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Brigitte Jostes (Berlin)


Subjektive Adjektive. Zur Semantik von fremd


The present essay is to be understood as a contribution to a Linguistik des Sprechens in the sense of Coseriu as well as a contribution to a linguistique du discours in the sense of Benveniste. After a description of the varieties of meaning of the adjective fremd and their interrelations the author focuses on particular problems connected with the semantics of adjectives. The essay maintains the idea that several problems which have been discussed separately so far can be dealt with in a more appropriate and efficient way by considering adjectives as a part of speech under the aspect of the subjectivity of language.


1 Einleitung

Das Adjektiv fremd verführt nicht nur Karl Valentin zu Wortspielereien. "Fremde wohnen doch nur in Afrika" sagt ein vierjähriger Junge, und die Erwachsenen schmunzeln. Natürlich. Aber warum? Weil das Wort fremd immer auf einen Bezugspunkt verweist, der notwendig seine Bedeutung komplettiert. Fremd ist etwas oder jemand immer nur etwas oder jemandem. Wenn gesagt wird, daß einer Utopie das Dogmatische fremd sei, ist klar, daß der auszumachende Bezugspunkt die Utopie ist und nichts anderes. Wenn mir das Dogmatische fremd ist, ist es eben mir fremd. Was unterscheidet nun (in linguistischer Hinsicht natürlich) die Utopie von mir? Die Antwort geben die jeweils möglichen Lesarten des Adjektivs fremd. Während im ersten Beispiel die Bedeutung mit 'nicht zugehörig' paraphrasiert werden kann, könnte im zweiten Beispiel außerdem die Bedeutung 'unvertraut' oder 'unbekannt' genannt werden. Die Beschränkung auf die eine Lesart im ersten Beispiel resultiert - und das ist die Antwort auf die Frage nach dem Unterschied - aus der Möglichkeit der Subjektivität, die nur im zweiten Beispiel gegeben ist.

Ausgangs- und zugleich Schwerpunkt dieser Arbeit ist die Analyse des Adjektivs fremd.1 An diese Analyse schließen sich skizzierende Überlegungen zur Subjektivität der Adjektive an. Grundlage dieser Überlegungen sind die Gedanken des Sprachtheoretikers Emile Benveniste, wonach erst die Sprache die Möglichkeit zur Subjektivität bietet, indem sie sprachliche Formen bereithält, derer sich der Sprecher im Diskurs bedienen kann, um sich als sprachliches Subjekt zu konstituieren. Die Untersuchung dieser "subjektivitätskonstituierenden" Formen beschränkte sich vornehmlich auf die eindeutig verweisenden (deiktischen) Wörter wie ich, hier und jetzt. Hier wird nun der Vorschlag gemacht, auch die Adjektive unter dem Aspekt der Subjektivität zu untersuchen.


2 Die Analyse von fremd

2.1 Daß der eigene Mann fremdgehen kann, ist klar, aber warum kann der eigene Mann fremd sein, wo doch fremd und eigen Antonyme sind? Die Antwort darauf lautet, daß fremd dem Adjektiv eigen nur in einer Bedeutungsvariante antonymisch gegenübersteht. Betrachtet man die




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Wörterbucheinträge der großen deutschen Wörterbücher2 zusammen, so lassen sich insgesamt vier Varianten unterscheiden. Als Beispiel seien hier die Einträge aus dem Deutschen Wörterbuch von Wahrig (1981) aufgeführt:
fremd (Adj.)
1. (24/60) aus einem anderen Land, einer anderen Stadt, aus einem anderen Volk, einer anderen Familie stammend
2. (24/60) einem anderen gehörend, einen anderen betreffend; a. eigen (1)
3. unbekannt, ungewohnt, unvertraut,
3.1 andersartig, fremdartig, seltsam

Wie aber lassen sich nun die Wörterbucheinträge aus den verschiedenen Wörterbüchern sinnvoll zusammenfassen und systematisch darstellen? Einen Hinweis liefern die kulturwissenschaftlichen Definitionen von Fremdheit. "Fremdheit", so wird immer wieder gesagt, sei ein "Interpretament der Andersheit" (vgl. Weinrich 1985: 197, Wierlacher 1993: 62). Und in der Tat taucht in allen Einträgen zu den ersten beiden Varianten immer wieder das Lexem ander- auf, das sich auf verschiedene Bezugspunkte beziehen kann. In den angeführten Einträgen von Wahrig sind diese Bezugspunkte Land, Stadt, Volk, Familie und Personen (in der Form einem anderen). Neben diesen Bezugspunkten, die jeweils andere sind, taucht in den Einträgen zu den ersten beiden Varianten noch eine weitere Komponente auf, nämlich stammend, gehörend, betreffend. In Analogie zu der Definition "Interpretament der Andersheit" könnte diese Komponente "Interpretament" genannt werden. Legt man dieses Schema zugrunde, ergibt sich folgende Zusammenfassung der ersten beiden Varianten:

1. Eintrag: Interpretament oder Relation (angehörend, stammend, Herkunft) zu Bezugspunkt (Land, Volk, Ort, Gegend, Stadt, Familie), der ein anderer ist.
2. Eintrag: Interpretament oder Relation (gehörend, angehend, besitzend, betreffend) zu Bezugspunkt (einem, Leute, Person), der ein anderer ist.

Ein solches Verfahren findet sich in ähnlicher Form bereits in der Literatur zur Adjektivsemantik. Der Bedeutungsgehalt von Adjektiven wird von Warren (1984: 21) in die beiden Komponenten "referential content" und "relator" unterteilt. Ihrem "referential content" entspricht die hier als Bezugspunkt bezeichnete Komponente und ihrem "relator" das "Interpretament".

