Subject: Rez. CD-ROM: Tippelskirch ueber "Lehmstedt: Geschichte des..."
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Rezension der CD-ROM:
Fuer H-Soz-u-Kult rezensiert von:
Aus Anlas des 600. Geburtstages von Johannes Gutenberg und des
175-jaehrigen Jubilaeums des Boersenvereins des Deutschen Buchhandels ist
bei DirectmediaPublishing GmbH in der Reihe der Digitalen Bibliothek eine
CD-Rom zur "Geschichte des deutschen Buchwesens" erschienen. Der
Herausgeber, Mark Lehmstedt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, in dem
Medienverlag, der mit dem Spruch "CD-ROMs fuer Menschen, die Buecher
lesen" wirbt, nun auch die Geschichte der Welt des Buches digital
zugaenglich zu machen. Nachdem sich das Verlagskonzept, bedeutende
belletristische und lexikalische Werke zu Studienzwecken neu verfuegbar zu
machen, - vor allem mit der "Basisbibliothek Deutsche Literatur von
Lessing bis Kafka" (Bd. 1) - als erfolgreich erwiesen hat, versucht der
Buchhistoriker, dieses Prinzip auch fuer die inzwischen vielfach
erforschte Geschichte des Buches anzuwenden, indem er "Klassiker" der
Buchhandelsgeschichte als Textgrundlage waehlt.
Die monumentale Monographie von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich,
"Geschichte des Deutschen Buchhandels" (4 Baende, 1886-1913), und "Der
deutsche Buchhandel und die geistigen Stroemungen der letzten hundert
Jahre" (1925) von Friedrich Schulze werden durch die neuere Untersuchung
von Reinhard Wittmann, "Geschichte des deutschen Buchhandels" (1999),
ergaenzt. Hinzu kommt ein von Rudolf Schmidt Anfang dieses Jahrhunderts
erstelltes Lexikon: "Deutsche Buchhaendler, deutsche Buchdrucker.
Beitraege zur einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes" (6
Baende, 1902-1908). Abgesehen von seiner eigenen Einleitung rekurriert
Lehmstedt also auf Texte, die bereits in gedruckter Form vorliegen und die
nun mit Hilfe der Software nach Stichworten durchsucht, markiert, kopiert
und exportiert werden koennen. Eine vom Herausgeber eigens fuer die CD-ROM
zusammengestellte Reihe von Abbildungen vervollstaendigt den insgesamt
8.901 Bildschirmseiten (4.334 gedruckte Textseiten) umfassenden
Ueberblick.
Die Buchproduktion im deutschsprachigen Raum seit den Anfaengen des
Buchdruckes wird von Kapp und Goldfriedrich positivistisch-detailliert
dargestellt, wenn auch der Stil heutigen Lesern zuweilen etwas blumig
erscheinen mag und der Anmerkungsapparat, den wissenschaftlichen
Anspruechen zur Zeit des Erscheinens dieser vier Baende entsprechend,
recht knapp gehalten ist. Es ist ein Werk, das inzwischen, wie der
Herausgeber selbst zugibt, zum Teil durch die neuere Forschung ueberholt
ist, bisher jedoch durch keine aehnlich umfassende Ueberblicksdarstellung
ersetzt wurde. Im Gegensatz zu dem Beitrag von Wittmann findet hier auch
der europaeische Kontext Beachtung. So heisst es zum Beispiel zu Beginn
des sechsten Kapitels des ersten Bandes: "Die Morgenroete eines neuen
Tages brach an, als Italien, die alte Lehrerin Europas, durch
Wiederbelebung der klassischen Studien eine untergegangene schoene Welt
aus dem Schutt ausgrub und die strebsamen Geister zu edlern und idealern
Anschauungen emporhob. Die Menschheit fing eben wieder an, sich auf sich
selbst zu besinnen und dem Gaengelband des Priestertums zu entwachsen."[1]
Das Werk von Schulze, welches den Buchhaendler des 19. Jahrhunderts "bei
der Arbeit und in seinen geistigen Zusammenhaengen zeigt", wurde noch 1990
nachgedruckt und wird wohl erst von der juengst vom Boersenverein in
Auftrag gegebenen Gesamtdarstellung des Buchhandels im 19. und 20.
Jahrhundert ersetzt werden.
Wittmann ist als Fachmann der Materie bekannt, seine bis 1990 reichende
"Geschichte des deutschen Buchhandels" ist inzwischen bereits in zweiter
Auflage erschienen und wurde in der Kritik als "neues Standardwerk"
gepriesen. Wittmann nimmt - ohne sich dabei in Details zu verlieren -
neuere Forschungsprobleme in den Blick; mancher Sachverhalt wird den
neuesten Erkenntnissen entsprechend richtiggestellt. Zusaetzlich fuegt der
Autor seiner Darstellung der Entwicklung des Buchwesens seit der Erfindung
des Buchdruckes eine Bibliographie[2] hinzu sowie eine uebersichtliche
Zeittafel. Schmidts Lexikon liefert schliesslich eine betraechtliche
Anzahl biographischer und firmengeschichtlicher Details zu den zwischen
1450 und 1900 taetigen deutschen Buchhaendlern und -druckern.
