Vorwort

Die Informatik ist schon dabei,
Materie und Erinnerung' so zu verändern,
dass aus dem klassischen Zeitalter des Wortes,
der Schrift, des Lesens ein Vorspiel für
die neue Welt des Unmittelbaren wird.
(George Steiner 2000)

Die Neuen Medien beeinflussen nicht nur unseren Alltag, sondern auch die Kultur als Ganzes immer mehr. Allerorten ist vom 'medialen Zeitalter' und der 'modernen Informationsgesellschaft' die Rede. Sie ermöglichen auch in dem Bereich der Geisteswissenschaften innovative Präsentationsmöglichkeiten und methodische Neuansätze. Diese Möglichkeiten für eine 'integrale Kunstbetrachtung' zu nutzen, ist das Ziel des vorliegenden Projekts.

Thematischer Mittelpunkt ist dabei der von Jerg Ratgeb geschaffene Herrenberger Altar mit seinen vielfältigen Bezügen zur Kunst- und Kulturgeschichte der damaligen Zeit. Das multimediale Projekt ist in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Studierenden der Fachrichtungen Architektur, Geschichte, Kunstgeschichte und Informatik entwickelt worden. Wertvolle Anregungen und Beiträge brachte die gemeinsam mit der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1997 veranstaltete Tagung 'Der Herrenberger Altar'. Die vorliegenden CD-ROMs wurden schliesslich im Rahmen eines Projektseminars des Historischen Instituts der Universität Stuttgart und der Stiftung Artentity realisiert.

Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema stehen die Nutzungsmöglichkeiten multimedialer Anwendungen für die Geisteswissenschaften im Vordergrund: die strukturellen Möglichkeiten von Hypertext, die Rekonstruktion komplexer Raumstrukturen, die Visualisierung dynamischer Prozesse sowie der Einsatz von Audio- und Videosequenzen.

Das ganze Projekt kann trotz bescheidenster finanzieller Mittel nun in Form von CD-ROMs der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt werden; dafür danken wir zahlreichen Beteiligten: den Wissenschaftlern für ihre Beiträge, den Archiven, Bibliotheken und Museen für die grosszügige Hilfe, den Sponsoren für die finanzielle Unterstützung und nicht zuletzt dem Konrad Theiss-Verlag für die fruchtbare Zusammenarbeit. Ein besonderer Dank gilt allen Seminarteilnehmern, die innovativ und mit ausserordentlichem Engagement zum Gelingen des Projekts beigetragen haben. Den Benutzern wünschen wir interessante Eindrücke bei der Begegnung mit Jerg Ratgeb und seiner Zeit.

Konrad Burgbacher, Gerhard Faix, Ingrid Krupka


Gesamtkunstwerk Chorraum

Denkmal einer Zeitenwenden

Das architektonische 'Gesamtkunstwerk Chorraum' gibt es nicht mehr. Die Glasfenster wurden im Bildersturm zerstört, das Chorgestühl abgebaut und nach der Reformation falsch wieder aufgebaut. Der Altar war ausgelagert, seine Bildtafeln wurden ohne Schrein wieder aufgestellt und später nach Stuttgart verkauft. Einst bildete er zusammen mit dem Chorgestühl und den Glasfenstern einen inspirierenden Raum, das Kunst-Gewordene Officium Dei der Brüder vom Gemeinsamen Leben.

Die technische Innovation hat die Kunst in Raum und Zeit, wie sie der christliche Ritus pflegte, in ein neues Licht gerückt. Der Chorraum steht als Modell für ein integrales Kunstwerk (vgl. die ästhetischen Konzepte junger Kunst heute, die verstärkt den Kontext Kunst in den Blick rücken). Dem Bedeutungszuwachs der gesamträumlichen Situation entspricht eine Relativierung der einzelnen Bildwerke. Altar und Gestühl standen in geistig theologischen Wechselbeziehungen zueinander und zum Ganzen der Rauminstallation. Wenn man sie heute getrennt voneinander als autonome Werke vorführt, werden folglich nur einzelne Aspekte beleuchtet. Übersehen wird das ästhetische Konzept, das die architektonische Gestalt des Umraumes einbezieht und - besonders bemerkenswert für die Ratgebbilder - sich an der konkreten Handlungssituation im Raum orientiert, ja sogar das Verhalten der Rezipienten und ihre Wahrnehmung (Betrachterposition) ausspielt.