Interessant für die spezifische Semantik von fremd ist das modellhaft systematisch auftauchende ander-. Dieses modellhaft enthaltene ander- macht nämlich den verweisenden Gehalt der ersten beiden Varianten sinnfällig, der die Grundlage für die Wortspielereien mit diesem Wort darstellt. Fremd verweist in beiden Varianten - genauso wie seine möglichen Synonyme auswärtig, von außerhalb, nicht zugehörig - quasi spiegelbildlich auf einen weiteren Bezugspunkt. So sind wir eben alle Ausländer - fast überall. Diese spiegelbildliche Verweisung ist vergleichbar mit der Funktionsweise des Du, das immer indirekt auf ein Ich verweist.

2.2 Das Lexem fremd besitzt somit - soviel läßt sich als Zwischenbilanz festhalten - sowohl eine kategorematische als auch eine deiktische Bedeutung. Auf der Grundlage einer strikten Trennung




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von "Symbolfeld" und "Zeigfeld" der Sprache im Sinne Bühlers (1934) könnte daher die spezifische Semantik dieses Adjektivs nicht erfaßt werden.

2.2.1 Mit Bühler kann aber gefragt werden, erstens welche Zeigarten und zweitens welche Zeigemodi für dieses Adjektiv beschrieben werden können. Bereits die Wörterbucheinträge geben Hinweise auf die möglichen Zeigarten: Fremd kann zum einen auf die lokale Dimension verweisen (genannte Bezugspunkte sind Ort, Land) und zum anderen auf die personale Dimension (Person, Familie). Zwei Belege aus dem Grimm-Wörterbucharchiv3 zeigen durch die undiskutierbar verweisenden Antonyme sehr schön diese beiden Zeigarten. Zunächst zwei Beispiele zur lokalen Dimension:

g 1922
Könnt's glauben, was hier zu Kramen gekommen ist seit dem Bittfahrtstag her, f r e m d e Bauersleut und auch hiesige, das redet nichts anderes mehr als Schreckzeichen Gottes und Zorn und Gericht, daß es einem kann angst und bang dabei werden.
Lulu v. Strausz u. Torney: D. jüngste Tag, 1922, S. 109.

Dieses Beispiel, in dem fremd paradigmatisch zu dortig oder dem außer Gebrauch gekommenen dasig steht, zeigt, daß sich fremd hinsichtlich des Umfangs des Bezugspunktes in gleicher Weise verhält wie hier und dort: Nur der jeweilige Kontext bestimmt die Grenzen zwischen dem hiesigen und dem fremden. Diese Grenze mag, wie in dem gegebenen Beispiel, eine Ortschaftsgrenze sein, sie kann aber auch einen viel weiteren Umfang haben, wie etwa in folgendem Beispiel:

g 1901
Auch die Kunst lernten sie (die Araber) von den Griechen und Persern; den f r e m d e n Meistern zu Anfang folgten später heimische.
Th. Lindner: Geschichtsphilosophie 1901, S. 91.

Soweit zur eindeutig lokalen Zeigart des Adjektivs. Es vermag zudem auch personal zu verweisen wie die Possessiva, die dem Adjektiv in der zweiten Variante - neben dem Adjektiv eigen - antonymisch gegenüberstehen. Auch hierzu ein Beispiel:

g 1968
..., mit dem Schlüssel soll man also seine Sachen absperren, alle Laden und Schränke der Zöglinge haben ein Schloß, zu denen der Schlüssel paßt, aber da passen auch manche f r e m d e Schlüssel, und das ist schlecht, weil viel im Kasten geklaut wird, doch hat man seinen Schlüssel verloren, dann geht man in die Kanzlei, wo einem der Buchhalter einen neuen gibt, und er schreibt es auf die Rechnung.
Adler: Panorama, 1968, S. 134.

Während nun bei den klassischen Shiftern immer sehr klar die Zeigart benannt werden kann, ist im Falle von fremd nicht immer eine eindeutige Zuordnung zu einer der Dimensionen Lokalität und Personalität möglich. Häufig sind diese beiden Dimensionen verschmolzen. Dies zeigen bereits die Wörterbucheinträge: In den Einträgen zur ersten Variante stehen neben Land, Ort, Gegend auch Volk und Familie. Gerade diese enge Verbindung von Personalität und Lokalität,




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wie sie auch für das Wort Heimat charakteristisch ist, scheint der Quell für die Schwierigkeit zu sein, dieses Adjektiv zu übersetzen.

Die Fähigkeit, auf die lokale Dimension zu verweisen, überrascht nicht, wenn man die Etymologie dieses Lexems betrachtet. Auf das indogermanische *per zurückführbar bedeutet die germanische Präposition / Adverb *fram 'entfernt', 'fern von'. Die Übertragung auf die personale Dimension wird verständlich, wenn man sich die enge Verbindung von Raum und Mensch vergegenwärtigt, wie sie für den mittelalterlichen Menschen, der ja keinen abstrakten Raumbegriff besaß, charakteristisch war.

Obwohl nun aber gerade viele Präpositionen den Sprung von der lokalen auf die temporale Dimension vollzogen haben, gilt dies nicht für das Adjektiv fremd. Dies beweisen auch die gesammelten Belege: Weder finden sich Antonyme wie heutig oder jetzig, noch finden sich Bezugswörter wie etwa fremde Zeiten oder fremde Epochen. Diese Beobachtung und ihre Erklärung ist nicht nur für Linguisten sondern auch für kulturwissenschaftliche Fremdheitsforscher von Interesse. Erklären ließe sich die Bedeutungserweiterung durch eine Kontiguitäts- bzw. Metonymiebeziehung (vgl. hierzu Waltereit 1997). Da das, was räumlich entfernt ist, gleichzeitig zumeist nicht zur eigenen Person oder Familie gehört, konnte sich die Bedeutung des Lexems in diese Richtung erweitern. Eine metaphorische Übertragung auf die temporale Dimension hat aber nicht stattgefunden. Dies deutet darauf hin, daß Vergangenem und Zukünftigem keine Ähnlichkeit zum räumlich Entfernten zugeschrieben wurde.

