Copyright © Stephan Käppler
TAZ vom 300689 Seite 15

Ein Leben lang für "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"

Die Autobiographie "Prager Frühlingserwachen" des
Wirtschaftstheoretikers Ota Sik ist nicht nur die Geschichte seines
Lebens, sondern auch ein Stück Partei- und Theoriegeschichte

Ota Sik saß in einem türkischen Dampfbad und schwitzte. Blasen blubberten.
Dampf stand in der Luft. Thermale Quellen speisten das Bassin. Feuchte Hitze
stach in Nasen und nährte saftige Pflanzen. Doch auch hier hieß es kämpfen.
Denn ein schwitzender Ökonom Haberler aus Österreich machte das Wasser
streitig. Warf mit ökonomischen Begriffen nach seinem sozialistischen
Widersacher, der in der Badehose am Beckenrand saß. Aber Sik ließ sich von
antikommunistischen Feindseligkeiten und Haßtiraden nicht einschüchtern. Er
tauchte nicht unter, hier nicht. Das Wasser ist für alle da. Und die
Arbeitslosigkeit in Österreich, die Klassengesellschaft. Stichworte, die
tönend von den verzierten türkischen Kachelwänden wiederhallten und Haberler
schweratmend unter Wasser trieben.

Das ist eine der eher heiteren und angenehmeren Episoden aus den 50er Jahren
in dem kampf- und entbehrungsreichen Leben von Ota Sik das nun als
Autobiographie in gebundener Ausgabe vorliegt und nachzulesen ist.
Prager Frühlingserwachen nannte der heute in St. Gallen lebende und
lehrende Wirtschaftstheoretiker Sik seine Memoiren. Das liest sich wie ein
spannendes Geschichtsbuch.

Sik, 1919 in Pilsen geboren, erinnert sich hier an seine Jugend in Prag in
den 30er Jahren, an den Widerstand gegen die faschistische Besatzung, die
darauffolgende Verhaftung und die mit ständiger Todesangst verbundene Zeit im
Konzentrationslager Mauthausen. Er reflektiert kritisch die Versuche und
Umstände, in den 50er Jahren eine kommunistische Gesellschaft nach
stalinistischem Vorbild aufzubauen. Er berichtet von seinem daran
anschließenden langjährigen und zähen Ringen um Wirtschaftsreformen, die dann
als und im Prager Frühling mit Dubcek realisiert werden konnten.

Die Zeit nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings
durch die Truppen der "Warschauer Pakt" -Staaten wird weniger ausführlich
behandelt. Das hat seinen Grund in der an außergewöhnlichen Ereignissen eher
armen Forschungstätigkeit des Ökonomen in den 70ern, als deren Ergebnis die
Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Modells einer sozialistischen
und demokratischen Wirtschaftsordnung zu verzeichnen ist.

Früh schon wurde Ota Sik als Schulabgänger Mitglied der KP der
Tschechoslowakei. Die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit und sozialer
Gegensätze, die Sik persönlich zu spüren bekam, veranlaßten ihn an der Seite
einer kommunistischen Partei für eine bessere und gerechtere Gesellschaft
einzutreten. Trotz Arbeitstätigkeit und Fortbildungskursen fand der Prager
Jungkommunist noch Zeit und Muße, Franz Werfel, Max Brod, Rilke und Kafka zu
lesen.

Öfter verließen er und seine Freundin noch spät abends die gemeinsame
Dachkammer, um in der Prager Altstadt in verschlissenen und verrauchten
Kellerlokalen Jazzkonzerte zu besuchen. In dieser Zeit träumte Sik von einer
Zukunft als bildender Künstler, verehrte Max Beckmann, malte viel und nahm
Stunden für Zeichnen und Malen.

Dann kamen Soldaten, Faschisten, Deutsche, Wehrmacht. Schluß war mit Jazz und
Beckmann. Der junge Kommunist Sik ging in den Untergrund, wurde Kämpfer im
Widerstand, organisierte geheime Treffen, druckte Flugblätter und wurde
verhaftet. Das hieß KZ, hieß Mauthausen. Aber der Kommunist war auch ein
Jude. Das hieß Vernichtungslager. Nur ein Zufall rettet ihn. So schleppte
sich Sik durch Steinbrüche, versuchte im Arbeitslager Strukturen aufzubauen
und Kontakte zu anderen Kommunisten zu knüpfen, wie zum Beispiel zu dem
späteren KP-Chef Novotny.

