Auszug aus: Klaus Schmitt: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten?;
Karin Kramer Verlag; Berlin; 1989; ISBN 3-87956-165-6

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Günter Bartsch

 

SILVIO GESELL, DIE PHYSIOKRATEN UND DIE ANARCHISTEN

Über Silvio Gesell sind die wildesten Gerüchte in Umlauf. Für die einen
war er Kommunist, für die anderen ein Neo-Liberaler. Manchen dünkt er
sogar als Faschist (1) und Hurra-Patriot. Hielten ihn viele seiner Zeitgenos-
sen für einen Revolutionär, so erscheint er heute auch als zahnloser Refor-
mer, dem es lediglich um eine feste Währung ging. Wer war er, und was
wollte er wirklich?

Marktwirtschaft oder Kapitalismus?

Gesell wollte zunächst Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Aber sogar
die meisten Anarchisten fürchten sich vor dem "anarchistischen" Charak-
ter des Marktes wie kleine Kinder vor dem Schwarzen Mann, den Onkel
Marx an die Wand gemalt hat. Bei den Kommunisten ist die Ablehnung der
Marktwirtschaft völlig verständlich. Solange sie existiert, können Produk-
tion und Handel von ihnen nicht kontrolliert, geschweige dirigiert wer-
den. Aber die Anarchisten sind für Spontaneität und Initiative. Wer für ei-
ne freie Gesellschaft ist, kann keine Planwirtschaft wünschen, die jeden
einzelnen in den Schraubstock spannt.
Die Anarcho-Syndikalisten sind seit jeher für Arbeiterselbstverwal-
tung. Marktwirtschaft ist eine Art kybernetisches System, das auf Selbst-
steuerung und Rückkoppelung beruht. Diese beiden Mechanismen sind
jedoch schon lange von den Schlingpflanzen kapitalistischer Konzerne,
Trusts und Preiskartelle umwuchert und gehemmt.
Das Marxsche Kapital war ein Großangriff auf die Marktwirtschaft, der
den Kapitalismus intakt ließ (Lenin begrüßte die Monopole sogar als Vor-
stufe einer kommunistischen Gesellschaft). Gesells Natürliche Wirt-
schaftsordnung war ein Großangriff auf den Kapitalismus, der die
Marktwirtschaft intakt ließ und sie aus den monopolistischen Schlingen
wieder befreien wollte. Darin unterschied er sich als Ökonom von allen
anderen.
Der Kapitalismus beruht aus seiner Sicht nicht auf dem Privateigentum
an Produktionsmitteln und auf Lohnarbeit, wie Marx behauptete, son-
dern auf Zins und Grundrente, welche arbeitslose Einkommen ermögli-
chen. Die Abschaffung des arbeitslosen Einkommens war Gesells Grund-
bestreben. Darauf zielte auch die ursprüngliche Arbeiterbewegung, bis
sie in die Hände der Doktoren und Ideologen fiel. Diese orientierten sie
auf die Eroberung der politischen Macht um.
Gesell warnte davor, den Markt als Freiraum der Initiativen und Spon-
taneität aller Produzenten abzuschaffen. In der UdSSR und anderen Län-
dern wurde gerade die Unterdrückung der Marktwirtschaft zur Grundla-
ge des Staatskapitalismus.

Biographische Vorgeschichte

Silvio Gesell wurde 1862 in St. Vith an der deutsch-belgischen Grenze ge-
boren. Die Eltern, ein Rentmeister und eine Lehrerin, reichen den unge-
wöhnlich strammen Jungen bei Essen im Bekanntenkreis scherzend als
"Dessert" herum. Silvio ist von den sieben Geschwistern am unterneh-
mungslustigsten. Er streift durch die umliegenden Wälder und Täler. Aus
einem Hohlweg bringt er zuweilen Ringelnattern mit, die sich um seine
Arme winden. Mit seinem Lieblingsbruder Hermann schmuggelt er auch
Waren über die Grenze, die eigentlich verzollt werden müßten.
Im Elternhaus wird bei jeder Mahlzeit und vor dem Schlafengehen ge-
betet. Silvio wächst in diesen Ritus hinein. Aber als die Großmutter in ih-
rer Strenge sagt, der Vater werde wegen seiner Nachlässigkeiten im Fege-
feuer schmachten müssen, da empört er sich zum erstenmal. Zwei seiner
Schwestern treten katholischen Orden bei; sie gehen ins Kloster. Er und
sein Bruder Ernst bilden in ihrer Lebensfroheit das weltliche Gegenge-
wicht.
Mit 16 Jahren, nachdem er das Gymnasium besucht hat, tritt Silvio in
den Postdienst. Alsbald schlägt er Verbesserungen vor. Sie stoßen bei den
Vorgesetzten auf taube Ohren. Da hält er sich nicht länger auf und quit-
tiert den Dienst, der fast allabendlich durch eifrige Selbststudien ergänzt
worden ist.
Silvio geht als Korrespondent in die spanische Hafenstadt Malaga: Auf
seinen Wanderungen findet er ein Chamäleon, das seine Neugier reizt. Er
schickt es an den Hamburger Zoo, der an weiteren Sendungen interes-
siert ist und sie auch honorieren will. Aber die Post durchkreuzt das Tier-
fangunternehmen; sie will nichts Lebendiges mehr transportieren.
Silvio reist nach Berlin und macht dort ein Examen, durch das er seine
Militärdienstzeit auf ein Jahr reduzieren kann. Die Kaserne ist ihm ein
Greul, die Uniform ein Zwangskorsett. Nach Beendigung seiner Dienst-
zeit geht er nach Braunschweig, wo er auch seine spätere Frau Anna
Boettgen kennenlernt. Er arbeitet dort als Korrespondent bei einer Ma-
schinenfabrik, aber sie drängt ihn, sich eine eigene Existenz aufzubauen.
Zu diesem Zweck schifft er sich 1886 nach Argentinien ein, mit einer
Kiste voll zahnärztlicher Instrumente aus dem Berliner Geschäft seines
Bruders Paul. Ein Zimmer in Buenos Aires ist bald gefunden. Aber Silvio
muß zunächst auf dem Tisch schlafen, da kein Bett darin steht. Tagsüber
klappert er als eine Art Hausierer die Zahnärzte ab. Schneller als erwartet
sind die Instrumente verkauft. Silvio eröffnet eine Geschäftsfiliale. Sein
Handel blüht. Anna Boettgen kann nachkommen. Um eine kirchliche
Trauung zu umgehen, reist das Brautpaar ins benachbarte Uruguay. Als
Trauzeugen für das Standesamt holt es sich zwei völlig Unbekannte von
der Straße.
Die Ehe ist fruchtbar und die Hauptnahrung Fleisch. Bis Silvio bei ei-
nem Kunden eine Broschüre des Pfarrers Kneipp entdeckt, die auf der
Stelle gelesen wird. Als er nach Hause kommt, steht wieder ein Braten auf
dem Mittagstisch. Silvio packt ihn und wirft ihn kurzerhand zum Fenster
hinaus. "Fort mit dem Gift!" Von da ab gibt es bei Gesells meist vegetari-
sche Gericht. Aber zuweilen braucht Silvio doch eine saftige Rinder-
oder Hammelkeule. Alles Dogmatische und Sektiererische erscheint ihm
kleinlich.
Er möchte Farmer, Naturforscher, Kaufmann und Philosoph zugleich
sein; Handel und Industrie dienen mehr der eigenen Daseinslust als dem
Gewinnstreben. Gesell baut eine Kartonagefabrik auf, ist jedoch zu kei-
ner Zeit ein Großindustrieller. Mit einem Teil des Vermögens, das er er-
wirbt, kauft er ein 2.000 qm großes Grundstück am La Plata und dazu eine
Insel. Mit einem anderen Teil des Geldes finanziert er seine eigenen
Schriften. Der dritte Teil fließt zu Freunden und Verwandten, die großzü-
gig unterstützt werden.
Gesell ist eigennützig, aber nicht selbstsüchtig. Diese Unterscheidung
geht in seine Lehre ein. Der Eigennützige folgt dem Selbsterhaltungs-
und Selbsterweiterungsdrang, der Selbstsüchtige dem Ausbeutungs- und
Profittrieb. So stehen sich auch Eigenwirtschaft und Kapitalismus gegen-
über. Gesell schreibt: "Der Kurzsichtige ist selbstsüchtig, der Weitsichtige
wird in der Regel bald einsehen, daß im Gedeihen des Ganzen der eigene
Nutzen am besten verankert ist."
Eigennutz erscheint ihm als berechtigt und unausrottbar, als dynami-
sche Grundlage der künftigen Eigenwirtschaft, in der allen die gleiche
Ausrüstung für den Wettstreit beschafft werden muß. Die Eigen- oder
Freiwirtschaft ist mit Privilegien unvereinbar. Durch deren Abschaffung
wird der Eigennutz in die gleichen Startbedingungen aller eingebunden
und auf diese Weise demokratisiert. (2)