2.2.2 Nun zu den Zeigemodi. Eine Analyse der Belege zeigt, daß fremd sowohl anaphorisch als auch deiktisch verweisen kann. Der Zeigemodus ist abhängig von der Struktur des Textes. Ist ein Text als discours im Sinne Benvenistes strukturiert, kommen beide Zeigemodi in Frage, und durch Ko- und Kontext wird der Zeigemodus determiniert. In einem Satz wie Ich möchte heute abend meine Ruhe und keine fremden Leute in der Wohnung haben verweist fremd eindeutig auf die sprachlich geschaffene Situation, auf die "Ich-Jetzt-Hier-Origo" des Sprechens. Eindeutig anaphorisch verweist fremd, wenn ein Text als histoire im Sinne Benvenistes verfaßt ist. Das Antezedenz kann dann jeweils ein anderes sein, auch wenn das Adjektiv mehrmals aufeinander folgt. So sind in folgendem Beispiel einmal die Füße der Bergkuppe fremd und das andere Mal ist der Schritt ihm, d.h. Amadeus, fremd:

g 1950
Jakob kommt und Kelley, aber sie gehen wieder, und es ist, als liege diese Bergkuppe über der irdischen Welt, und die f r e m d e n Füße hinterließen keine Spur auf ihr.
Und erst zur Sonnenwende geschieht etwas. Um die Abendzeit bekommt Amadeus Besuch. Er hört einen f r e m d e n Schritt vor der Türe, einen langsamen und zögernden, und wie ein Wolf aus dem Lager ist...
Wiechert: Missa sine nomine, 1950, S. 100.

Aber auch in einem discours kann fremd anaphorisch verweisen. Daher kann es bisweilen zu echten Ambiguitäten kommen. Solche Mehrdeutigkeiten können durch eine "Extrapolation" des Bezugspunktes, auf den verwiesen wird, disambiguiert werden. Die Belege zeigen nämlich, daß




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die Dativergänzung nicht notwendig, wie man aus den Einträgen der Wörterbücher schließen könnte, ein eindeutiges Zeichen für die 3. Variante 'unbekannt', 'unvertraut' ist, sondern, daß sie auch auftreten kann, um die Bezüge der ersten beiden Varianten zu disambiguieren. In folgendem Beispiel geht es um das Übersetzen in eine fremde Sprache, genauer gesagt in eine Sprache, die nicht die eigene Muttersprache ist. Kann man in eine andere Sprache übersetzen, so kann die fremde Sprache keine unbekannte sein, sie ist nur nicht die eigene. Dennoch taucht zur Disambiguierung der Bezüge die Dativergänzung auf:
g 1912
Ich möchte bei Hauser nicht übersetzen lassen, finde aber sein Wagnis, eigene Gedichte in f r e m d e Idiome zu übersetzen, sympathisch. Mit den Übersetzern ist's eine eigene Sache. Sie glauben immer, es genüge, wenn sie die andere Sprache können [...] Übersetzt er (Li-Tai-Po) sie (seine Gedichte) in eine ihm f r e m d e Sprache, so ist es ein Trugschluß, zu glauben, sie seien nun deutsch geworden, weil sie nicht mehr chinesisch sind.
Karl Kraus: W., 6, S. 280, Fischer.

2.3 Bevor nun die 3. und 4. Variante beschrieben werden, seien noch einige grundsätzliche Aspekte zu den ersten beiden Varianten angesprochen. Eine Analyse dieser beiden Varianten berührt die ganze Problematik der Bezugsadjektive (oder adjectifs de relation im Französischen). Sie tragen daher auch prinzipiell die Merkmale dieser besonderen Adjektive, d.h. sie können nicht prädikativ verwendet werden, sie können weder graduiert noch durch Adverbien modifiziert werden, und sie sind eigentlich nicht ergänzungsfähig. Die oben gemachte Einschränkung hinsichtlich der Ergänzungsfähigkeit verweist auf die prinzipielle Problematik, inwiefern für das Adjektiv fremd von abgeschlossener Polysemie gesprochen werden kann. Für einen Teil der Belege ist eine eindeutige Zuordnung zu den ersten beiden Varianten - mit den Merkmalen der Bezugsadjektive - durchaus möglich. So zeigt der folgende Beleg, daß ein Kind, das nicht nur bekannt ist, sondern gar geliebt wird, durchaus als fremdes im Sinne der Variante 2 bezeichnet werden kann. Hier gelten eindeutig die Merkmale der Bezugsadjektive, da Komparation, prädikative Verwendung und Ergänzung unmöglich sind:

g 1932
Aber die Mutter sagt das nur zu ihrem Kind, weil es "ihr” Kind ist; sie ist parteiisch, ungerecht, partikulär. Es ist schon etwas ganz anderes als Mutterliebe da, wo eine Mutter ein f r e m d e s Kind mit gleicher Liebe behandelt wie das eigene.
E. Brunner: Gebot, 1932, S. 316.

Genauso wie die anderen Bezugsadjektive durch Metaphorisierung und Metonymisierung um semantisch-qualitative Varianten bereichert werden können (vgl. päpstlich, väterlich), für die dann die genannten Einschränkungen nicht mehr gelten, wurde mit der Bedeutungsvariante 3, 'unvertraut', 'unbekannt', der Bereich des Semantisch-Relativen überschritten.

Beruht nun diese Polysemie (wenn man denn von einer sprechen kann), die palimpsestartig die Diachronie reflektiert, auf einer Metaphorisierung oder Metonymisierung? Ähnlich wie beim Übergang von Variante 1 zu Variante 2 scheint hier eine Metonymierelation vorzuliegen. Das, was entfernt ist, und darum nicht zum Eigenen gehört, ist häufig auch unvertraut oder gar




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unbekannt. Daher konnte sich fremd um diese Bedeutung erweitern. Um auf diesen Bedeutungswandel näher eingehen zu können, sei an dieser Stelle schon einmal auf die Variante 4 'seltsam' vorgegriffen.