Nach dem Krieg wurde Sik von der KPC stark gefördert, da fähige und
kompetente Leute gebraucht wurden. Schnell stieg Sik vom Studenten an der
Hochschule für Politik und Sozialwesen in Prag, über die Erlangung eines
Lehrstuhls für Ökonomie an der Parteihochschule zum Professor am Institut für
Gesellschaftswissenschaften des ZK auf. Gleichzeitig mit seinen engagierten
Studien, seinem beruflichen Weiterkommen und dem Aufstieg in der
Parteihierarchie, machten sich bald Zweifel breit an der absoluten
Richtigkeit der offiziellen Parteilinie.

Denn nach einigermaßen freien Wahlen im Jahre 1946 wurden andere Parteien
schnell verboten, und auch in der CSSR kam es zu einer Zwangsvereinigung mit
der Sozialdemokratie. Das bedeutete die Erschaffung eines stark an der
stalinistischen UdSSR orientierten Gesellschaftssystems. Das schloß die
stalinistischen Umgangsformen innerhalb der Partei mit ein: In einer
Säuberungswelle wurden Anfang der 50er Jahre zahlreiche führende Kader -
begleitet von teils offen antisemitischen Hetzkampagnen - verhaftet und kurze
Zeit später hingerichtet.

Doch erst die auch durch schiefe Statistiken und gefälschte Pläne nicht mehr
zu kaschierende allzu offensichtliche Stagnation und Unterentwicklung ließen
Sik über die tieferen, strukturellen Gründe der Mißwirtschaft nachdenken. Sik
suchte nach Auswegen, schlug Dezentralisierung und mehr
Eigenverantwortlichkeit der Betriebe vor. Er beharrte auf mehr und echten
Mitbestimmungsrechten. Die Parallelen zu Perestroika und Gorbatschow sind
nicht zu übersehen.

Da zu selben Zeit auch in der UdSSR unter Chruschtschow eine
"Tauwetter-Periode" Reformüberlegungen hervorrief, ließ man Sik in der CSSR
auch aufgrund mangelnder Alternativen gewähren. Nach langjährgem und zähem
Ringen stimmte die Partei 1962 schließlich der Gründung einer
Forschungskommission zu, der Sik vorstand und deren Mitglieder demnach auch
von Sik bewußt nach ihrem Reformwillen herangezogen wurden. Die hier
erarbeiteten Vorschläge zu ökonomischen Strukturveränderungen boten später
die Grundlage des ökonomischen Programms des Prager Frühlings mit
der Einführung einer makroökonomischen Verteilungsplanung, sozialistischer
Marktwirtschaft mit antimonopolistischer Zielrichtung und der Schaffung von
Selbstverwaltungsorganen in den Betrieben.

Diese Gedanken führte der tschechische Wirtschaftstheoretiker in den 70er
Jahren fort, nachdem er aufgrund der Entmachtung aller führender
Reformpolitiker und Repräsentanten des Prager Frühlings durch die
kommunistischen Besatzungsmächte nach dem August 1968 nach einigem Hin und
Her schließlich in die Schweiz emigrierte. Hier im kapitalistischen Westen
entwickelte er ein wissenschaftlich fundiertes Modell eines funktionalen
Wirtschaftssystems, dessen auf einen demokratischen Sozialismus hinzielende
Richtung hier nur grob mit den Stichworten Kapitalneutralisierung,
selbstverwaltete Mitarbeitergesellschaften und makroökonomische
Verteilungsplanung umrissen werden kann. Nachzuschlagen sind diese
Stichwörter in Siks vor zehn Jahren erschienenem, unter Mithilfe eines
Mitarbeiterstabs entstandenem Hauptwerk Humane Wirtschaftsdemokratie
oder in dem 1985 veröffentlichten schmaleren Buch Ein
Wirtschaftssystem der Zukunft. Siks wirkliche Leistung besteht nicht zuletzt
darin, daß er sich vor und nach seiner Emigration nie als Kronzeuge für die
massenhaft vorhandenen Antikommunisten im Westen mißbrauchen ließ. Nie wandte
er sich - ebensowenig wie Alexander Dubcek - von den Zielen eines
"Sozialismus mit menschlichem Antlitz" ab, immer widersprach er Theoretikern,
die bis heute eine zwanghafte Verbindung zwischen Sozialismus und Unfreiheit,
zwischen klassenloser Gesellschaft und wirtschaftlicher Unterentwicklung
behaupten.

Stephan Käppler

Sik, Ota: "Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen", Herford 1988, 384 Seiten,
42 DM; Busse & Seewald-Verlag

 zurück zu Veröffentlichungen             zurück zur homepage