Date sent: Sat, 1 Jul 2000 15:48:20 +0200
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From: Ruediger Hohls
Subject: Rez. CD-ROM: Tippelskirch ueber "Lehmstedt: Geschichte des ..."
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Subject: Rez. CD-ROM: Tippelskirch ueber "Lehmstedt: Geschichte des..."
Date: Thu, 22 Jun 2000 22:24:07 +0200
From: "Xenia von Tippelskirch"

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Rezension der CD-ROM:
Lehmstedt, Mark (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchwesens, Reihe: Digitale Bibliothek, Band 26, Berlin: DirectmediaPublishing GmbH 2000, Umfang: 1 CD-Rom, ISBN: 3-932544-40-4, Preis: DM 149,90 (sfr. 139,00, OeS 1050).

Fuer H-Soz-u-Kult rezensiert von:
Xenia v. Tippelskirch, Europaeisches Hochschulinstitut, Florenz (Italien)
Email:

Aus Anlas des 600. Geburtstages von Johannes Gutenberg und des 175-jaehrigen Jubilaeums des Boersenvereins des Deutschen Buchhandels ist bei DirectmediaPublishing GmbH in der Reihe der Digitalen Bibliothek eine CD-Rom zur "Geschichte des deutschen Buchwesens" erschienen. Der Herausgeber, Mark Lehmstedt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, in dem Medienverlag, der mit dem Spruch "CD-ROMs fuer Menschen, die Buecher lesen" wirbt, nun auch die Geschichte der Welt des Buches digital zugaenglich zu machen. Nachdem sich das Verlagskonzept, bedeutende belletristische und lexikalische Werke zu Studienzwecken neu verfuegbar zu machen, - vor allem mit der "Basisbibliothek Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka" (Bd. 1) - als erfolgreich erwiesen hat, versucht der Buchhistoriker, dieses Prinzip auch fuer die inzwischen vielfach erforschte Geschichte des Buches anzuwenden, indem er "Klassiker" der Buchhandelsgeschichte als Textgrundlage waehlt.

Die monumentale Monographie von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich, "Geschichte des Deutschen Buchhandels" (4 Baende, 1886-1913), und "Der deutsche Buchhandel und die geistigen Stroemungen der letzten hundert Jahre" (1925) von Friedrich Schulze werden durch die neuere Untersuchung von Reinhard Wittmann, "Geschichte des deutschen Buchhandels" (1999), ergaenzt. Hinzu kommt ein von Rudolf Schmidt Anfang dieses Jahrhunderts erstelltes Lexikon: "Deutsche Buchhaendler, deutsche Buchdrucker. Beitraege zur einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes" (6 Baende, 1902-1908). Abgesehen von seiner eigenen Einleitung rekurriert Lehmstedt also auf Texte, die bereits in gedruckter Form vorliegen und die nun mit Hilfe der Software nach Stichworten durchsucht, markiert, kopiert und exportiert werden koennen. Eine vom Herausgeber eigens fuer die CD-ROM zusammengestellte Reihe von Abbildungen vervollstaendigt den insgesamt 8.901 Bildschirmseiten (4.334 gedruckte Textseiten) umfassenden Ueberblick.

Die Buchproduktion im deutschsprachigen Raum seit den Anfaengen des Buchdruckes wird von Kapp und Goldfriedrich positivistisch-detailliert dargestellt, wenn auch der Stil heutigen Lesern zuweilen etwas blumig erscheinen mag und der Anmerkungsapparat, den wissenschaftlichen Anspruechen zur Zeit des Erscheinens dieser vier Baende entsprechend, recht knapp gehalten ist. Es ist ein Werk, das inzwischen, wie der Herausgeber selbst zugibt, zum Teil durch die neuere Forschung ueberholt ist, bisher jedoch durch keine aehnlich umfassende Ueberblicksdarstellung ersetzt wurde. Im Gegensatz zu dem Beitrag von Wittmann findet hier auch der europaeische Kontext Beachtung. So heisst es zum Beispiel zu Beginn des sechsten Kapitels des ersten Bandes: "Die Morgenroete eines neuen Tages brach an, als Italien, die alte Lehrerin Europas, durch Wiederbelebung der klassischen Studien eine untergegangene schoene Welt aus dem Schutt ausgrub und die strebsamen Geister zu edlern und idealern Anschauungen emporhob. Die Menschheit fing eben wieder an, sich auf sich selbst zu besinnen und dem Gaengelband des Priestertums zu entwachsen."[1]

Das Werk von Schulze, welches den Buchhaendler des 19. Jahrhunderts "bei der Arbeit und in seinen geistigen Zusammenhaengen zeigt", wurde noch 1990 nachgedruckt und wird wohl erst von der juengst vom Boersenverein in Auftrag gegebenen Gesamtdarstellung des Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert ersetzt werden.