Quasi en passant zeigt nämlich die Wortgeschichte von fremd Grundprinzipien menschlichen Verstehens. Was entfernt ist, wird als Nicht-Zugehöriges, als Nicht-Eigenes interpretiert. Menschliche Subjekte zeichnen sich nun dadurch aus, daß sie ein Wissen besitzen, das durch Lernen erweitert werden kann. Darum bedeutet auch sich eine Sprache aneignen nichts anderes als 'eine Sprache lernen'. Nun läßt sich aber nicht alles Unbekannte in Bekanntes überführen. Dies kann sowohl an mangelnder Bereitschaft zum Lernen als auch an der Widerständigkeit des zu Erlernenden liegen. Begeht jemand eine Handlung, die ich mir mit allem Wohlwollen nicht erklären kann, so kann ich ihn als verrückt bezeichnen. Dies ist dann keine weitere mögliche Interpretation des Handelns, sondern gerade ein Verzicht auf Interpretation (vgl. Keller 1995: 199). Und so geht auch die Wortgeschichte von fremd - als Spiegel des menschlichen Verstehens - weiter: Was ich nicht durch Lernen in Bekanntes überführen kann oder will, qualifiziere ich als seltsam. Da Unbekanntes also häufig die Qualität des Seltsamen trägt, konnte sich die Bedeutung des Wortes um diese Variante erweitern.

2.4 Exkurs: Natürlich sind nicht nur die Deutschen lernunfähig oder -unwillig, auch die entsprechenden Adjektive aus anderen Sprachen (man denke nur an strange) zeigen ähnliche Karrieren. Hierzu ein kurzer Ausblick: Die Bildungen mit dem Präfix und der Präposition ex stellen den etymologischen Ursprung für die zentralen Lexeme in den gegenwartssprachlichen romanischen Wortfeldern dar. Hier ist zunächst das Adjektiv exter (mit der Variante exterus) zu nennen, das 'außen befindlich', 'auswärtig' und 'äußerlich' bedeutet. Adverb und Präposition extra steht für 'außerhalb', 'von außen' und 'äußerlich'. Aus exter ist das Adjektiv externus entstanden, zu dem im Wörterbuch von Georges (1962) zwei Hauptbedeutungen unterschieden werden: 1. 'äußerlich', 2. 'auswärtig', 'ausländisch', 'fremd'. Für das Adjektiv extraneus werden die Bedeutung 1. 'nicht zum Wesen einer Sache gehörig', 'äußerer', 'äußerlich', 'außerhalb liegend' mit dem Gegensatz proprius und die Bedeutung 2. 'nicht in Beziehung zum Hause oder zur Familie, zu unserer Person, zu unserem Lande stehend' mit dem Gegensatz zu domesticus, suus aufgeführt. Das altfranzösische estrange hat neben dieser Bedeutung die Bedeutung 'seltsam'. Im 14. Jahrhundert wird eine Ableitung auf -arius gebildet, die die Bedeutung 'fremd' hat und bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts étrange ganz aus dieser Bedeutung verdrängt. Andere romanische Sprachen bilden diese Ableitung nach: italienisch straniero, spanisch extranjero, katalanisch estranjer.

Sowohl im Lateinischen als auch im Griechischen erweitern viele der betreffenden Lexeme ihre Bedeutung um den Aspekt des 'Ungewöhnlichen', 'Seltsamen'. Und dies unabhängig davon, ob es sich um das einem anderen Gehörige (wie griechisch allotrios) oder um das Ausländische (wie griechisch xenos) handelt. Mesrobjan (1964) beschreibt diese Bedeutungserweiterungen für das Englische. Die Adjektive strange, singular, peculiar, quaint, unique, eccentric und uncouth hätten allesamt über den "Zwischenschritt" 'ungewohnt', 'ungewöhnlich' ihre Bedeutung auf den Aspekt 'seltsam' hin erweitert. Exkurs Ende.




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2.5 An diesem Punkt der Wortgeschichte (und der damit verbundenen synchron existierenden Varianten) gibt es für das Adjektiv fremd eine zunächst bizarr anmutende Begegnung: Stehen sich eigen und fremd in der 2. Variante noch als Antonyme gegenüber, so berühren sie sich auf der Ebene 'seltsam' synonymisch: Wer sehr eigen ist, ist eben seltsam fremd. Hierzu ein Beleg:
g 1901
Und bald da wußt ich nicht mehr, was du sprachst,
Ganz f r e m d erschien mir heut dein junger Körper.
Und als auf einmal tief ich Atem holte,

Da schwiegst auch du und sahst mich seltsam an,
heiß wurde deine Hand in meiner Hand,
Und unser junges Blut verstand sich jäh.
Und plötzlich wars, als sträubten deine Glieder,
Die ungelenken Knabenglieder sich
In meinem Arm, leis löstest du die Hand,
Das Rot stieg heiß in meine, deine Wangen,
Rasch standst du auf und gingest stumm hinaus,
Und in der Thüre noch sahst du so eigen,
So seltsam f r e m d mich an, wie nie zuvor.
B.V. Münchhausen: Balladen 1901, S. 82.

Dieses zunächst bizarr erscheinende Rencontre wird verständlich, wenn man sich die Geschichte des Wortes Idiot vor Augen führt. Als der 'Privatmann', der ganz im Eigenen verbleibt, verunmöglicht der Idiot alle Interpretationen und ist nur noch seltsam.

Aber auch auf dieser Ebene des synonymischen Berührens (Synonymie heißt ja Bedeutungsähnlichkeit und nicht -identität) wird ein Kriterium spürbar, das die beiden Lexeme unterscheidet, und das für die 3. Variante von größter Bedeutung ist: die Perspektive.