Ein Faschist?

Faschismus ist Staatsvergottung - Gesell ist für den Abbau des Staates.
Er bedeutet Führerherrschaft, während Gesell die Volksherrschaft will.
Er zerschlägt die Organisationen der Arbeiter, denen Gesell den Weg zur
Befreiung der Arbeiter zeigen möchte.
Gesell ist zwar für die "Fortzucht des Menschengeschlechts", aber kei-
neswegs im Sinne einer Rassentheorie, welche die Völker in höherwertige
und minderwertige einteilt, wie das später beim Nationalsozialismus der
Fall sein wird. Auf dem Freiland eines jeden Landes können sich Men-
schen aller Hautfarben - "ob gelb, weiß, rot oder schwarz" - gleichbe-
rechtigt ansiedeln. Natürlich auch Juden, die nach Wegfall jeglicher Be-
schneidung ihrer Rechte von ihrem Ghettodasein erlöst sein werden. Die
künftigen Freilandfrauen sollen sich aus sämtlichen Rassen jene Partner
auswählen, mit denen gesunde, lebensfrohe und schöne Kinder am wahr-
scheinlichsten sind, wozu im voraus empfohlen wird, ihren Männerwahl-
kreis auf die ganze Welt auszudehnen. (3)
Gesells Hochzucht-Idee hat sicher etwas Befremdendes. In ihr zeichnet
sich eine Spur des Sozialdarwinismus ab. Jedoch richtet sie sich vor allem
gegen Ehen mit Alkoholikern, von denen es heißt, sie könnten ihre Zer-
rüttung auf ihre Kinder übertragen. Die Frauen sollten immer höhere An-
sprüche an die Qualitäten des Mannes stellen. Dann werden - wie Ge-
sell glaubt - auch die Kinder laufend "einen Grad fröhlicher, natürli-
cher..., ausdauernder und konzentrationsfähiger". Noch ist die Partner-
wahl durch die patriarchalische Ehe in die Hände des Mannes gelegt.
Diese Macht muß gebrochen werden. Im Freilandgebiet soll niemand
mehr verheiratet sein. Alkoholiker werden "keine Frauen mehr finden,
die ihre ekelhafte Gesellschaft dulden, darum in der Regel auch keine
Nachkommen hinterlassen". Entscheidend für die natürliche Auslese ist
die freie Liebeswahl der Frauen. Hochzucht hängt bei Gesell nicht von
Rassenhygiene oder gar von der Ausmerzung artfremder Elemente ab,
sondern hauptsächlich von der freien Frau. Er ist kein Faschist, eher ein
Feminist. Das physiokratische Freiland hat einen matriarchalen Zug. (4)
Zur freien Liebeswahl der Frauen soll der freie Wettbewerb unter den
Männern und darüberhinaus aller treten. Wenn sich diese beiden Kraft-
pole der natürlichen Auslese innerhalb der menschlichen Gesellschaft
aufeinander einschwingen, platzen die Eiterbeulen, die größten Pro-
bleme - Staat, Klerus, Überbevölkerung, Krieg. Gesell erhoffte sogar
die Abschaffung der Gefängnisse, Irrenanstalten und Krankenhäuser. Sie
sind ebenso "Wahrzeichen unserer Schande" und Symptome der Degene-
ration wie Ärzte, Apotheker, Quacksalber aller Art. Indes denkt er auf
weite Sicht: "Was eine tausendjährige Fehlzucht verpfuschte, das mag ein
weiteres Jahrtausend wieder gut machen." Eine physiokratische Euge-
nik, begründet auf freie Liebeswahl und freien Wettbewerb, wird jedoch
die Ursachen der Degeneration beseitigen. Sie soll sich dabei aller künst-
lichen Eingriffe - wie Sterilisierung und Empfängnisverhütung - be-
wußt enthalten. Gesell möchte der natürlichen Auslese freie Bahn schaf-
fen. Nicht auf der Tierstufe, sondern als Ansporn zu immer besseren und
höheren Leistungen, die den Tüchtigen nach oben bringen und seine stär-
kere Fortpflanzung begünstigen. "Arbeit ist die einzige Waffe des gesitte-
ten Menschen."