Als Wandelaltar mit drei Schauseiten fungierte der Altar als 'christlicher Kalender'. Je nach Kirchenjahreszeit oder besonderem Kirchenfest wurde er gewandelt. Aus konservatorischen Gründen können die Wandlungen nicht mehr gezeigt werden.

Die Neuen Medien bieten heute die Möglichkeit, Kunstwerke an ihrem historischen Ort und in ihrem geistes- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang wahrzunehmen. Die Simulation des Chorraums verdeutlicht das Gesamtkunstwerk. Sie lässt die Intimität einer Raumgestaltung anklingen, die Halt und Geborgenheit bot, in der eine höhere Macht spürbar war. Sie zeigt den Rahmen für die Bilder des 'introvertierten Expressionisten' Ratgeb, dessen erdenschwere Malerei im Licht dieses Raumes Leichtigkeit gewann.

Ingrid Krupka, Konrad Burgbacher


Der Herrenberger Altar von Jerg Ratgeb

Der Maler Jerg Ratgeb, Aussenseiter in der von der Renaissance geprägten Kunstlandschaft, und seine Bilder, über Jahrhunderte verdrängt, vergessen, geschmäht, unpassend für manchen Zeitgeschmack, erlebten mit Beginn der Moderne ihre Auferstehung, als sie in der expressiven Bewegtheit des frühen 20. Jahrhunderts zeitgeistiges Interesse fanden. In der früheren DDR kannte fast jedes Kind den Namen des Malers, der der sogenannten frühbürgerlichen Revolution zum Opfer fiel. Der Guide Michelin rühmt die Altartafeln in der Staatsgalerie Stuttgart als bedeutendes Kunstwerk im Land Baden-Württemberg.

Fünf Themenkreise wurden im einzelnen entwickelt: BILDBETRACHTUNG, DATEN, UM-BILD-RAUM, GEDANKENRAUM und BILDANALYSE, ergänzt durch die BEDEUTUNGSEBENEN, die die Brücke von der autonomen Bildbetrachtung im Museumskontext zu der Bedeutung der Bildtafeln als Teile eines Wandelaltars im Kirchenraum schlagen.

Für die BILDBETRACHTUNG wurde eine sehr grosse Auflösung gewählt. Einzelheiten sind beobachtbar, die selbst vor dem Original in seiner aktuellen Aufstellung kaum wahrzunehmen sind. Unter dem Sammelbegriff DATEN sind Werkangaben, Biographie und Hinweise zur Literatur zusammengefasst. Im UM-BILD-RAUM wird der Altar anderen Bildwerken mit regionaler, überregionaler und zeitlicher Referenz unter motivischen, ikonographischen oder kompositorischen Aspekten gegenübergestellt. Er zeigt wie ein mittelalterliches Kunstwerk von anderen Kunstwerken seiner Zeit geprägt und in ein Netzwerk bildlicher Ausdrucksmöglichkeiten eingebunden ist. Im GEDANKENRAUM ist ein kurzer Einblick in die geistigen und künstlerischen Ausprägungen der Umbruchszeit vom Spätmittelalter zur Neuzeit dargelegt. Das Spannungsfeld alter und neuer Einflüsse ist nicht nur im Text thematisiert, sondern vor allem visuell umgesetzt. Kunsthistorische Inhalte werden bildlich vermittelt und eigene Assoziation der Benutzer bewusst gefordert.

Für die BILDANALYSE bieten die neuen Medien besondere Möglichkeiten, eigenwillige Gestaltungsmittel wie Lichtführung, Raumstrukturen und Betrachterpositionen aufzudecken. Die Architekturrahmungen der einzelnen Tafeln lösen sich auf - beginnend bei den Marientafeln und endend bei der Auferstehungstafel der Passion. Die Bildräume öffnen sich dem Betrachter mehr und mehr bis zu seiner virtuellen Integration in den Bildraum. Das Licht, das in den Marientafeln noch in verschachtelte, tiefe Bildräume führt, ändert seine Ausrichtung bei den Passionstafeln und strahlt in der letzten Tafel dem Betrachter entgegen. Perspektivische Verzerrungen und Unmöglichkeiten erzeugen eine Dynamik, die den Betrachter mal aus dem Bild ausschliessen und mal in den Bildraum ziehen. Ratgeb gelingt es durch gestalterische Mittel, den Betrachter zum Zeugen des Heils-/Zeitgeschehens zu machen. Die Darstellung wird zu einem imaginären Spiegel, der den Betrachter suggestiv in das Geschehen einblendet.