2.6 Damit also zurück zur Variante 'unvertraut', 'unbekannt', die die meistverwendete ist. Diese Variante, so sagen uns die Wörterbücher, zeichnet sich durch eine fakultative Dativergänzung aus. Der Bezugspunkt, der in den ersten beiden Varianten verweisend bestimmt wird, kann hier also extrapoliert werden (Dieser Mann ist mir fremd). Als fakultative kann diese Ergänzung aber auch fehlen, und fremd kann dennoch die Bedeutung 'unbekannt' haben. Die Frage ist dann wieder: Wem denn fremd? Ko- und Kontext geben dann wie bei den Varianten 1 und 2 die Antwort. Gerade in der attributiven Verwendung kann also nicht immer eine eindeutige Zuordnung zu den in den Wörternbüchern unterschiedenen Varianten vorgenommen werden.

Das Augenmerk soll hier nun auf den Perspektivenwechsel gelenkt werden, der mit dem Übergang von der 2. zur 3. Variante vollzogen wird: Diese Bedeutungserweiterung ist nämlich ein typischer Fall von Subjektivierung und dem damit einhergehenden Perspektivenwechsel. Ob ich heute mit einem fremden Auto (also eins, das nicht mir gehört) zur Arbeit fahre, können alle meine Kollegen von weitem erkennen. Ob mir dieses Auto aber fremd (also 'unbekannt') ist, das kann nur ich alleine oder aber diejenigen, die durch meine Mitteilungen davon erfahren, wissen. Die Zuschreibung von Zugehörigkeit kann also auch von außen - quasi objektiv - geschehen.




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Kenntnis und Vertrautheit setzen eine subjektive Perspektive voraus. Daher kann - wie in der Einleitung angesprochen - fremd nicht die Bedeutung 'unbekannt' haben, wenn die Dativergänzung das Merkmal 'unbelebt' trägt.

Das Kriterium Subjektivität taucht also in zweierlei Dimensionen im Innenleben des Lexems fremd auf. Zum einen ist da die Kapazität des deiktischen Verweisens auf ein Ich der Sprechsituation. Dieses Ich wird aber durch das Adjektiv nur von außen durch Verweis mitgeformt, wie dies auch die antonymisch gegenüberstehenden Possessiva tun. Ein Innenleben besitzt dieses Ich noch nicht. Durch den Subjektivierungsprozeß zur 3. Variante bekommt dieses geformte Ich ein Innenleben, gewissermaßen einen Kopf (mit der Bedeutung 'bekannt' geht es um die kognitive Dimension) und auch ein Herz (die Belege zeigen, daß fremd sehr oft dann gebraucht wird, wenn von affektiver Distanz die Rede ist). Der schöne Titel "Language has a heart" (Ochs/Schieffelin 1989) sollte also erweitert werden um den Zusatz "and a head".

Nun ist ja für die Dativergänzung der Variante 'unbekannt' nicht nur die 1. Person (mir fremd) möglich. In den Belegen findet sich eine beinahe ebenso große Anzahl von Dativergänzungen in der 3. Person (ihm / ihr fremd) wie der 1. Person. Interessanterweise versteckt sich aber hinter dieser 3. Person zumeist eine 1. Person. Denn die Belege entstammen zu weiten Teilen der erzählenden Literatur, und die ausgewerteten Texte zeichnen sich vielfach durch eine auktoriale Erzählweise aus. Hier trifft man also auf eine versteckte subjektive Perspektive:

g1965
Felix ging zum Fenster. Er fühlte, daß er zuviel von Hitler, Frankreich, Krieg und Judenverfolgung gesprochen hatte und zuwenig von seinem Vater. Wie ein Fremder hatte er gesprochen, nicht weil sein Vater ihm f r e m d war - er war es ihm jetzt weniger denn je - sondern weil er den alten Mann schonen wollte.
Habe: Mission, 1965, S. 133.

Wie verhält es sich aber mit dem Kriterium der Subjektivität in bezug auf die 4. Variante? Es ist auffällig, daß fremd, wenn ihm die Bedeutung 'seltsam' zugeschrieben werden kann, zumeist in adverbialer Verwendung auftaucht (wie auch in dem angeführten Münchhausenzitat). Gerade wenn fremd als Adverb nicht als Ergänzung vom Verb gefordert wird, ist es sehr schwer, einen Bezugspunkt auszumachen. Es scheint bisweilen beziehungslos im Satz zu schweben:

g 1922
Wagen umrollten uns f r e m d , vorübergezogen,

Häuser umstanden uns stark, aber unwahr, - und keines
kannte uns je. Was war wirklich im All?
Rilke: Ges. W., 1927, 3, S. 348.

Daß das Adjektiv nur in dieser beziehungslosen Verwendung die Bedeutung 'seltsam' haben kann, läßt sich vielleicht mit den Merkmalen der Synonyme verständlich machen. Die Adjektive seltsam, merkwürdig, komisch können allesamt als qualifizierende Adjektive bezeichnet werden, die keine Ergänzung (und damit keinen Bezugspunkt) fordern. Man könnte ihren Ergänzungsverzicht damit erklären, daß sie nicht nur eine subjektive, sondern eine intersubjektive




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Gültigkeit beanspruchen. Was mir fremd ist, muß nicht dir fremd sein, wenn ich aber etwas als seltsam bezeichne, gehe ich davon aus, daß du das auch tun könntest.

