseren industrialisierten Ländern nicht nur das Dritte, sondern auch das Vierte Alter erreichen. Während im Dritten Alter die lebenslang gepflegten Interessen physischer Art allermeist noch weiterverfolgt werden können, so ist dies im Vierten Alter zusehends weniger der Fall. Wer dann nicht auf tief verwurzelte, tragfähige geistig-musisch-kulturelle Interessen zurückgreifen kann, läuft grosse Gefahr, in eine entsetzliche geistige Leere zu stürzen. Die starke Zunahme von Selbsttötungen im Vierten Alter scheint hiermit in einen Zusammenhang zu stehen. Als Vorbeugung dagegen wird in diesem Beitrag das Konzept vom Lebensplan erörtert: verschiedenste Interessen insbesondere auch geistig-musisch-kultureller Art in jungen Erwachsenenjahren wecken und sie anschliessend ein Leben lang erweitern und vertiefen, so dass sie auch im Vierten Alter einen Menschen beim Abnehmen physischer Möglichkeiten noch zu erfüllen vermögen und sinnstiftend wirken können.

Die Auswahl der zu betrachtenden Bilder sollte in einer Weise vorgenommen werden, dass sie zum einen im oben erwähnten Sinne möglichst vielfältige Interessen an Belangen der europäisch-abendländischen Kultur zu wecken vermögen. Zum anderen aber sollten sie über den europäischen Kulturraum hinausführen können, denn der Anteil der "europäisch-abendländisch-christlichen" Population an der Welt-Gesamtbevölkerung verringert sich im Laufe der nächsten Generationen rapide. Eurozentrisches Denken und Verhalten sind hierbei obsolet. Es scheint mir besser, dass wir uns auf diese vorauszusehende Entwicklung einstellen, als uns, vor allem aber die uns nachfolgenden Generationen hiervon überrollen zu lassen. Als Hochschullehrer tragen wir für sie die Verantwortung. Historiker sein heisst nicht nur, vergangene Entwicklungen zu erforschen, nachzuzeichnen und zu interpretieren. Wenn wir dabei auf tiefgreifende Veränderungen stossen, die im Gange sind und deren sich abzeichnende Weiterentwicklung für uns und andere heute und morgen Relevanz hat, dann sollten wir auch Konsequenzen ziehen und handeln. Unsere Welt ist dermassen reich an kulturellen Schätzen, dass auch ein sehr langes Leben niemals ausreichen wird, um sie auszuschöpfen. Es wäre jedoch nicht nur schade, wenn wir diese Schätze in unserem Leben weitestgehend überhaupt ungenutzt liessen, sondern auch, sich angesichts ihrer Überfülle darin zu verlieren.

Um abschliessend nochmals auf die Bildbetrachtung zurückzukommen, so haben die meisten Bilder einen festen Rahmen. Aspekte, die im Laufe einer Bildbetrachtung aufgegriffen werden, sind somit verankert. Sie haben feste Bezugspunkte und verfügen über ein regelhaftes Koordinatennetz. Selbst wenn wir - ausgehend von Holbeins Kaufmann Gisze - im Laufe vieler Seminarsitzungen so unterschiedliche Aspekte aufgriffen wie die symbolische Bedeutung von Blumen im 16. Jahrhundert, deren medizinhistorische Relevanz, die Entwicklung des Zeitbegriffs und der Zeitmessinstrumente in der Neuzeit, analytische Geometrie anhand kleingemusterter Holbeinteppiche, die Stellung der arabischen Kalligraphie in der islamischen Kunst und andere mehr, so gehörten doch alle diese Aspekte zusammen. Keiner von ihnen schwebte sozusagen im luftleeren Raum.

Auch unser Leben sollte - gemäss dem Lebensplan - einen festen Bezugsrahmen haben. Wie beim Kaufmann Gisze sollte jeder Aspekt seinen Platz im Lebensmosaik erhalten und das Ganze am Ende der vielen Jahre einen zusammenhängenden Sinn ergeben: Reife des Lebens und nicht ein Ende in Sinnleere und Suizid.


Literaturhinweise


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Hinweis: Im Wintersemester 1996/97 bot Professor Dr. Knut Schulz vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin ein Hauptseminar an zum Thema: Wirtschaftliche Verflechtungen im Hanseraum: Kaufmannsfamilien / Handwerkerwanderungen. Auch nachträglich empfiehlt es sich für Interessenten sehr, diesbezüglich Kontakt mit ihm aufzunehmen.


Online-Informationen


Tuesday, 26. December 1995 - 08:52:10
Last revision: Thursday, 12. June 1997 - 08:08:25

© A. E. Imhof 1997