Der Themenkreis BEDEUTUNG versucht, zwischen dem Wissen des Spätmittelalters und unserem heutigen Wissen zu vermitteln. Wichtige Hilfsmittel sind dabei die Ikonographie und Textkunde, die ein solch komplexes Bildwerk des Spätmittelalters für uns erst wieder lesbar machen. Die Bedeutung ist in Ebenen strukturiert:

· Bilderzählung (Szenen der biblischen Geschichte)
· Wort und Bild (Zusammenhang zwischen den neutestamentlichen Bildszenen und den alttestamentlichen Rahmentexten)
· Sinnbilder (Komposition, Architektur, Zeichen, Symbole)
· Bild und Zeit (Zeitgeschichtliches in den Bildern)

Die einzelnen Kapitel sind keine abgeschlossenen Einheiten, sondern Türen und Fenster in die anderen Teilprojekte. Nach rund 500 Jahren wird der Herrenberger Altar in seinem ursprünglichen Sinnzusammenhang dargestellt und über das Medium der CD-ROM in einer neuen Sicht interaktiv präsentiert.

Sylvia Schedel, Renate Wagner, Mitarbeit: Anette Herrmann

Das Chorgestühl der Stiftskirche zu Herrenberg

Der Chorraum der Herrenberger Stiftskirche bildet einen durchkomponierten Gesamtentwurf aus Chorgestühl und Altar.

Laut Meistersignatur wurde das Chorgestühl am 22. Juni 1517 durch Meister Heinrich Schickhardt vollendet. Auftraggeber waren die damals hier ansässigen Brüder vom Gemeinsamen Leben, die damit nicht nur ein ansehnliches Kunstwerk, sondern vor allem den Mittelpunkt ihrer Liturgie schufen. Jerg Ratgebs Hochaltar bildete seit 1519 eine Einheit mit dem Chorgestühl. Auch heute noch wäre er theologisch und künstlerisch die notwendige Ergänzung zum Gestühl.

Schwerpunkte der Darstellung bilden die Geschichte des Chorgestühls zusammen mit seinem ursprünglichen Aufbau, weiterhin die komplette Ikonographie der Bildtafeln, sowie die kunsthistorischen Vorbilder und insbesondere der theologische Sinnzusammenhang zwischen Gestühl und Altar. Ein erster Überblick zur Sekundärliteratur ist beigefügt.

Die einzelnen Stationen in der Geschichte des Chorgestühls - Vollendung im Jahre 1517, Auslagerung während des Bildersturms in den Jahren 1537/1538, Wiederaufbau im Interim 1548 - werden anhand der originalen Quellen eindrucksvoll nachvollziehbar. Der Wiederaufbau des Chorgestühls lässt vermuten, dass die ursprüngliche Konzeption nach liturgischen Belangen und formalkompositorischen Aspekten verloren ist. Die in den letzten Jahren von Roman Janssen erarbeitete These einer Rekonstruktion des Originalzustands ist Grundlage der Betrachtung.

Die ursprüngliche Anordnung der Tafeln wird aufgrund zahlreicher Erläuterungen und Illustrationen anschaulich erlebbar. Das reich ausgestaltete Chorgestühl enthält Schnitzwerke in Dorsale, Pulten und Wangen sowie Pultbüsten und Handknäufe. Der Apostel-Prophetenzyklus im Dorsale wird bestimmt durch das Apostolische Glaubensbekenntnis, das durch die sich auf das Credo beziehenden prophetischen Worte erweitert ist. In der ikonographischen Analyse werden Inschriften, Attribute und Lebensbeschreibungen zu den dargestellten Persönlichkeiten gesondert untersucht.