2.7 Zu dieser Problematik des Gültigkeitsbereiches, der durch die Dativergänzungen eingeschränkt wird, gibt es eine Reflexion von prominenter Seite, nämlich von Immanuel Kant. Er diskutiert die Frage nach der Notwendigkeit einer solchen Dativergänzung für seine Unterscheidung vom Angenehmen und Schönen:

"In Ansehung des Angenehmen bescheidet sich ein jeder: daß sein Urteil, welches er auf ein Privatgefühl gründet, und wodurch er von einem Gegenstande sagt, daß er ihm gefalle, sich auch bloß auf seine Person beschränke. Daher ist er es gern zufrieden, daß, wenn er sagt: der Kanariensekt ist angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbessert und ihn erinnere, er solle sagen: er ist mir angenehm. [...] Mit dem Schönen ist es ganz anders bewandt. Es wäre (gerade umgekehrt) lächerlich, wenn jemand, der sich auf seinen Geschmack etwas einbildete, sich damit zu rechtfertigen gedächte: dieser Gegenstand [...] ist für mich schön” (Kant (1878) 1963: 81f).

Interessant ist an dieser Reflexion nicht die Tatsache, daß Kant (sprachlich gesehen) Unrecht hat, sondern warum er Unrecht hat. Natürlich muß man die Dativergänzung nicht verwenden, um den Gültigkeitsbereich auf die eigene Person einzuschränken, dies kann durch das Adjektiv angenehm - in gleicher Weise wie durch fremd in der 3. Variante ohne Ergänzung - alleine geschehen. Es scheint nämlich so, daß die Ergänzung zwar eine Möglichkeit ist, Gültigkeit durch explizite Bezüge einzuschränken, daß die Adjektive von sich aus aber bereits einen Gültigkeitsanspruch mitbringen, der jeweils spezifisch auf einer Skala zwischen dem rein Subjektiven und dem absolut Intersubjektiven zu verorten ist.

Durch die Heterogenität der 4 Varianten von fremd stößt man also bei der Analyse des Adjektivs auf nahezu alle Probleme der Adjektivbeschreibung. Im folgenden soll nun der Vorschlag illustriert werden, die Fragestellungen, die in der Adjektivdiskussion zumeist disparat verhandelt werden, unter dem Kriterium der Subjektivität zusammenzuführen.


3 Die Subjektivität der Adjektive

3.1 Der Bedeutungswandel und die damit verbundene Polysemie des Adjektivs ist ein typisches Beispiel für einen Prozeß der Subjektivierung. An den entsprechenden Adjektiven in anderen Sprachen, wie z.B. engl. strange und foreign und franz. étranger ist der gleiche Prozeß zu beobachten. Subjektivierungsprozesse als Sprachwandelprozesse sind in der linguistischen Forschung mittlerweile an vielen Beispielen beschrieben worden. Hier soll nun der Vorschlag gemacht werden, die verschiedenen Arten und Grade der Relativität oder Relationalität von Adjektiven unter dem Aspekt der Subjektivität, wie sie durch sprachliche Mittel konstituiert wird, zu beschreiben und zu systematisieren.

Das Adjektiv als Wortart ist traditionell das "Hinzugefügte"; es ist an sich unvollständig, weil es nicht ohne das existieren kann, was es näher bestimmt. Dies ist die eine Abhängigkeit des Adjektivs, nämlich die Abhängigkeit von seinem Bezugswort. Hier soll nun die andere Abhängigkeit, nämlich die Abhängigkeit vom Hinzufügenden - nicht als pragmatische sondern als




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textuelle Größe - hinzugenommen werden, um so das Adjektiv als zwischen diesen beiden Größen stehend zu beleuchten. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei der Gedanke, daß sprachliche Subjektivität untrennbar mit Intersubjektivität verbunden ist.

3.2 Mit Adjektiven werden außersprachliche Phänomene sprachlich als Eigenschaften gefaßt. Eine wichtige Funktion der Adjektive besteht in der Determinierung. Coseriu behandelt die Determinierung in seinem Aufsatz "Determinierung und Umfeld" (span. 1955/56, dt. 1975). Unter "Determinierung" faßt er alle Operationen, die erfolgen, um ein virtuelles Zeichen "zu 'aktualisieren' und auf die konkrete Wirklichkeit zu lenken" (ebenda: 261). Coseriu behandelt in diesem Aufsatz die nominale Determinierung, bei der natürlich auch Adjektiven eine wichtige Funktion zukommt. Als "Umfelder" bezeichnet er die "umstandsbedingte[n] Instrumente der Sprechtätigkeit" (ebenda: 261). Die "Situation", als ein Umfeld, ist nach Coseriu "das 'Raum-Zeitliche' des Sprechens, als durch die Rede geschaffen und auf ihr Subjekt hin geordnet" (ebenda: 278). Das enge Ineinandergreifen von Determinierung als Operationen und Umfeldern als Instrumente zeigt sich am Beispiel der "Situierung" als einer Art der Determinierung. Mit einem Possessivartikel wie mein kann ein Substantiv nur determiniert werden, indem es sich auf die sprachlich geschaffene Situation bezieht.

An dieser Stelle zurück zu unserem Adjektiv: Fremd steht in der zweiten Variante den Possessiva antonymisch gegenüber. Ebenfalls durch einen verweisenden Gehalt charakterisiert, greifen Determinierung und Umfeld also in vergleichbarer Weise ineinander. Das relevante Umfeld für fremd muß nicht, wie gezeigt, die Situation sein, es kann auch der Kotext (in den Worten Coserius der "Rede-Kontext") sein, nämlich dann, wenn fremd anaphorisch verweist. Von Interesse ist an dieser Stelle aber die Operation der Determinierung.

Diese sei an dieser Stelle noch einmal verständlicher erläutert: Die Sprache (als langue) hält einen Vorrat an virtuellen Zeichen bereit (man denke an Saussures schönes Bäumchen, das irgendwo als Verbindung von Signifikat und Signifikant in unseren Köpfen rumschwirrt), die ein sprechendes Subjekt auf die konkrete Wirklichkeit lenkt. Möchte ich also etwas über einen konkreten Baum aussagen, so aktualisiere ich das virtuelle Zeichen und lenke es durch Artikel, Demonstrativartikel usw. und auch Adjektive auf diesen konkreten Baum (z.B. dieser schöne kleine blühende Apfelbaum).