Man kann dem Herausgeber nur dankbar sein fuer die Fuelle an Abbildungen,
die auf dieser CD-ROM zum ersten Mal verfuegbar gemacht wird und die mit
Hilfe der Software vergroessert und verkleinert sowie leicht in andere
Anwendungen kopiert und weiterverarbeitet werden kann (ab Windows 95 ist
die Moeglichkeit der Bildbearbeitung in das Software-Programm integriert)
- damit wird der in den 50er Jahren von Joachim Kircher herausgegebene
"Bilderatlas zum Buchwesen" weit uebertroffen.[3] Es handelt sich um ein
Bildarchiv, das von unterschiedlichen Verlagsarchiven, dem Boersenverein
des Deutschen Buchhandels und vom Deutschen Buch- und Schriftmuseum
Leipzig zur Verfuegung gestelltes Material enthaelt (z.B. Fotos von
Verlegern, Gemaelde, Karikaturen und Drucke, Abbildungen von Buchbindungen
und Titelblaettern) und welches - chronologisch geordnet - eine eigene
Geschichte des Buchwesens erzaehlt. Diese Abbildungen sind nicht als
unmittelbare Illustration der Texte gedacht, und doch besteht manche
Querverbindung, die moeglicherweise auch durch "links" explizit haette
gemacht werden koennen. Lehmstedt gibt dem Benutzer ausser der
chronologischen Reihenfolge keine Interpretationshilfe, sondern stellt ihm
frei, sich selbst einen Weg durch das reichhaltige und sehr
unterschiedliche Material zu bahnen. Dank der Recherchefunktion auf dem
Registerblatt "Abbildungen", die auf die - dafuer manchmal etwas zu knapp
geratenen - Bildunterschriften zurueckgreift, ist es moeglich,
Bildergruppen zusammenzustellen.
Die Auseinandersetzung mit der digitalen Ausgabe der Standardwerke erweist
sich besonders unter wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten als sehr
interessant, ermoeglicht doch der Vergleich der Abhandlungen, die dieser
CD-ROM als Textgrundlage dienen, einen Blick auf die historische
Entwicklung der wissenschaftlichen Beschaeftigung mit der Geschichte des
Buchwesens. Waehrend etwa Lehmstedt ganz selbstverstaendlich in der
Einleitung betont, "die «petite (sic!) monde du livre» sei vor allem von
Lesern beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters bevoelkert"[4], sucht
man in den Werken von Kapp, Goldfriedrich und Schulze noch vergeblich nach
einer eingehenderen Beschaeftigung mit der Rezeption der ausfuehrlich
behandelten Buchproduktion, wohingegen Wittmann der neueren Forschungslage
in bezug auf das Lesepublikum des 18. Jahrhunderts ein Kapitel widmet.[5]
Markt, Konsum und schliesslich auch die Lesepraktiken selbst treten erst
seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des
wissenschaftlichen Interesses: diese Entwicklung laesst sich leicht auch
an den Werken dieser CD-Rom ablesen.
Gleichwohl waere denkbar gewesen, eine zusammenhaengende (ueber Wittmann
hinausgehende) Abhandlung zur Frage der Rezeption oder auch zur Geschichte
des Bibliothekswesen, der Bibliophilie, der Drucktechnik oder gar der
Papierherstellung in eine digitale "Geschichte des Buchwesens"
aufzunehmen. Ob es wohl lediglich Lizenzbeschraenkungen oder
verkaufstechnische Gruende waren, die gegen den urspruenglich
angekuendigten, treffenderen Titel "Geschichte des deutschen
Buchhandels"[6] sprachen?