Die Physiokraten - Neo-Anarchisten?

Daß Gesell ein Anarchist gewesen sein könnte, darauf ist bisher kaum je-
mand gekommen. (5) Mir selbst erscheint diese Bezeichnung am berechtig-
sten. Sie stimmt nicht absolut, dies ebensowenig wie etwa für Leo Tolstoi,
hat jedoch die meisten Tatsachen und Belege hinter sich.
Gesell nennt sich freilich lieber Physiokrat. Dieser Begriff klingt zu-
nächst etwas "bürgerlich". Die klassischen Physiokraten waren eine
Denkschule des 18. Jahrhunderts, der es um eine natürliche Wirtschafts-
und Völkerordnung ging. Sie wandten sich gegen den staatsdirigistischen
Merkantilismus, welcher als erste Form einer zentralen Verwaltungswirt-
schaft in Erscheinung trat. Ihre wichtigsten Köpfe - Quesnay, Turgot,
Mirabeau - und drei andere fielen in der Französischen Revolution un-
ter der jakobinischen Guillotine. (6)
Gesells Denken ist eigenständig, braucht die Rückbindung an die ur-
sprünglichen Physiokraten nicht. Doch wird er sich mit Georg Blumen-
thal darüber einig, daß seine Anschauung am ehesten als Neo-Physiokra-
tie bezeichnet werden könnte. Dieser Begriff ist schon in Benedikt Fried-
länders Werk über 'Die vier Hauptrichtungen der modernen sozialen Bewe-
gung' aufgetaucht und liegt gleichsam in der Luft. Tradition kann nicht
schaden. Außerdem gehört die Freiwirtschaftslehre zur modernen sozia-
len Bewegung. Bildet sie darin eine fünfte Richtung aus? Gesell wendet
sich allerdings mit seiner ersten Zeitschrift 'Die Geldreform' (7) vor allem an
wirtschaftliche Fachkreise. Martin Hoffmann schreibt später, ein wenig
nachtragend, Gesell habe anfangs die revolutionäre Rolle des Proletariats
völlig übersehen. (8)
Georg Blumenthal übersieht sie gewiß nicht. Er will Gesells Lehre, von
der er fasziniert ist, in das industrielle und intellektuelle Proletariat hin-
eintragen. Schon durch ihren ersten Anhänger kommt sie in Verbindung
zum Anarchismus.
Blumenthal steht diesem nahe. Bereits als Handwerksbursche hat er
anarchistische Flugblätter und unabhängige sozialistische Zeitungen ver-
teilt. Durch Friedländer lernt er Landauer und Mackay kennen.
Zunächst spricht er im Kreis der Berliner Indiviudalanarchisten, um
den Samen der Gesellschen Lehre auszustreuen. Kurz darauf fällt diese
Vereinigung auseinander, und ein Teil ihrer Mitglieder, sogar der Begrün-
der Bernhard Zack, wird zu Physiokraten.
Wenig später hält Blumenthal einen Vortrag bei den Anarcho-Syndika-
listen. Hier stößt er vereinzelt auf entschiedenen Widerspruch, aber im
allgemeinen auf so lebhaftes Interesse, daß sich die Diskussion über drei
bis vier Abende hinzieht. Wieder gibt es Übertritte, anscheinend noch
mehr als im ersten Fall. Maria Rapp, die Tochter Blumenthals, schreibt
darüber: "Aus diesem Kreis stammen die Kameraden Hanisch, Krause,
Funke, Sanke, Otto Stolz und andere." Nach Hans-Joachim Führer, ei-
nem Sohn Silvio Gesells, sind auch Hans Timm, Richard Batz und Martin
Hoffmann, welche sämtlich eine große Rolle in der Bewegung für Frei-
land, Freigeld und Festwährung (FFF) (9) spielen werden, vom Anarchis-
mus gekommen. Aus meiner eigenen Kenntnis sind noch Rolf Engert
(Stirner-Individualist) und M. I. Bonn (Syndikalist) benennbar.
Aus diesen beiden Kerngruppen und einigen anderen Personen bildet
sich der Grundstock einer neuen sozialen Sonderbewegung. 1909 gründet
Blumenthal zunächst den Verein für physiokratische Politik. Gesell tritt
ihm von Argentinien aus bei und schickt 200 Mark für den Anfang. Am
liebsten möchte er den Verein auf "eine kleine, auserwählte Schar" be-
schränken. Er soll nicht aus Mitgliedern aller Parteien, sondern aus bissi-
gen Kämpfern bestehen, die sich "entschlossen gegen alle Parteien wen-
den". Doch die Entwicklung nimmt einen etwas anderen Lauf.
Blumenthal baut 1909/10 einen physiokratischen Verlag auf, der als er-
stes Gesells Hauptwerk 'Die natürliche Wirtschaftsordnung' herausgibt.
Die Presse will es totschweigen, aber dennoch springen Zündfunken von
ihm ab, welche die FFF-Bewegung in Gang bringen.
Im Mai 1912 erscheint 'Der Physiokrat.' (10) Durch diese Zeitung werden
Dr. Christen, Otto Maaß und andere gewonnen. Die erste Nummer ist
durch ein langes Gedicht von Georg Blumenthal über Mammons Sturz
eingeleitet. Das Geld soll nicht mehr herrschen, sondern künftig dienen.
1913 wird der gewachsene Verein in die Physiokratische Vereinigung
umgebildet. Sie setzt sich die "Umbildung der kapitalistischen Wirtschaft
in eine ausbeutungslose, freie Volkswirtschaft" zum Ziel. Die Mitglied-
schaft ist auf freie Vereinbarung gegründet. Das Statut könnte von einer
anarchistischen Gruppierung sein. Über die organisatorische Form heißt
es:

Anarchistischer geht es nicht mehr. Die Gruppen sind autonom; sie ha-
ben keine Vorstände, sondern Beauftragte. Es gibt auch keinen Zentral-
vorstand, nur einen Beauftragten, der als Geschäftsführer lediglich koor-
diniert und Informationen vermittelt. Disziplinarstrafen liegen fern. Da-
für soll ein Wechselspiel von Mehrheiten und Minderheiten laufend neue
Ideen bringen. Jeglichem Zentralismus ist vorgebeugt. Die Mitglieder
werden nicht auf eine bestimmte Ideologie oder Weltanschauung festge-
legt. Das Statut ist ausdrücklich als "Flugschrift" abgefaßt, da das Ziel
"nicht durch starre Dogmen und Einseitigkeit" erreicht werden könne.
Nach verschiedenen Zwischenstufen entsteht 1924 der Physiokratische
Kampfbund, welcher erklärt, daß zugleich mit der Zinsknechtschaft die
"allgemeine öffentliche Staatsknechtschaft" beseitigt werden muß. Ge-
sell schreibt eigenhändig das 11-Punkte-Programm. Darin steht:

Das ist ein anarchistisches Programm, bis auf den Satz von der "Abbau-
diktatur, die auf ihre eigene Überflüssigmachung mit Tempo hinarbeitet".
Bakunin hätte ihn allerdings billigen können. Er dachte in dieser Hinsicht
ähnlich wie Gesell, der ihm in manchen Zügen glich. Beide legten einen
weiten Weg zum Anarchismus zurück. Zunächst Bejaher des Staates, ran-
gen sie sich nur allmählich zu dessen grundsätzlicher Verneinung und zum
positiven Streben nach einer herrschaftslosen Ordnung durch. Diese bei-
den Seiten ergeben zusammen das Hauptmerkmal des Anarchisten.
Der Physiokratische Kampfbund hebt Gesell auf seinen Schild. Wäh-
rend der Weltwirtschaftskrise führt er im Ruhrgebiet, in Hamburg und in
anderen Großstädten Massenversammlungen zur Schaffung einer antika-
pitalistischen Front durch. Hierbei soll Gesell mehrfach durch jeweils
Tausende von Arbeitern zum Währungsdiktator ausgerufen worden sein.
Seit seiner Beteiligung an der Bayrischen Räterepublik als Volksbeauf-
tragter für Finanzen ist er weithin bekannt, sowohl berühmt als auch be-
rüchtigt. Auch eigene Anhänger haben diese Beteiligung mehr oder weni-
ger scharf kritisiert. So schrieb Dr. Ernst Hunkel in Deutsche Freiwirt-
schaft (Mai 1919): "Wir bedauern Gesells Schritt aufs tiefste. Deutschland
ist nicht Rußland, und ob hier der Bolschewismus unabwendbares Ver-
hängnis ist, ist doch sehr die Frage." Schlimmer konnte Gesell kaum miß-
verstanden werden.

Der Volksbeauftragte

Georg Blumenthal wünscht mit Gesell vor allem die Gewinnung sozialde-
mokratischer Arbeitermassen. Im Februar 1918 gelingt es ihm, Ernst Nie-
kisch von den Vorzügen der Eigen- und Freiwirtschaft zu überzeugen.
Darauf verspricht dieser - in einem handschriftlichen Brief vom 26. Fe-
bruar 1918 - "innerhalb der Partei für sie zu werben". Er meint die SPD,
in der er einen guten Ruf hat und zu deren einflußreichen Mitgliedern er
noch gehört. Ernst Niekisch ist eine repräsentative Gestalt der deutschen
Revolution. Anfang 1919 wird er zum Präsidenten des Zentralrats der Ar-
beiter-, Soldaten- und Bauernräte Bayerns gewählt. (13)
Die Bildung dieser revolutionären Körperschaft geht der Bayrischen
Räterepublik von 1919 voraus, welche einen anarcho-sozialistischen Cha-
rakter hat, bevor sie von den Kommunisten übernommen und usurpiert
wird. Ihre erste Phase ist durch Kurt Eisner (USPD), Gustav Landauer
(Anarchist) und Ernst Niekisch geprägt.
Auf Vorschlag der beiden letzteren wird Silvio Gesell am 7. April 1919
zum Volksbeauftragten für Finanzen gewählt oder bestimmt. Schon am
nächsten Tag tritt er sein Amt an, unterstützt von den freiwirtschaftlichen
Beiräten Th. Christen und Professor Polenske (USPD). Dieses Kolle-
gium bereitet für Bayern sogleich umstürzende Reformen vor. Aber sie
haben nur fünf Tage Zeit.
Als erstes will Gesell mit durchgreifenden Mitteln die Währung sanie-
ren. Aus einem Telegramm an die Berliner Reichsbank geht seine gehei-
me Hoffnung hervor, dies für ganz Deutschland tun zu können. Doch Ber-
lin schweigt. Gesell erläßt eine Verordnung, wonach für die Räterepublik
nur das Freigeld in Betracht kommt, "durch das der Zinsfuß automatisch
sinkt und die Löhne entsprechend steigen". Eine nähere Begründung er-
spart er sich, verweist nur auf die "reichhaltige Literatur des Freiland-
Freigeld-Bundes" - ein verhängnisvoller Fehler.
Die Bamberger Zeitung veröffentlicht eine kleine Notiz, wonach Ge-
sell die Beschlagnahme aller Sparkassen- und Bankguthaben beabsich-
tigt. Diese Notiz bringt nach Ernst Niekisch die Bevölkerung Bayerns "bis
zum kleinsten Sparer hinunter gegen die Räterepublik auf". Dabei will
Gesell das Sparen ermutigen.
Der Volksbeauftragte für Finanzen kündigt zweitens eine 75%ige Ver-
mögensenteignung an sowie die 100%ige Einziehung aller Restvermögen
über 300.000 Mark zugunsten der Räterepublik. Die allgemeine Enteig-
nung, wie sie Blumenthal in Berlin vorschlägt, lehnt Gesell ab, weil sie,
seines Erachtens nach, von dem freiwirtschaftlichen Hauptziel wegführen
würde, den Zins in einem Kapitalmeer zu ersäufen. In München sieht er
eine seiner Aufgaben darin, "den kapitalistischen Betrieb zunächst von
den Wunden des Krieges zu kurieren, um ihm sodann den Kopf abzuschla-
gen." (14)
Eine dritte Erklärung zeigt, daß Gesell und seine Mitarbeiter nur gegen
den Zwangskommunismus, aber nicht gegen den Gemeinschaftskommu-
nismus sind. Keineswegs. "In einem sozialisierten Staate wird Raum ge-
nug für kommunistische Gemeinschaften sein. Noch selten ist die Zeit für
den Kommunismus so reif gewesen wie jetzt. Der Kapitalismus hat die
Kommunisten erdrosselt, die Freiwirtschaft wird ihnen Raum und Arbeit
schaffen... Jeder wird die freie Wahl haben, Kommunist oder Individua-
list zu sein." Im Rahmen der Eigen- oder Freiwirtschaft sind nicht nur pri-
vate, sondern auch kollektive Unternehmen möglich. (15)
Am 13. April wird das freiwirtschaftliche Arbeitskollegium verhaftet
und eingesperrt, aber in der Nacht durch einen Trupp der Roten Garde
wieder befreit. Nun sind die bayrischen Kommunisten zur Herrschaft ge-
kommen. Sie lösen sogleich den Zentralrat der Arbeiter-, Soldaten- und
Bauernräte auf und ersetzen ihn durch einen 15-köpfigen Aktionsaus-
schuß. Damit ist im Grunde auch die Räterepublik abgeschafft.
Gesell und seine Beiräte gehen am 14. April gleichwohl wieder an die
Arbeit. Sie wollen ihre Posten erst verlassen, wenn "das große Werk der
Neuordnung unseres zerfahrenen Geldwesens und der Neuaufbau des
bayrischen Wirtschaftslebens gesichert ist" (gemeinsame öffentliche Er-
klärung). Deshalb sind sie bereit, ihre Tätigkeit sowohl unter dem kom-
munistisch orientierten Aktionsausschuß als auch im Rahmen der sozial-
demokratischen Regierung Hoffmann fortzusetzen. Aber der erste setzt
den Volksbeauftragten ab, die zweite ignoriert das Angebot und schickt
Truppen auf München.
Gesell und Christen werden nach dem Einmarsch abermals verhaftet
(wie Polenske schon in Bamberg). Ein Trupp Soldaten führt sie die Send-
linger Straße durch eine grölende und drohende Menge ab, irgendjemand
tritt vor und speiht Christen ins Gesicht. Ein anderer schlägt Gesell mit
seinem Stock den Hut vom Kopf. Der Leutnant traktiert beide von hinten
mit Gewehrstößen und befiehlt den Soldaten: "Wenn einer ausreißen
will, dann sofort mit dem Kolben drauf, aber gleich mitten auf den Schä-
del!" Steht den Verhafteten dasselbe Schicksal wie Landauer bevor? Sie
schweben in großer Lebensgefahr. Jede Bewegung kann als Fluchtver-
such ausgelegt werden.
Das Gericht spricht Gesell aber frei, weil er kein Spartakist ist (wie der
Leutnant angenommen hatte) und überzeugend erklärt: "Ich wollte die
Wirtschaft wieder aufbauen. Die Regierungsform, ob Räterepublik oder
parlamentarische Demokratie, war mir weniger wichtig." (16) Das klingt
pragmatisch, wenn nicht gar zynisch. Dennoch hat Gesell ein Ideal.