3.3 Auf der einen Seite steht also das virtuelle Zeichen und auf der anderen Seite der konkrete Referent mit demjenigen, der referiert. Hansjakob Seiler (1978) greift in diesem Sinne die Überlegungen Coserius auf und führt sie weiter. Ihm zufolge gibt es auf der einen Seite eine Determinierung des Konzepts und auf der anderen Seite eine Determinierung der Referenz und zwischen diesen beiden Polen ein Kontinuum.

Bevor diese Überlegung näher erläutert wird, sei sie zunächst in die hier angestrebte Terminologie der Subjektivität übersetzt. Versteht man die langue als den überindividuellen Vorrat an Zeichen, kann man den Pol der Konzepte als den intersubjektiven Pol bezeichnen. Versteht man den Pol der Referenz als die jeweils konkrete individuelle Zeichenverwendung, die an ein sprechendes Subjekt gebunden ist, kann man diesen Pol als den subjektiven bezeichnen.




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Die Sprache (als langage) bildet ein Kontinuum zwischen den Polen Intersubjektivität (langue) und individueller Subjektivität (konkrete parole), und sprachliche Phänomene lassen sich an verschiedenen Stellen dieses Kontinuums verorten. In gleicher Weise (so lautet die These) lassen sich verschiedene Arten von Adjektiven an verschiedenen Punkten dieses Kontinuums verorten. Dies ist aber noch nicht die ganze Pointe. Subjektivität wird hier im Sinne Benvenistes als sprachlich verfaßte verstanden. Darüber hinaus scheint es aber für eine angemessene Beschreibung der Adjektive lohnend zu sein, der sprachlichen Subjektivität auch Züge menschlicher Subjektivität - mit allem, was dazu gehört - zuzuschreiben. Das heißt, daß die Sprache, und mit ihr die sprachliche Subjektivität, nicht nur Herz und Kopf besitzt, sondern auch Sinne (Ohren, Augen, Nase usw.) und menschliche Beziehungen, Moral, Zeit und Raum und so weiter.

Zunächst aber zurück zu Hansjakob Seiler. Sein Ansatz soll hier nicht insgesamt referiert werden. Nur soviel: Nähe (in der Wortfolge) zum Bezugswort ist für ihn ein Hinweis darauf, daß das Konzept des Bezugswortes determiniert wird (also die Intension). Eine größere Entfernung zum Bezugswort deutet darauf hin, daß die Referenz näher determiniert wird (also die Extension). So stellt er z.B. fest, daß die bewertenden Adjektive immer weiter vom Bezugswort entfernt stehen als die Material- und auch noch die Farbadjektive. Es heißt daher schöne rote hölzerne Kugeln und nicht etwa rote hölzerne schöne Kugeln (Seiler: 1978: 311). Die Stellung der bewertenden Adjektive - weiter vom Bezugswort entfernt - läßt sich mit seinem Ansatz plausibel begründen: "Identification of referents is fundamentally linked to the individual speech act. Evaluating adjectives are, in some sense, connected with the speaker and thus with the speech act" (ebenda: 311). Ausgehend von dieser Arbeit ließe sich der Vermutung nachgehen, daß die Adjektive, die eine größere intersubjektive Gültigkeit haben, jeweils näher am Bezugswort stehen, während die subjektiveren Adjektive weiter vom Bezugswort entfernt stehen. Akzeptiert man also die hier vorgeschlagene und vielleicht etwas grob anmutende 'Übersetzung' der Begriffe Referenz oder Extension mit Subjektivität und Intension oder Konzept mit Intersubjektivität, so ließen sich auf der Grundlage der Wortfolge Grade der Subjektivität von Adjektiven unterscheiden. Nun provoziert diese grobe Übersetzung sicherlich die Kritik, daß hier doch Sprachliches und Außersprachliches (die Referenz) vermengt würden. Dem ist nicht so. Denn gemeint ist der Akt des Referierens auf einen außersprachlichen Referenten, und dieser ist ein sprachlicher Akt.

So wäre in dem oben genannten Beispiel dieser schöne kleine blühende Apfelbaum das Adjektiv schön subjektiver als das Adjektiv klein und auch blühend, bzw. die beiden letztgenannten führten einen größeren Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit mit sich.

3.4 Welchen Beitrag kann ein solcher Ansatz nun zur Linguistik der Adjektive leisten? Nehmen wir doch einmal die Diskussion um die sogenannten 'relativen' Adjektive. Relativ in diesem Sinne sind z. B. die vieldiskutierten Dimensionsadjektive groß, klein, lang, hoch usw. Diese Adjektive seien relativ, weil sie eine Qualität ausdrückten, die dem bezeichneten Gegenstand nur in bezug auf andere Gegenstände zukomme. Es wird angenommen, daß eine Vorstellung von der