Anregungen für die Gestaltung des Gestühls holte man sich aus näherer und weiterer Umgebung. So fanden die Stifter und Künstler ihre Ideen in schriftlichen Überlieferungen wie auch in mittelalterlichen Musterbüchern. Das Herrenberger Chorgestühl symbolisiert die Idee des gemeinsamen Lebens (vita communis). Texte und Bildwerke auf beiden Seiten, der Evangelien- und der Epistelseite, stehen unter dem Grundgedanken der einen Kirche (ecclesia) und bilden einen ganz bestimmten theologischen Sinnzusammenhang, der sich mithilfe spätmittelalterlicher Theologie erschliessen lässt. Die Beziehungen im Chorraum entwickeln sich zwischen den Bildtafeln des Hochaltars und dem Gestühl einerseits, aber auch dialogisch zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Bankreihen des Chorgestühls andererseits. Das Glaubensbekenntnis als Leitmotiv des Gestühls ist mit den drei Hauptthemen des Altars entsprechend den drei Wandlungen im Kirchenjahr raumgreifend verspannt.

Dem heutigen, interessierten Betrachter offenbart sich hier die Sinngebung in der Komposition einer Gesamtikonographie auf eindrückliche Art und Weise.

Martin Renner, Birgit Hochenleitner

Die Brüder vom Gemeinsamen Leben

Hatte zu Beginn des menschlichen Daseins der Erstgeschaffene etwa Privatbesitz? Das Paradies der Genüsse und die Herrschaft über die Tiere waren ihm vielmehr zum gemeinschaftlichen Nutzen zugewiesen. – Heute regiert das Geld, dem alles gehorcht. Es regiert die Habgier, die Jagd nach Pfründen und der verfluchte Besitz, der alles Übel gebracht hat. (Gabriel Biel)

Mit diesen Worten beklagte Gabriel Biel, berühmtester Vertreter der Brüder vom Gemeinsamen Leben in Württemberg, die kirchlichen Missstände seiner Zeit. Diese zu beseitigen, waren er und seine Mitbrüder von dem württembergischen Landesherrn, Eberhard im Bart, an die bedeutendsten Stiftskirchen berufen worden. Die Fraterherren sollten in der Seelsorge vor allem durch qualitätsvolle Predigten wirken. Nach innen richtete die Reformgemeinschaft ihr Augenmerk auf ein 'vollkommenes gemeinsames Leben': an einem Tisch, bei gemeinschaftlicher Arbeit und in Gütergemeinschaft. Damit folgten die Brüder dem Vorbild der apostolischen Urgemeinde, denn die beste Lebensform sei diejenige, die Christus mit seinen Schülern vorgelebt habe. Sie selbst sahen darin einen Mittelweg, eine Alternative zwischen strengem Ordensleben und dem Stand der Weltpriester.

Diese Prinzipien suchten die Fraterherren seit 1481 auch in Herrenberg umzusetzen. Ein sichtbares, äusseres Zeugnis dieser Reformbestrebungen ist bis heute die Herrenberger Stiftskirche. Die Brüder haben als Bauherren und Auftraggeber enorme Anstrengungen unternommen und sorgten für die Fertigstellung und künstlerische Ausstattung des Kirchenbaus. Den Höhepunkt bildete der Chorraum, der ganz nach der Konzeption des Propstes Johannes Rebmann gestaltet wurde. Das von Heinrich Schickhardt d. Ä. vollendete Chorgestühl und der von Jerg Ratgeb geschaffene Hochaltar bildeten zusammen eine Einheit und verkörperten den liturgischen Mittelpunkt der Herrenberger Brüder.

Bevor jedoch Jerg Ratgeb den Altar vollendet hatte, wurde die Gemeinschaft der Fraterherren aufgehoben. Dennoch spiegeln die Altartafeln nicht nur das künstlerische Schaffen des Malers, sondern auch die theologische Intention der Brüder. Deshalb wird in diesem Projekt auch nach der Lebensform der Auftraggeber gefragt.