Wittmann ist als Fachmann der Materie bekannt, seine bis 1990 reichende "Geschichte des deutschen Buchhandels" ist inzwischen bereits in zweiter Auflage erschienen und wurde in der Kritik als "neues Standardwerk" gepriesen. Wittmann nimmt - ohne sich dabei in Details zu verlieren - neuere Forschungsprobleme in den Blick; mancher Sachverhalt wird den neuesten Erkenntnissen entsprechend richtiggestellt. Zusaetzlich fuegt der Autor seiner Darstellung der Entwicklung des Buchwesens seit der Erfindung des Buchdruckes eine Bibliographie[2] hinzu sowie eine uebersichtliche Zeittafel. Schmidts Lexikon liefert schliesslich eine betraechtliche Anzahl biographischer und firmengeschichtlicher Details zu den zwischen 1450 und 1900 taetigen deutschen Buchhaendlern und -druckern.

Man kann dem Herausgeber nur dankbar sein fuer die Fuelle an Abbildungen, die auf dieser CD-ROM zum ersten Mal verfuegbar gemacht wird und die mit Hilfe der Software vergroessert und verkleinert sowie leicht in andere Anwendungen kopiert und weiterverarbeitet werden kann (ab Windows 95 ist die Moeglichkeit der Bildbearbeitung in das Software-Programm integriert) - damit wird der in den 50er Jahren von Joachim Kircher herausgegebene "Bilderatlas zum Buchwesen" weit uebertroffen.[3] Es handelt sich um ein Bildarchiv, das von unterschiedlichen Verlagsarchiven, dem Boersenverein des Deutschen Buchhandels und vom Deutschen Buch- und Schriftmuseum Leipzig zur Verfuegung gestelltes Material enthaelt (z.B. Fotos von Verlegern, Gemaelde, Karikaturen und Drucke, Abbildungen von Buchbindungen und Titelblaettern) und welches - chronologisch geordnet - eine eigene Geschichte des Buchwesens erzaehlt. Diese Abbildungen sind nicht als unmittelbare Illustration der Texte gedacht, und doch besteht manche Querverbindung, die moeglicherweise auch durch "links" explizit haette gemacht werden koennen. Lehmstedt gibt dem Benutzer ausser der chronologischen Reihenfolge keine Interpretationshilfe, sondern stellt ihm frei, sich selbst einen Weg durch das reichhaltige und sehr unterschiedliche Material zu bahnen. Dank der Recherchefunktion auf dem Registerblatt "Abbildungen", die auf die - dafuer manchmal etwas zu knapp geratenen - Bildunterschriften zurueckgreift, ist es moeglich, Bildergruppen zusammenzustellen.

Die Auseinandersetzung mit der digitalen Ausgabe der Standardwerke erweist sich besonders unter wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten als sehr interessant, ermoeglicht doch der Vergleich der Abhandlungen, die dieser CD-ROM als Textgrundlage dienen, einen Blick auf die historische Entwicklung der wissenschaftlichen Beschaeftigung mit der Geschichte des Buchwesens. Waehrend etwa Lehmstedt ganz selbstverstaendlich in der Einleitung betont, "die «petite (sic!) monde du livre» sei vor allem von Lesern beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters bevoelkert"[4], sucht man in den Werken von Kapp, Goldfriedrich und Schulze noch vergeblich nach einer eingehenderen Beschaeftigung mit der Rezeption der ausfuehrlich behandelten Buchproduktion, wohingegen Wittmann der neueren Forschungslage in bezug auf das Lesepublikum des 18. Jahrhunderts ein Kapitel widmet.[5] Markt, Konsum und schliesslich auch die Lesepraktiken selbst treten erst seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses: diese Entwicklung laesst sich leicht auch an den Werken dieser CD-Rom ablesen.

Gleichwohl waere denkbar gewesen, eine zusammenhaengende (ueber Wittmann hinausgehende) Abhandlung zur Frage der Rezeption oder auch zur Geschichte des Bibliothekswesen, der Bibliophilie, der Drucktechnik oder gar der Papierherstellung in eine digitale "Geschichte des Buchwesens" aufzunehmen. Ob es wohl lediglich Lizenzbeschraenkungen oder verkaufstechnische Gruende waren, die gegen den urspruenglich angekuendigten, treffenderen Titel "Geschichte des deutschen Buchhandels"[6] sprachen?