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durchschnittlichen Eigenschaft der betreffenden Gegenstände zugrunde liege. Ein großes Pferd und ein großes Bier haben natürlich völlig verschiedene Ausmaße, weil ein großes Pferd ein Pferd ist, das für Pferde groß ist, während ein großes Bier eben nur ein Bier ist, das für Biere groß ist. So weit so gut. Die Frage ist nur, wer denn diese Vorstellungen von den Durchschnittsgrößen besitzt. Wer als Norddeutscher in Bayern ein kleines Bier bestellt, wird erstaunt sein, wie groß ein kleines Bier sein kann. Genauso wird ein Pferdeliebhaber aus Schleswig-Holstein verwundert sein, wie klein die von den Westernreitern so genannten großen Pferde sind. Vorstellungen von Durchschnittsgrößen haben die sprechenden Subjekte, und es lassen sich Grenzen der intersubjektiven Gültigkeit aufzeigen. Diese Vorstellungen von Durchschnittsgrößen sind natürlich außersprachliche Phänomene. Eine Definition "relativer Adjektive" kann aber nur eine auf Sprache und nicht auf die Welt bezogene sein. Darum sei hier der Vorschlag gemacht, daß die sprachliche Subjektivität - und mit ihr die Funktionsweise der Adjektive - Züge der menschlichen Subjektivität reflektieren kann. Bewertende Adjektive - unter ihnen die Dimensionsadjektive - treten häufig als Gegensatzpaare auf (dick / dünn). Anders als naturhaften Notwendigkeiten liegt Bewertungen subjektive Freiheit zugrunde. Einer Bewertung kann widersprochen und es kann eben das Gegenteil vertreten werden. Dabei sei nur an den Generationenkonflikt erinnert, der entsteht, wenn auf Familienfeiern trockener Wein gereicht wird. Ob der Wein nun aber als roter oder weißer bezeichnet werden kann, ist keine Frage, die zu ähnlich leidenschaftlichen Diskussionen verleitet.

3.5 Um zu illustrieren, inwieweit dieser subjektive Ansatz lohnend für eine Linguistik der Adjektive sein kann, kann auch auf die Bedeutungserweiterung von Bezugsadjektiven um semantisch-qualitative Varianten verwiesen werden, wie sie beim Übergang von der 2. zur 3. Variante des Adjektivs fremd beschrieben wurde. In der Terminologie der Subjektivität könnte man sagen, daß Bezugsadjektive so stark zu dem gehören, dem sie hinzugefügt werden (ihrem Bezugswort), daß sie komplett unabhängig vom hinzufügenden Subjekt sind. Da die Sprache aber die gesamten Aspekte menschlicher Subjektivität reflektiert, können sich die Bezugsadjektive um subjektivere Varianten erweitern. Wenn von dem malerischen Können eines Künstlers gesprochen wird, so ist für die Hinzufügung dieses Adjektivs keine Dimension der menschlichen Sujektivität vonnöten. Wird von einer Gegend aber gesagt, daß sie malerisch sei, so liegt ein subjektiv begründetes Geschmacksurteil zugrunde, dem von anderen Subjekten widersprochen werden kann.

Auch Verwendungsweisen von Adjektiven, wie etwa eine schwere Sprache oder eine leichte Aufgabe, verweisen darauf, daß das sprachliche Subjekt, auf das diese Hinzufügungen zu beziehen sind, keineswegs als leere Kategorie angesehen werden sollte. Das lebensweltliche Wissen (man mag es modern auch Frame nennen), das die menschlichen Subjekte kennzeichnet (sie wissen eben, daß sich das schwer auf ein Erlernen der Sprache bezieht), wird natürlich in der Sprache - und damit auch in den Verwendungsmöglichkeiten der Adjektive - reflektiert.

3.6 Man könnte nach diesen zugegebenermaßen sehr allgemeinen Ausblicken auf eine mögliche Theorie der Subjektivität von Adjektiven einwenden, daß ein solcher Ansatz vielleicht für Texte




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Sinn macht, die als discours im Sinne Benvenistes strukturiert sind und daher auch ein sprachliches Subjekt besitzen. Was ist aber mit den Texten, die als histoire (also in der 3. Person) strukturiert sind und in denen es offensichtlich keine Subjektivität gibt? Dazu sei noch einmal an die Analyse von fremd erinnert. Hinter fast allen Konstruktionen, bei denen in der Dativergänzung eine 3. Person (die Nicht-Person) erschien, ließ sich ein verstecktes Subjekt ausmachen, wie es für die auktoriale Erzählweise charakteristisch ist. Und dieses Ergebnis öffnet die Augen für eine recht banale Tatsache: Es gibt Texte nur dort, wo es sprechende Subjekte gibt - mögen sich diese noch so gut verstecken -, und darum kann es auch keine Texte geben, die frei von sprachlicher Subjektivität sind. Eben darum schreibt Benveniste "les événements semblent se raconter eux-mêmes" (Benveniste 1966: 241). Sie geben sich eben nur den Anschein, als erzählten sie sich selbst. Aber nur sprechende Subjekte erzählen.

An dieser Stelle sei noch einmal der Bezug zur Analyse von fremd hergestellt. Durch die Möglichkeit der ersten beiden Varianten, auf die Origo des Sprechens zu verweisen, läge es nahe, ihnen ein hohes Maß an Subjektivität zuzusprechen. Eben dies ist gerade nicht der Fall. Mit diesen beiden Varianten kann zwar ein Bezug zur Sprechsituation hergestellt werden, das Subjekt, auf das damit verwiesen wird, ist aber eines ohne Innenleben und nur von außen markiertes. Die am stärksten subjektive ist die 3. Variante. Auf der Skala der Subjektivität liegt dann die 4. Variante 'seltsam' in der Mitte.


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Anmerkungen

1 Die folgenden Ausführungen stellen eine Zusammenfassung von Jostes (1997): "Was heißt hier fremd? Eine kleine semantische Studie", in: Naguschewski/Trabant (im Druck) dar.

2 Folgende Wörterbücher wurden zu Rate gezogen: Klappenbach/Steinitz (1967), Wahrig (1981), Duden (1993), Paul (1993), Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache (1993), Humboldt-Bedeutungswörterbuch (1992).

3 Ausgewertet wurden im Rahmen der bereits erwähnten Studie 321 Belege zum Lemma fremd. Die Belege stammen aus den beiden Archiven des Grimm-Wörterbuchs Berlin und Göttingen (das kleine g vor der Jahreszahl bedeutet Göttingen). In den jeweiligen Belegen wurden die konkreten Synonyme durch Kursivschreibung und die Antonyme durch Unterstreichung hervorgehoben.

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