Gerhard Faix

Von der Baugeschichte der Stiftskirche zu Herrenberg

Die Baugeschichte der Herrenberger Stiftskirche hat die Phantasie der Laien wie die professionellen Bemühungen von Architekten, Kunsthistorikern und Historikern seit geraumer Zeit angeregt. Ein Hauptproblem dabei bildet - wie bei vielen mittelalterlichen Bauten - die schriftliche Überlieferung. Nur wenige Urkunden vermitteln uns heute noch eine Vorstellung vom Entstehen eines Bauwerks wie der Herrenberger Stiftskirche. In erster Linie handelt es sich dabei um Dokumente, die über den kirchenrechtlichen Status oder die Frage der Finanzierung Auskunft geben. Um ein homogenes Bild der Baugeschichte entwerfen zu können, bedarf es weiterer Informationen, archäologischer Befunde und des Vergleichs mit den Untersuchungsergebnissen anderer Bauwerke. Die Neuen Medien geben dem Bauhistoriker die Möglichkeit, den wahrscheinlichsten Verlauf der Geschichte zu präsentieren und auf einer weiteren Ebene die Vielschichtigkeit der Interpretationsmöglichkeiten darzustellen.

Graphische Animationen zeigen die einzelnen Phasen der BAUGESCHICHTE sowie die zugehörigen schriftlichen Quellen. Über einen ZEITSTRAHL erfährt man die Entwicklung von Stadt-, Kirchen- und Baugeschichte im chronologischen Zusammenhang. Die umfassende IKONOGRAPHIE DER SCHLUSSTEINE ermöglicht die Ortung der Altäre und erschliesst die komplexe Symbolik mit Ornament und Zahl.

In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass die Neuen Medien zwar einerseits die Gefahr in sich bergen, Geschichte zu einer reinen Infotainment-Veranstaltung verkommen zu lassen, andererseits jedoch bietet gerade diese neue Form der Darstellung bei der Präsentation widersprüchlicher Thesen eine grössere Transparenz, in der die Genese der Überlegungen nachgezeichnet werden kann. Gleichzeitig wird so die Grenze zwischen gesicherter und ungesicherter Erkenntnis offenbar. Mit der Darstellung von Quellen im Original, wie in Transkription und Übersetzung, wird das methodische Vorgehen nachvollziehbar.

Die Zeichnung ist die internationale Sprache der Ingenieure. Die gesprochene Sprache ist für die Erklärung technischer Vorgänge zweitrangig. Die Neuen Medien bieten auch dem Technikhistoriker die Möglichkeit, sich auf breiter Basis der Abbildungen zu bedienen. In bisher unbekanntem Rahmen kann die graphische Darstellung als didaktisches Mittel verwandt werden.

Thomas Schuetz, Bjoern Schirmeier

Der Bauernkrieg von 1525

Zwischen 1524 und 1526 erschütterte der Bauernkrieg das Reich von Tirol bis Thüringen. Es handelte sich dabei nicht nur um einen 'Krieg' von 'Bauern', sondern vielmehr um den Versuch einer grundlegenden Umwälzung, eine erste Revolution im Reich. Der sogenannte Bauernkrieg hatte wirtschaftliche, soziale, politische und religiöse Ursachen, die in den einzelnen Regionen unterschiedlich gewichtet waren. Im Juni 1524 fand der erste Aufstand in der Hegauer Landschaft Stühlingen statt, und zwischen Weihnachten 1524/25 und Februar 1525 bildeten sich in Oberschwaben drei grosse Versammlungen von Aufständischen: der 'Baltringer'-, 'Allgäuer'- und der 'Bodenseehaufen'. All diese vielfältigen Ursachen und die Formen der Ausbreitung werden im Themenbereich URSACHEN UND REGIONALE AUSBREITUNG dargestellt.