Man kann allerdings den "Leser" auch ueber die gut funktionierende Volltextsuche der Software aufspueren (insgesamt 148 Fundstellen - wohingegen "Leserin" ein einziges Mal im Text und immerhin viermal im Bild auftaucht, haeufiger kommt "Publikum" vor. Dass Frauen - als Produzentinnen, Haendlerinnen und Leserinnen - in der "Geschichte des Buchwesens" nur selten vorkommen, spiegelt, wie Einzelstudien inzwischen gezeigt haben, eher die Perspektive der ausgewaehlten Geschichtsschreibung (und die zugegeben schlechte Quellenlage) wider als die historische Realitaet: diese Tatsache waere wenigstens eine Erwaehnung wert gewesen.[7]

Die bereits in mehreren in H-Soz-u-Kult erschienen Rezensionen gelobte Software der Digitalen Bibliothek mit ihren ausgefeilten Suchfunktionen bewaehrt sich auch fuer diesen Band.[8] Systemvoraussetzungen sind PC ab 486; 8 MB RAM (16 MB empfohlen), Grafikkarte ab 640 x 480, 256 Farben, MS Windows 3.11, 95, 98 oder NT; es sei auch darauf hingewiesen, dass es inzwischen moeglich ist, direkt von der Website des Verlages (http://www.digitale-bibliothek.de) ein 20-seitiges Handbuch in pdf-Format herunterzuladen. Die Lektuere der Texte koennte eventuell noch weiter vereinfacht werden, wenn Fussnoten - aehnlich wie die Abbildungen, fuer die eine Schnellvorschau als Thumbnail vorgesehen ist, und wie inzwischen in neueren Wordversionen (Word 7) ueblich - unmittelbar durch den Mauszeiger eingeblendet werden koennten. Auch haetten Einteilungen in Unterkapitel, wie sie in den gedruckten Ausgaben vorgegeben waren, fuer die Orientierung und Strukturierung der Recherchen benuetzt werden koennen.

Abschliessend laesst sich festhalten, dass dieser Band der Digitalen Bibliothek, einer Reihe, die auch in ihrer graphischen Gestaltung immer noch auf das gedruckte Buch verweist, zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Tradition des gedruckten Buches und ihrer Geschichtsschreibung und zu einer Reflexion ueber den Gebrauch neuer Medien herausfordert. Die grosse Ueberblicksdarstellung wird im Medium der CD-ROM in ihre Bestandteile aufgeloest. Das Mass der aktiven Beteiligung des Lesers und der Leserin steigt erheblich.

Dennoch, so praktisch diese Ausgabe als Hand-"buch" und Fundgrube auch sein mag, wenn es darum geht, einzelne stichwortartig abfragbare Details nachzusehen und herauszukopieren, selbst kreativ eigene Themengruppen zusammenzustellen oder Abbildungen weiterzuverwenden - laengere Textpassagen wird der/die Buchhistoriker/in doch lieber in einer gedruckten Ausgabe lesen wollen.


Anmerkungen:

[1] Kapp, F., Geschichte des deutschen Buchhandels, 1. Bd. (Bis ins 17. Jh.). Digitale Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S. 766.
[2] Eine ausfuehrliche, aktuelle Bibliographie zur Geschichte des Buchhandels, zur Buchwissenschaft und zur Geschichte des Lesens findet sich im Internet unter dem Stichwort "Materialien" der Website des Instituts fuer Buchwissenschaft, Universitaet Erlangen http://www.phil.uni-erlangen.de/~p1bbk/index.html. Es handelt sich hierbei um Literaturlisten zu Veranstaltungen von U. Rautenberg.
[3] Vgl. Bilderatlas zum Buchwesen (Lexikon des Buchwesens hg. v. J. Kircher, Bd. 3-4), Stuttgart, Hiersemann, 1955/56. Das in zweiter Auflage voellig neu bearbeitete Lexikon des gesamten Buchwesens LGB (hg. v. S. Corsten/ F. Georgi), Stuttgart, Hiersemann 1985ff. stellt wohl am ehesten den Pruefstein der neuen CD-ROM dar.
[4] Lehmstedt, M., Einleitung, Digitale Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S. 3.
[5] Wittmann, R., Die Entstehung des modernen Publikums - die »Leserevolution«, Geschichte des deutschen Buchhandels. Digitale Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S. 8068-8126 (vgl. Wittmann-Gesch., S. 186-217) (c) C. H. Beck 1991. Die ersten Ansaetze dieser Forschungsrichtung lassen sich bei Goldfriedrich im 3. Band ausmachen. Vgl. Goldfriedrich, J., Geschichte des Deutschen Buchhandels, 3. Bd. (1740-1804). Digitale Bibliothek Bd. 26: Geschichte des deutschen Buchwesens, S. 3188ff.
[6] So noch im VLB:
[7] Allein in den Abbildungen lassen sich immerhin mit Hilfe der Stichwortsuche 16 Frauen (sechs Gattinnen, vier Buchhaendlerinnen, vier Leserinnen, eine Verlegerin, eine Inhaberin eines bibliographischen Instituts) finden.
[8] Vgl. die Rezensionen von Fotis Jannidis und Bjoern Hoffmann .

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