Der Akrat

In gewisser Hinsicht war die Bayrische Räterepublik ein anarchistisches
Großexperiment - das bisher einzige in Deutschland -, und Gesell hat
es vor Gericht indirekt verteidigt. Er ist gegen den Parlamentarismus. In
der FFF-Bewegung empfiehlt er direkte Aktionen wie Gebärstreik der
Frauen und Generalstreik. Die Parteien lehnt er grundsätzlich ab. Indem
er auch die staatlichen Schulen und Akademien aufheben will, geht er
noch weiter als traditionelle Anarchisten.
Der Physiokrat dünkt ihm konsequenter und lebendiger als diese. In ei-
nem Artikel aus dem Jahre 1913 (in 'Der Physiokrat') umschreibt er ihn als
"linken Flügelmann" der sozialen Bewegung. (17)
Indes stößt Gesell auch in der FFF-Bewegung und selbst im Physiokra-
tischen Kampfbund auf Leute, die durchaus nicht so progressiv sind. Ihn
enttäuscht schon ihre bürgerliche Kleidung. Schließlich tritt er sogar aus
dem Psysiokratischen Kampfund aus, um seine Enttäuschung kundzutun.
Aber er selbst hat, obwohl er schon Anfang 1919 den Abbau des Staates
vorschlug, noch im gleichen Jahr die Schaffung eines Reichswährungsam-
tes empfohlen. Das wäre womöglich ein Ersatzstaat und eine bürokrati-
sche Institution geworden. Manche Leute halten diesen Vorschlag für das
letzte Wort Gesells und als bezeichnend für einen verschämten Etatismus
der FFF-Bewegung.
Gesells letzte große Schrift (1927) - Der abgebaute Staat - ist jedoch
zwei "Pionieren einer herrschaftslosen, menschlichen Gesellschaft" ge-
widmet (Paul und Ilse Klemm). Und im Vorwort schreibt er: 1919 "mußte
ich noch einen Rest oder Schatten des Staates bestehen lassen, weil ich für
die akratische Lösung des Geldproblems noch keine befriedigende Lö-
sung gefunden hatte. Ich mußte die Währung einem Währungsamt über-
geben... Diesen Mangel (eigentlich war es nur ein Schönheitsfehler) glau-
be ich jetzt... behoben zu haben!" (18)
Gesell illustriert die physiokratische Ordnung an einem real-utopi-
schen Freilandmodell. Zum Leitstern dieser Ordnung ist ihm nun der
Akrat geworden. Dieser wird als "Vollmensch" bezeichnet und dem "Teil-
menschen" gegenübergestellt. Der Akrat ist für Gesell das höchste Pro-
dukt der geschichtlichen Entwicklung und das potenzreichste Resultat
der menschlichen Evolution. Er charakterisiert ihn als einen Empörer,
der "jede Beherrschung durch andere ablehnt". Ihm ist nicht nur eine frei-
heitliche Überzeugung, sondern auch ein freiheitlicher Lebensstil eigen;
zu einem anderen wäre er gar nicht mehr imstande.
Gesell spricht sogar von einer "akratischen Gesellschaft". Seines
Erachtens ist sie nur auf eigenwirtschaftlicher Grundlage entwicklungsfä-
hig. Sie soll den restlosen Abbau des Staates vollbringen und bedarf kei-
ner Zentrale. In der Freiland-Utopie gibt es lediglich einen Mütterbund.
Gesell wendet sich gegen den destruktiven Anarchismus, der eine neue
Gesellschaft mit Gewalt herbeizwingen will und selbst vor terroristischen
Akten nicht zurückscheut. Gerade deshalb, weil ihm dieser zu seiner Le-
benszeit noch vorzuherrschen scheint, spricht er lieber von Akratie. (19) Sie
ist jedoch gleichbedeutend mit einer herrschaftlosen Ordnung. Akratie
und Anarchie sind synonyme Begriffe. Ihre Regulatoren heißen bei Ge-
sell Eigennutz, natürliche Auslese und freier Wettstreit, gegenseitige Hil-
fe, freie Vereinbarung und freie Liebe.
Die ersten drei Punkte sind für die Ohren der traditionellen Anarchi-
sten und selbst der neuen Anarchos Alarmsignale. Aber haben nicht
schon Stirner den Eigennutz und Kropotkin den freien Wettstreit empfoh-
len?
Allerdings fällt das Verständnis für Gesell schwer, wenn er von Faust-
recht und Richter Lynch spricht. Wie ist das gemeint? Wo der Staat mit
all seinen Beschützern und Justizanstalten wegfällt, muß der einzelne sein
Recht auf eigene Faust suchen. Wer ihn schädigt, wird von seiner Nach-
barschaft festgenommen und verurteilt. Die Ausführung des Urteils, im
gegebenen Fall auch eine Hinrichtung, übernimmt der Geschädigte.
Doch da er dem Schädiger direkt gegenübertreten muß und ihn folglich
auch als Menschen wahrnehmen kann, läßt er ihn vielleicht laufen, söhnt
sich gar mit ihm aus. Nicht "Auge um Auge", wie im alten Recht der Blut-
rache, sondern Auge in Auge soll entscheiden. So verstehe ich Gesell.
Seine Humanität ist zuweilen in begriffliche Brutalitäten verpackt, die
sehr anstößig wirken, seine Terminologie struppig und offenherzig zu-
gleich. Sentimentalitäten liegen ihm fern. Schwächlinge und Feiglinge
verachtet er.
Auch Kropotkin forderte die Aufhebung der Gesetze staatlicher Ge-
richte. Doch sehr wenige Anarchisten sind sich über die Folgen klar. Mir
scheint, nur Gesell stellt sich den Konsequenzen. Er allein bejaht sie und
arbeitet sie in sein Gesellschaftsmodell ein, wobei er trotz erschreckender
Begriffe nach sozialen Formen (wie den Nachbarschaftsgerichten) sucht.
So verfährt er in vielen Bereichen mit Wechselbädern von warm und kalt.
Jede Gemeinde und Stadt soll ihr eigenes Strafrecht haben: "Es kann
nichts schaden, wenn der Einbrecher in Berlin zu seiner Besserung eine
Rente bekommt, während Hamburg dafür die Prügelstrafe einführt." (20)
Anscheinend möchte Gesell viele Rechtsformen und -praktiken neben-
einander stellen, damit sie sich wechselseitig erproben und abschleifen
können. (21)
Er ist ein leidenschaftlicher Liebhaber des vielströmigen Lebens, das
sich hinter keinen Zaun bringen läßt. Auch Nestor Machno und Emma
Goldman verstanden unter Anarchie einfach freies Leben, für das der An-
archismus alle Hindernisse aus dem Weg räumen sollte. Manche Metho-
den Machnos behagen Gesell nicht. Er spricht daher bewußt vom Abbau
des Staates, nicht von seiner Zerstörung. Abbau ist kein "Niederreißen
ohne Winkel und Lot", sondern ein "bedachtsamer, planmäßiger Vor-
gang", der dort beginnen soll, "wo die Volkspsyche die geringsten Wider-