DIE ZWÖLF ARTIKEL DER BAUERN

Die drei Haufen in Oberschwaben vereinigten sich im März 1525 zur 'Christlichen Vereinigung'. In Memmingen fassten sie Anfang März in den 'Zwölf Artikeln der Bauernschaft in Schwaben' ihre Beschwerden zusammen. Mit diesen versuchten sie, ihr Tun anhand des am Evangelium ausgerichteten sogenannten 'Göttlichen Rechts' zu begründen. Die Beschwerden wurzelten in der Situation und den Lebensverhältnissen der Bevölkerung zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Im wesentlichen sollte sich zum einen die Belastung der Bauern an ihrer Ertragsfähigkeit orientieren und zum anderen die Leibeigenschaft aufgehoben werden. Wichtig war den Bauern zudem die freie Wahl der Pfarrer. Sie sollten das heilig Evangelium lauter und klar predigen, ohne allen menschlichen Zusatz. Trotz der moderaten Formulierung der Artikel kann ihr revolutionärer Charakter kaum überschätzt werden. Heute gilt diese Schrift - seine Verfasser waren der Memminger Prediger Christoph Schappeler und der Kürschnergeselle Sebastian Lotzer - als eine frühe Darstellung von Grundrechten. Da diese Schrift besonders zur Ausbreitung des Bauernkriegs beitrug, ist ihr auch ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet. Deutlich werden auch die teilweise zurückweisenden Ansichten der Reformatoren Luther, Müntzer und Zwingli, die u. a. von den Bauern um Stellungnahme gebeten wurden. Alle Zwölf Artikel, begleitende Texte und wissenschaftliche Kommentare geben ein detailliertes Bild über die Hintergründe der bäuerlichen Beschwerden.

DER ZUG DER BAUERN DURCH WÜRTTEMBERG

Zum anderen sölle das heilig Evangelium und Wort Gottes schlechtlich verkünd und gepredigt, dem selben nachkommen und gelebt werden.

Diese Forderung wurde u. a. neben den 'Zwölf Artikeln’ am 16. April 1525 von etwa 200 Aufständischen der Amtsstadt Grossbottwar, die sich auf dem Wunnenstein sammelten, Begründung für ihr Tun. Von dort aus starteten sie einen 'Demonstrationszug' durch fast das gesamte Herzogtum Württemberg und versuchten die Ämter des Landes auf ihre Seite zu bekommen, was sie bis auf drei Ausnahmen schafften. Da die Habsburgische Interimsregierung bereits aus Stuttgart geflohen war, betrachteten sich die gewählten Hauptleute der Bauern, Matern Feuerbacher und Hans Wunderer, mitsamt ihren Räten bereits als eigentliche Regierung des Landes und vertraten auch sehr konkrete Vorstellungen von Landesherrschaft. Schliesslich standen am 12. Mai 1525 zwischen Böblingen und Sindelfingen etwa 15.000 bis 20.000 Bauern ca. 6.000 Landsknechten des Schwäbischen Bundes gegenüber. Die Schlacht endete in einem vollständigen Desaster der Bauern und markierte so den Endpunkt des Bauernkrieges in Württemberg. Es folgte ein blutiges Strafgericht des Bundes, dem auch Jerg Ratgeb zum Opfer fiel.

Der gesamte Zug streifte zahlreiche Städte und Dörfer Württembergs, von Lauffen im Norden bis Nürtingen im Süden, von Göppingen im Osten bis Herrenberg im Westen. Der Benutzer kann im Kapitel 'Zug der Bauern durch Württemberg' den gesamten Verlauf verfolgen.

Der Zug der Aufständischen durch das Herzogtum Württemberg wird noch in einem virtuellen Flug über einem Geländemodell - auf der Basis von aktuellen Daten des Landesvermessungsamts Baden-Württemberg - räumlich verdeutlicht. Das Modell wurde am Wilhelm-Schickard-Institut für Informatik, Graphisch-Interaktive Systeme, Universität Tübingen, entwickelt. Diese Darstellung ermöglicht es erstmals, einen Eindruck von der genauen Wegstrecke der Aufständischen zu bekommen.

DIE POLITISCHE SITUATION IN WÜRTTEMERG

ORIGINALHANDSCHRIFTEN UND QUELLEN

Nicht unbedeutend für die Geschehnisse waren die politischen Umstände in Württemberg, denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Der Verlauf des Zuges und die Handlungen der Aufständischen wurden u. a. über Originalhandschriften der umfangreichen Kanzlei der Bauern und über die Kieserschen Forstkarten, die das Ergebnis einer erstmals um 1600 systematisch in Württemberg durchgeführten Vermessung des Herzogtums darstellen, erarbeitet.

Der Benutzer hat die Möglichkeit, in einem dem reichen, teilweise erstmals edierten Quellenmaterial eigens gewidmeten Kapitel, die Handschriften und das Kartenmaterial im Originalzustand zu lesen und einzelne Passagen sogar zu vergrössern.