Man kann allerdings den "Leser" auch ueber die gut funktionierende
Volltextsuche der Software aufspueren (insgesamt 148 Fundstellen -
wohingegen "Leserin" ein einziges Mal im Text und immerhin viermal im Bild
auftaucht, haeufiger kommt "Publikum" vor. Dass Frauen - als
Produzentinnen, Haendlerinnen und Leserinnen - in der "Geschichte des
Buchwesens" nur selten vorkommen, spiegelt, wie Einzelstudien inzwischen
gezeigt haben, eher die Perspektive der ausgewaehlten Geschichtsschreibung
(und die zugegeben schlechte Quellenlage) wider als die historische
Realitaet: diese Tatsache waere wenigstens eine Erwaehnung wert
gewesen.[7]
Die bereits in mehreren in H-Soz-u-Kult erschienen Rezensionen gelobte
Software der Digitalen Bibliothek mit ihren ausgefeilten Suchfunktionen
bewaehrt sich auch fuer diesen Band.[8] Systemvoraussetzungen sind PC ab
486; 8 MB RAM (16 MB empfohlen), Grafikkarte ab 640 x 480, 256 Farben, MS
Windows 3.11, 95, 98 oder NT; es sei auch darauf hingewiesen, dass es
inzwischen moeglich ist, direkt von der Website des Verlages
(http://www.digitale-bibliothek.de) ein 20-seitiges Handbuch in pdf-Format
herunterzuladen. Die Lektuere der Texte koennte eventuell noch weiter
vereinfacht werden, wenn Fussnoten - aehnlich wie die Abbildungen, fuer
die eine Schnellvorschau als Thumbnail vorgesehen ist, und wie inzwischen
in neueren Wordversionen (Word 7) ueblich - unmittelbar durch den
Mauszeiger eingeblendet werden koennten. Auch haetten Einteilungen in
Unterkapitel, wie sie in den gedruckten Ausgaben vorgegeben waren, fuer
die Orientierung und Strukturierung der Recherchen benuetzt werden
koennen.
Abschliessend laesst sich festhalten, dass dieser Band der Digitalen
Bibliothek, einer Reihe, die auch in ihrer graphischen Gestaltung immer
noch auf das gedruckte Buch verweist, zu einer erneuten Auseinandersetzung
mit der Tradition des gedruckten Buches und ihrer Geschichtsschreibung und
zu einer Reflexion ueber den Gebrauch neuer Medien herausfordert. Die
grosse Ueberblicksdarstellung wird im Medium der CD-ROM in ihre
Bestandteile aufgeloest. Das Mass der aktiven Beteiligung des Lesers und
der Leserin steigt erheblich.
Dennoch, so praktisch diese Ausgabe als Hand-"buch" und Fundgrube auch
sein mag, wenn es darum geht, einzelne stichwortartig abfragbare Details
nachzusehen und herauszukopieren, selbst kreativ eigene Themengruppen
zusammenzustellen oder Abbildungen weiterzuverwenden - laengere
Textpassagen wird der/die Buchhistoriker/in doch lieber in einer
gedruckten Ausgabe lesen wollen.
Anmerkungen:
[1] Kapp, F., Geschichte des deutschen Buchhandels, 1. Bd. (Bis ins 17.
Jh.). Digitale Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S.
766.
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Date: Thu, 22 Jun 2000 22:24:07 +0200
From: "Xenia von Tippelskirch"
Lehmstedt, Mark (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchwesens, Reihe:
Digitale Bibliothek, Band 26, Berlin: DirectmediaPublishing GmbH 2000,
Umfang: 1 CD-Rom, ISBN: 3-932544-40-4, Preis: DM 149,90 (sfr. 139,00, OeS
1050).
Xenia v. Tippelskirch, Europaeisches Hochschulinstitut, Florenz (Italien)
Email:
[2] Eine ausfuehrliche, aktuelle Bibliographie zur Geschichte des
Buchhandels, zur Buchwissenschaft und zur Geschichte des Lesens findet
sich im Internet unter dem Stichwort "Materialien" der Website des
Instituts fuer Buchwissenschaft, Universitaet Erlangen
http://www.phil.uni-erlangen.de/~p1bbk/index.html. Es handelt sich
hierbei um Literaturlisten zu Veranstaltungen von U. Rautenberg.
[3] Vgl. Bilderatlas zum Buchwesen (Lexikon des Buchwesens hg. v. J. Kircher, Bd.
3-4), Stuttgart, Hiersemann, 1955/56. Das in zweiter Auflage voellig neu
bearbeitete Lexikon des gesamten Buchwesens LGB (hg. v. S. Corsten/ F.
Georgi), Stuttgart, Hiersemann 1985ff. stellt wohl am ehesten den
Pruefstein der neuen CD-ROM dar.
[4] Lehmstedt, M., Einleitung, Digitale
Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S. 3.
[5] Wittmann, R., Die Entstehung des modernen Publikums - die
»Leserevolution«, Geschichte des deutschen Buchhandels. Digitale
Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S. 8068-8126 (vgl.
Wittmann-Gesch., S. 186-217) (c) C. H. Beck 1991. Die ersten Ansaetze
dieser Forschungsrichtung lassen sich bei Goldfriedrich im 3. Band
ausmachen. Vgl. Goldfriedrich, J., Geschichte des Deutschen Buchhandels,
3. Bd. (1740-1804). Digitale Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen
Buchwesens, S. 3188ff.
[6] So noch im VLB:
[7] Allein in den Abbildungen lassen sich immerhin mit Hilfe der
Stichwortsuche 16 Frauen (sechs Gattinnen, vier Buchhaendlerinnen, vier
Leserinnen, eine Verlegerin, eine Inhaberin eines bibliographischen
Instituts) finden.
[8] Vgl. die Rezensionen von Fotis Jannidis
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