stände bietet", denn manche Staatsdomänen haben tiefe Wurzeln im
Volk.
Gesells Begriff des Akraten ist an den Abbau gebunden und an den Auf-
bau der wahrhaft freien Gesellschaft. Ein Revolutionär, der nur zerstört,
erscheint ihm als halber Mensch, der im Negativen steckenbleibt.
Sein Staatsbegriff von 1927 hat klassische anarchistische Züge: "Der
Weg zur Akratie führt selbstverständlich über die Leiche des Kapitalis-
mus, denn Kapitalismus heißt Ausbeutung, und der Ausbeutungsapparat
bedarf zu seinem Schutze einer zentralisierten Macht; diese Macht heißt
Staat." (22) Fast ebenso hat Bakunin vor den Delegierten der I. Internatio-
nale gesprochen.
Die anderen drei Regulatoren der akratischen Gesellschaft sind jedem
Anarchisten so vertraut, daß er sich mit ihnen identifizieren kann. Indes
verwechselt er in der Regel freien Wettstreit mit rücksichtsloser Konkur-
renz, die gegenseitige Hilfe ausschließt.
Gesell ist der Ansicht, daß gerade "die Abwesenheit jeder öffentlichen
Fürsorge den sozialen Trieb steigern muß". (23) In einer akratischen Gesell-
schaft wird sich die gegenseitige Hilfe am kräftigsten regen. Der freie
Wettstreit ermöglicht es den Tüchtigen, ein kleines Vermögen zu erwer-
ben, mit dem sie großzügig und sozial umgehen werden. Vielleicht ist das
eine Illusion, aber so denkt und hofft Gesell nun einmal. Er glaubt auch
daran, daß die Tüchtigsten zugleich die Edelsten sind.
Freie Liebe birgt eine sexuelle Revolution, wie sie den Anarchisten im-
mer vorgeschwebt hat. Gesell, der außerhalb seiner Ehe noch intime Be-
ziehungen zu drei anderen Frauen unterhält, lebt sie vor. Auch die Ehe
selbst stellt er radikal in Frage. In seiner Freiland-Utopie spricht er von ei-
ner Frau, die sieben Kinder von sieben verschiedenen Männern hat. So-
bald sie sich von einem schwanger gefühlt, zog sie sich zurück. (24) Die reine
Natur soll wieder zum Zuge kommen und zugleich die menschlichen Qua-
litäten steigern - alle Abhängigkeit hindert ihre Entfaltung.
Gesell ist Anarchist in neuen Formen, die Physiokratie und Akratie hei-
ßen. Schon der ursprünglich noch weitgehend staatskonformen Physio-
kratie Quesnays haucht er anarchistischen Geist ein, indem er die Neo-
phyten auf den Abbau des Staates umorientiert.
Mit dem Modell der akratischen Gesellschaft, das er freilich erst in den
20er Jahren entwirft, gibt Gesell der Anarchie eine positivere Gestalt.
Und in ihren Mittelpunkt stellt er das Weibliche: freie Liebeswahl der
Frau, deren emotionale Unabhängigkeit durch eine Mutterrente mate-
riell gestützt werden soll. So nimmt er den heutigen Anarcho-Feminismus
auf eigenartige Weise voraus und ist der erste männliche Anarcho-Femi-
nist. Wenn man bedenkt, wie patriarchalisch insbesondere der klassische
romanische Anarchismus (in Spanien, Italien und Frankreich) war, so ist
auch dies eine Umorientierung. Sogar eine, deren Bedeutung weit in die
Zukunft hineinreicht. Hat sich doch eine Achsenverlagerung vom Männ-
lichen zum Weiblichen angebahnt, die keinen Bereich des Lebens ver-
schonen wird. Sie überprüft auch das zwischengeschlechtliche Verhältnis
in allen sozialen Bewegungen. (25)
Selbst Gesells physiokratische Eugenik hat eine anarchistische Note.
Die "Hochzucht" des Menschengeschlechts läuft auf die "Züchtung"
möglichst vieler Akraten hinaus, für welche die Freiheit Grundeigen-
schaft ist, keine Phrase oder Forderung mehr.
Mit seiner Eigen- oder Freiwirtschaft legt Gesell der positiven Anarchie
ein ökonomisches Fundament, auf dem sie wachsen und Kropotkins Lo-
sung "Wohlstand für alle" realisieren könnte. Falls sie klug genug ist, die
Marktwirtschaft nicht zu zerstören, sondern in ihren Dienst zu stellen.
Aus der Planwirtschaft gehen neues Elend und weitere Proletarisierung
hervor.
Außerdem hat Gesell für den gesamten Anarchismus dasselbe voll-
bracht wie Marx für den Kommunismus - eine scharfsinnige Analyse des
Kapitals und der menschlichen Ausbeutung. Wo Marx stehenblieb - vor
Zins und Grundrente -, ging er weiter. Insofern könnte seine Lehre auch
als Ergänzung und Fortführung des Marxismus angesehen werden. Aller-
dings kommt sie zu anderen Resultaten und Folgerungen. Durch Gesells
Kapitalanalyse ist der Anarchismus unabhängig von der marxistischen ge-
worden. Genauer gesagt: er könnte unabhängig von ihr sein, wenn er die-
se Lehre annehmen würde. Indes gibt es Anarcho-Marxisten.
Ich bin kein Anhänger Gesells, weil ich niemandes Anhänger sein
kann. Aber seine Lebensleistung nötigt mir Hochachtung ab. Er wollte
auch keine Jünger, sondern freie Menschen, die selbständig denken und
leben. Seit Anbeginn ist das ein Ziel des Anarchismus, wenn man ihn aus
allen Fremdbestimmungen und ideologischen Floskeln herausschält. Ge-
sell hat ihn auf seine Art erneuert, was freilich durch den darwinistischen
Zug in seiner Lehre für die meisten Augen noch verdeckt ist. Dieser Zug
war indes von allen Ideen Gesells am meisten dem damaligen Zeitgeist
verhaftet. Der Zeitgeist drückte auch Karl Kautsky seinen Stempel auf,
als dieser versuchte, den historischen Materialismus von Marx mit dem
Darwinismus zu verknüpfen. (26)
Bei Gesell erwies sich der akratische Grundzug seines Denkens als ent-
scheidend. Er trat im Laufe der Zeit immer deutlicher hervor. Schließlich
gerann er in der Real-Utopie des abgebauten Staates. Jedoch fand Gesell
keine Zeit mehr, sein Hauptwerk unter diesem Gesichtspunkt zu überar-
beiten. Darin ist noch immer vom Reichswährungsamt die Rede, und vie-
le Freiwirtschaftler halten daran fest.
Gesell trug auch an den Anarchismus "umstürzende Reformen" heran.
Er warf um, was in ihm nicht auf festem Boden stand oder in eine Sackgas-
se führen mußte. Aber ungeachtet dieser rücksichtslosen Kritik am beste-
henden Anarchismus gehörte er zu seinen großen Außenseitern, ohne
sich dessen ganz bewußt zu werden.