DIE ROLLE JERG RATGEBS IM BAUERNKRIEG

Auf der Basis umfangreicher Quellenrecherchen u. a. in Augsburg und Wien wird auch die Rolle Jerg Ratgebs als Kanzler der Bauern beschrieben. Seine Verurteilung und Hinrichtung in Pforzheim bildet eine zentrale Frage, die jedoch aufgrund des Verlustes der Gerichtsakten leider nicht abschliessend geklärt werden kann. Dennoch lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass er eine Art 'Bauernopfer' der Stadt Stuttgart war, die sich so von ihrer Verstrickung im Bauernkrieg reinwaschen konnte.

Wolfgang Dietz, Gertrud Kuhn, Nicole Bauer, Leif Scheuermann, Matthew Wood, Konrad Burgbacher

Konzept, Struktur und Neue Medien

Die Ausrichtung dieses Projekts liegt in der Nutzung der MULTIMEDIALEN FORM DES DISKURSES, der DIALOGISCHEN DIMENSION der Neuen Medien, um die in der Praxis und wissenschaftlichen Arbeit voneinander getrennten Blickwinkel zusammenzubringen. In POLYPHONER STRUKTUR sind die einzelnen Themenbereiche verknüpft, verschiedene Bedeutungsebenen zu einer integralen Betrachtung 'vernetzt', um die komplexen Zusammenhänge zu veranschaulichen. Die INTERAKTIVITÄT ist das Vehikel für eine erstaunliche Lern- und Erlebniswelt.

Hier liegt der kreative Ansatz einer multimedial orientierten wissenschaftlichen Arbeit an den Fakten. Das soll nicht heissen, dass damit die herausgebildeten linearen Denkprozesse aufgehoben sind, sie werden nur verstärkt von der Anschauung begleitet und assoziativ erweitert. Mit Hilfe der digitalen Medien wird entgegen einer arbeitsteiligen Rezeption, die sich entweder dem Hören, Sehen oder Lesen zuwendet, ein integrales Wahrnehmen ermöglicht.

Das Projekt bietet unterschiedliche EBENEN DER BETRACHTUNG. Das spielerische Abtasten des Bildschirms gibt einen ersten schnellen Überblick. Seinem weitergehenden Interesse mag der Benutzer beim tieferen Eintauchen in das Netzwerk der Daten- in vielen Stunden - nachgehen. Für die wissenschaftliche Arbeit stehen ein umfangreiches Quellenarchiv und Literaturverzeichnis zur Verfügung, direkt einsehbar an Ort und Stelle ihrer Notation. Hiermit bieten die digitalen Medien ganz neue Möglichkeiten für ein anschauliches Quellenstudium.

Viele haben an dem Multimedia-Projekt mitgewirkt, direkt und indirekt. Um die UNMITTELBARKEIT VON SPRACHE UND GESTALTUNG der Autoren zum Ausdruck zu bringen, wurde auf ein einheitliches Design verzichtet. Schwerpunktthemen sind in interdisziplinärer Gruppenarbeit eigenständig gestaltet, Gespräche, Interviews, Vorträge im situativ individuellen Sprachduktus belassen. So versammeln diese CD-ROMs kühle, sachliche Dokumentationen wie auch spielerisch zu ermittelnde Informationen für Bildschirmverwöhnte.

Die Thematik des Projekts entspringt einer Zeit, die als kommunikative Umbruchszeit der unseren heute nicht unähnlich ist. Damals leitete eine neue Wissenschaftsära sprunghaft sich wandelnde Produktions- und Kommunikationsstrukturen ein: Buchdruck, Flugblattkommunikation, Reformation, astronomische Erkenntnis, Welterkundung; heute beschleunigen Wissensgesellschaft und digitale Kommunikation Austausch und Auseinandersetzung. Was einst in Überwindung einer oralen Kultur zur Schreibkultur führte, markiert heute in Überwindung einer vorwiegend linear selbstgenügsamen Schriftkultur das optische Denken und eine offene Vernetzung vielfältiger Ausdrucksformen.

Ingrid Krupka, Konrad Burgbacher


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©: WWW (März 2001): http://www.artentity.de/ratgeb/presse/heft.htm
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