Kehrt aus dem Untergrund zurück

Gesell soll am 11. März 1930 an den Folgen einer Lungenentzündung ge-
storben sein. Aber vielleicht war sein Sarg leer - wie der des legendären
Grafen Saint Germain. Womöglich hat er sich aus der aktiven Politik in
die Pfahlhütte auf seiner kleinen Insel am La Plata zurückgezogen, um
endlich seinem Forscherdrang nachzugehen. "Die Hähne krähen, wohl-
an, es ist Zeit zum Aufbruch!" sagte er am Morgen des 11. März. Er ging
in den Untergrund, und nun kehrt er daraus zurück.
 
 

Anmerkungen

1 Siehe Text 2, Kapitel 14 in diesem Buch.

2 Definition Eigennutz u. Selbstsucht s. Gesell, Die Natürliche Wirtschaftsordnung
durch Freiland und Freigeld (NWO), Rudolf Zitzmann Verlag, Lauf bei Nürnberg 1949, S.
13f.; s. a. Text 2, Kap.15.

3 Gesell, Der abgebaute Staat - Leben und Treiben in einem gesetz- und sittenlosen
hochstrebenden Kulturvolk, A. Burmeister Verlag, Berlin-Friedenau 1927, S. 76

4 S. Text 2, Kap. 9

5 Bartsch hat bereits 1972 in 'Anarchismus in Deutschland', Bd. I, Fackelträger Verlag,
Hannover, S. 18ff., die Freiwirte "Anarcho-Liberale" genannt und geschrieben: "Mit seiner
Zinstheorie trat Gesell (..) eher als Marx des Anarchismus auf." In der Schweiz nennt sich
eine Partei heutiger Gesell-Anhänger Liberalsozialistische Partei.

6 Physiokratie (aus dem Griechischen) = Naturherrschaft - Die Physiokraten Ques-
nay und Turgot begründeten im 18. Jaharhundert das erste geschlossene volkswirtschaftliche
System. Ihre Lehre, die im Gegensatz zum Merkantilismus steht, hebt die Bedeutung des
Bodens hervor und vertritt die von Karl Marx begrüßte Ansicht, "daß nur die Arbeit produk-
tiv ist" (Marx), primär die der Bauern. Sie vertritt die Auffassung, daß das gesellschaftliche
und wirtschaftliche Leben von Naturgesetzen beherrscht wird. Daß auch die Volkswirtschaft
von Naturgesetzen beherrscht wird, bestreitet Gesell zwar, er will jedoch eine von Menschen
bewußt geschaffene Wirtschaftsordnung, die "der Natur des Menschen angepaßt ist" (NWO,
S.12). Marx hat die klassischen Physiokraten - entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten
- recht wohlwollend dargestellt in 'Die Physiokraten', Marx-Engels-Werke (MEW) 26.1,
S.l2ff.

7 'Die Geldreform' erschien unregelmäßig von März 1902 bis zum Dezember 1904.

8 Otto Martin Hoffman gehörte zeitlebens der Arbeiterbewegung an. Unter dem Pseu-
donym Diogenes (ein altgriechischer Anarchist!) schrieb er aus freiwirtschaftlicher Sicht und
mit fundierten Kenntnissen der marxistischen Wirtschaftstheorie Artikel über Gesell und
Marx in der zeitweilig von ihm redigierten proletarisch-freiwirtschaftlichen Zeitschrift 'Der
Ring - Monatshefte für Jugendbewegung und Politik'. In den Heften Nr.1 bis 6/1925 bzw. '26
führte er eine intensive Diskussion mit dem Linksmarxisten Karl Korsch über Gesells Preis-
und Marxens Werttheorie. Später ging Hoffmann zur SPD, 1983 starb er in West-Berlin.

9 In 'Der abgebaute Staat', S. 4, benutzt Gesell "FFF" für Freiland, Freigeld und Freihan-
del. Eine FFF-Gruppe nannte sich Verein für Freiwirtschaft durch Freiland und Freigeld.

10 'Der Physiokrat' war (zunächst) das Organ der Physiokratischen Vereinigung und er-
schien monatlich von Mai 1912 bis Juli 1914 und dann mit Unterbrechungen bis November
1920 in Berlin (verantw.: Georg Blumenthal) und 14tägig von Juli bis Dez.1922 in Hamburg
(verantw.: Ernst Schmalfeld).

11 Ziele und Satzung der physiokratischen Vereinigung, Physiokratischer Verlag, Berlin-
Lichterfelde 1919

11a Sehr informativ ist das noch unveröffentlichte Manuskript 'Die Geschichte der Frei-
wirtschaftsbewegung' von Hans-Joachim Werner, Warendorf (Tel.: 02581-3539).

12 Das 11-Punkte-Programm des Physiokratischen Kampfbundes erschien als Flugblatt;
in freiwirtschaftlichen Zeitschriften war es unauffindbar.

13 Ernst Niekisch (1889 -1967), zunächst SPD-Mitglied, gründete 1923 die Altsoziali-
stische Partei und gab die nationalrevolutionäre Zeitschrift Widerstand heraus. Er wurde
1937 von den Nationalsozialisten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Von 1945 bis '54 war
er Professor in Ost-Berlin. Am Tage des Arbeiteraufstandes in der DDR, am 17. Juni 1953,
trat er aus der SED aus. In einem Brief an den Physiokraten Georg Blumenthal vom 15. 2.
1918 schreibt Niekisch: "Es ist meine feste Absicht, innerhalb der Partei (SPD; K. S.) für sie
(Gesells Physiokratie; K. S.) zu werben. Nicht bloß in der Presse (Niekisch war Mitarbeiter
des Vorwärts; K. S.), sondern auch in Vorträgen" (Bartsch, Sozialisierung oder Personalisie-
rung? (1), in der freiwirtschaftlichen zeitschrift für sozialökonomie/mtg 76/März 1988, Verlag
Gauke GmbH, Lütjenburg bei Kiel, S. 32, Sp. 2; die handschriftlichen Briefe befinden sich
im Archiv von Günter Bartsch.)

14 Die allgemeine Enteignung im Lichte physiokratischer Ziele, Potsdam, Selbstverlag,
ca. 1926, S.14

15 S. Text 2, Kap.15.

16 Gesells dem Gericht eingereichte Verteidigungsrede im Anhang bei Rolf Enger, Sil-
vio Gesell in München 1919, Fachverlag für Sozialökonomie, Hannover-Münden 1986, er-
schien zuvor als Sonderdruck in anderen Schriften, z. B. in Die Freiwirtschaft vor Gericht,
Erfurt 1920.

17 Gesell, Der Physiokrat als linker Flügelmann der politischen Parteien, in 'Der Physio-
krat' 1/Mai 1913

18 Der abgebaute Staat, S. 5

19 Daß der Kriegsgegner Gesell jedoch kein naiver Pazifist war, zeigt eine Auseinander-
setzung mit der anarchistischen Zeitung 'Der freie Arbeiter' 1913, in der ihm, allerdings zu
Recht, seine Einschätzung einer "Volksarmee", einer Armee von Wehrpflichtigen, als
volksfreundlich und relativ harmlos vorgeworfen wird. In seiner Erwiederung in: Der Phy-
siokrat 12/1913 fordert Gesell die Bewaffnung aller Bürger männlichen und weiblichen Ge-
schlechts, um sich allen Unterdrückungsversuchen widersetzen zu können (s. Text 2, Kap.
13).

20 Der Abbau des Staates, S. 22f.

21 Der abgebaute Staat, S. 87ff.

22 Der abgebaute Staat, S.4

23 Der abgebaute Staat, S. 53

24 Der abgebaute Staat, S. 77f., u. Text 7; s. a. NWO, S. 109

25 S. Text 2, Kap. 9

26 S. Text 2, Anm. 117
 


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